alt

Nachvollzug eines Lebenswegs

von Rudolf Mast

Hamburg, 28. Oktober 2011. Wenn die Bretter des Theaters die Welt bedeuten, ist die Welt dann eine Scheibe? Diese Frage stellt sich dem, der am Freitag zur Premiere von "Der Fremde" nach Albert Camus die kleine Spielstätte des Thalia Theaters in der Gaußstraße betritt und als Spielfläche eine Scheibe erblickt. Die Vorankündigung hatte leise Zweifel an dem Unterfangen geweckt, weil sie Camus' Roman als "Schlüsselwerk der Philosophie des Absurden" preist. Und auch wenn diese Einschätzung ein Werk der Prosa wohl etwas überfrachtet, bleibt die Erfahrung, dass die Welt ziemlich flach werden kann, wenn das Theater sie zu erklären versucht.

Hilfestellung bei dieser Einordnung des Romans mag Carl Hegemann gegeben haben, der beschlagene Dramaturg, der seit Beginn der Spielzeit am Thalia arbeitet und bei "Der Fremde" die erste Dramaturgie dort übernahm. Im Programmheft steht ein kurzer Text von ihm, der aus Camus' Roman, der 1942 erschienen ist und Anfang der 1930er Jahre in Algerien spielt, eine zeitlose Stoßrichtung exzerpiert, die nämlich, dass letztlich alle "zum Tod verurteilt sind" und es daher sinnvoll sein könnte, sich schon zu Lebzeiten mit dem Tod zu befassen.

derfremde3_280_fabian_hammerl_x
Verwandlung per Nylonstrumpf 
© Fabian Hammerl

Ein Schuss zerreißt die Stille

Die Inszenierung von Jette Steckel spielt auf einer mit orangefarbenem Sand bedeckten Drehscheibe, die an vier Seiten von Publikum umgeben ist (Bühne Florian Lösche). Der Abend beginnt, wenn vier dunkel gekleidete Spieler, drei Männer und eine Frau, die Bühne betreten und von einer Stimme, die sich Albert Camus nennt, als jene Gestalten vorgestellt werden, aus denen sich Meursault, die Hauptfigur des Romans, zusammensetzt. Dann zieht einer der Männer eine Pistole und legt auf den zweiten an. Ein Schuss zerreißt die Stille, ein Opfer ist vorerst nicht zu beklagen, weil der dritte Mann die Kugel auffängt und ihren Flug dadurch vorerst stoppt.

Bei Camus gilt dieser Schuss einem namenlosen Araber, dessen Tod sich exakt in der Mitte des Buches ereignet. Auf der Bühne aber muss sich der Tod noch etwas gedulden, weil mit dem Flug der Kugel auch der Zeitfluss unterbrochen ist. Der Gewinn, den die Inszenierung daraus zieht, ist die Möglichkeit, die Chronologie des Romans zu verlassen und in Vor- und Rückschauen einen eigenen Blick auf die Hauptfigur zu werfen. Die Scheibe, auf der der Abend spielt, bewirkt nicht die befürchtete Verflachung, sondern erweist sich im Gegenteil als Seziertisch, an dem auch jene Gefühle zutage kommen, die das Gericht Meursault abspricht.

Fußspuren im Bühnensand

Die junge Regisseurin ist nämlich so klug, bei der Behandlung des schweren Themas auf leicht zumindest wirkende Mittel zu setzen: Hat sich die Drehbühne erst mal in Bewegung gesetzt, genügen ein Lichtwechsel und ein, zwei Schritte, um mit der Konstellation zwischen den Darstellern auch den Ort des Geschehens, die Zeit der Handlung und die Stimmungslage der Figuren zu wechseln: Mal dröhnt die Stimme des Staatsanwalts durchs Microport, mal fragt Meursaults Freundin Marie kaum vernehmlich, ob er sie heiraten will. Und um sich in Meursaults Nachbarn Salamano oder gar dessen Hund zu verwandeln, genügt ein Nylonstrumpf, der über die Schultern gezogen wird.

Obschon die Darsteller im Programmheft alle unter dem Namen Meursault firmieren, wechseln sie permanent die Rollen, und die Microports verschleiern oft, wer von ihnen gerade spricht. Doch auch wenn es sich so anhören mag, ist das nicht verwirrend, sondern vielmehr klärend – klärend nämlich für den Nachvollzug eines Lebensweges, der sich als willkürlich anmutendes Geäst aus den Fußspuren der vier Darsteller im Bühnensand abzeichnet.

Mit Schreien des Hasses

Das Ziel, an das die Spuren führen, ist auf der Bühne dasselbe wie im Buch: Der Schuldspruch für einen Mord, für den es weder ein Motiv noch eine Erklärung gibt: Wieder blitzt eine Pistole auf, doch es fällt kein Schuss, sondern die erste abgeschossene Kugel verlässt die Hand, die sie vor 90 Minuten aufgehalten hat, so dass sie nun ihr Opfer niederstrecken kann. Dann erst fallen vier weitere Schüsse, was in den Augen des Gerichts aus einem Zufallstäter einen kaltblütigen Mörder macht.

