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Die Kunst, das Leben auszuhalten

von Anke Dürr

Lübeck, 28. Oktober 2011. Was für eine Story: Eine Frau verliert ihren 17jährigen Sohn, Esteban, bei einem Unfall. Sie macht sich auf die Suche nach dem Vater des Jungen, von dem sie ihm nie erzählt hat. Er hieß auch Esteban, ließ sich dann aber Brüste machen und heißt jetzt Lola. Auf der Suche nach dem Sohn nimmt die Frau einen Job an als Assistentin der Lieblingsschauspielerin ihres Sohnes und lernt eine schöne junge Nonne kennen, die von Lola schwanger ist. Die Nonne bekommt einen Sohn, nennt ihn ebenfalls Esteban und stirbt bei der Geburt. Bei der Beerdigung trifft die Frau endlich Lola, die bald darauf auch stirbt. Die Frau zieht den Sohn der Nonne groß.

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Unterwegs zu Esteban    © Thorsten Wulff

Würde man diese Geschichte jemand anderem abnehmen als Pedro Almodóvar, dem spanischen Großmeister des Melodramatischen? Er gewann für "Alles über meine Mutter" im Jahr 2000 den Oscar. Wer den Film sieht, der wird von seiner Emotionalität überrannt. Und wahrscheinlich war es keine gute Idee, sich vor der Premiere von "Alles über meine Mutter" in den Kammerspielen des Lübecker Theaters unter der Regie des Schauspieldirektors Pit Holzwarth auch den Film noch mal anzusehen. Unter anderem deshalb, weil es dann schwer wird zu beurteilen, ob man aus dieser Inszenierung halbwegs zufrieden rausgeht, wenn man den Film nicht kennt. Man hat dann ja auf jeden Fall eine interessante Geschichte erzählt bekommen. Aber vermutlich nicht verstanden warum.

Die Last der großen Gefühle

Pedro Almodóvar macht in seinem Film von der ersten Minute an klar, worum es ihm geht: Um Liebe und Verlust, um Freundschaft und Verrat, um Trauer und Vergebung, um Geburt und Tod, um Schicksal und wie man sich dagegen stemmt. Und um die Kunst, die einem all das auszuhalten hilft. Man muss schon das Format von Almodóvar haben, damit die Geschichte unter dieser Last nicht zusammenbricht.

In Lübeck droht die Geschichte niemals zusammenzufallen, weil sie nur selten durch große Gefühle belastet wird – und zudem die Story doppelt