Das Urteil verkündet sinnigerweise das Opfer selbst. Nach einer letzten Generalabrechnung mit dem falschen Trost der Religion senkt sich aus dem Bühnenhimmel ein Henkerknoten herab, und Meursault sieht sich dem Tod gegenüber – diesmal seinem eigenen. Die vier Spieler sitzen rauchend am Rande der sich drehenden Scheibe, jeder in einen eigenen Lichtkegel getaucht. Einer äußert den Wunsch, die Zuschauer mögen ihn zur Hinrichtung "mit Schreien des Hasses" empfangen.

Wenn das Licht ausgeht, ernten alle Beteiligten begeisterten Jubel.


Der Fremde
nach dem Roman von Albert Camus
Bühnenfassung von Jette Steckel und Katrin Sadlowski
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: Mark Badur, Dramaturgie: Carl Hegemann.
Mit: Julian Greis, Franziska Hartmann, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch.

www.thalia-theater.de

 

Mehr Camus auf deutschen Bühnen? Im Februar 2011 inszenierte Jan Philipp Gloger in München Camus Stück Das Missverständnis, das ein Motiv aus dem Roman "Der Fremde" entwickelt hat.


Kritikenrundschau

Ein Stück Denktheater hat Michael Laages für den Deutschlandfunk (29.10.2011) gesehen."Vier Personen suchen einen Autor, und sie investieren viel Gegrübel auf ganz viel Papier." Laages lobt zunächst die Aufspaltung des Camus-Ich in vier Personen und die multiperspektivische Drehbühne von Florian Lösche. Trotzdem mache sich im Laufe des Abends szenisch auch Mattigkeit breit. Denn der Zuschauer-Blick gewöhne sich viel zu schnell daran, "dass andere Perspektiven, andere Blickwinkel als die im ewigen Zwangsgekreisel der Bühne nicht möglich sein werden." Und als dann im Finale beim Urteil zum Tod durch das Fallbeil der Guillotine ausgerechnet eine Schlinge fürs Aufhängen aus dem Bühnenhimmel herab führe, da wirke das angesichts der formalen Strenge zuvor wie ein ziemlich blöder, geradezu lächerlicher Fehler, so Laages. Das sei das Risiko grundsätzlichen Denkens, auch im Theater: "Kleinigkeiten wiegen doppelt schwer."

Im Hamburger Abendblatt (31.10.2011) lobt Annette Stiekele das "minimalistische, philosophische Spiel", das Jette Steckel aus dem Camus-Roman gemacht habe. Steckel ringe dem Stoff unverhofft "spielintensive Szenen für das Unerbittliche" ab. Klug setze sie auf den Reiz der Reduktion. Und interessiere sich vor allem für die Bedeutung des Absurden für die Lebenden. "Der Zuschauer durchleidet eine Art existenzieller Nahtod-Erfahrung im Rücklauf", so Stiekele. Das sei schlüssig, aber konfrontiere auch aufrichtig. Und hebe das Geschehen über den reinen Diskurs hinaus.

Jette Steckel sei "keine, die einen Stoff einfach nimmt, ihn zersägt, zerhackt und nach allein eigenem Gusto wieder zusammenklebt", so Frank Keil auf Welt online (31.10.2011). Und so würden sie nicht ausgespart, die manchmal bleischweren Sätze über den Sinn und den Nicht-Sinn des Lebens, wie sie im Existenzialismus üblich waren ("Das Leben ist absurd"), "damals als beim Denken so viel geraucht wurde". Und auch jetzt werde viel geraucht, ständig steckten die Schauspieler sich eine an, wehe der Rauch sehr malerisch in hellen Schlieren durch den sehr exakt ausgeleuchteten Raum und gebe dem Geschehen etwas Tröstliches, Flüchtiges. Das sei eben "die große Kunst der Jette Steckel": Ihre Inszenierungen einerseits mit einer Grundform wie mit einem Paukenschlag zu erden und nebenher mit immer wieder mit kleinen, überraschenden und zugleich ganz logischen Regieeinfällen aufzufrischen, die ihre vier Schauspieler grandios umzusetzen und auszufüllen verstünden.

Im Rahmen einer Doppelbesprechung mit Orlando schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (14.11.2011) über diese Adaption von "Der Fremde": Regisseurin Jette Steckel habe "streng und ernst die Szenencollage zum Recht auf Gefühlskälte" geschaffen und dafür eine "eine klare formale Raumsituation bauen lassen, die eine Bewegungschoreografie der Schauspieler vorstrukturiert". Ihre Schauspieler lasse sie beständig die Rollen wechseln. "Trotz beachtlicher Verwandlungskünste der Schauspieler ermüdet dieses Prinzip immer wieder – wie das Betrachten eines Sandkastenspiels protestantischer Kinder (…)." Die Inszenierung schaffe es nicht den Konflikt "zwischen religiösem Herrschaftsanspruch und weltlichem Individualismus", der gerade in arabischen Staaten hochbrisant sei, entsprechend aktuell einzurichten. "Und die existenzialistische These von der kalten Selbstbestimmung mutet durch die formale Monotonie dieser Inszenierung eher wie eine Diskussion über Autismus an."

mehr nachtkritiken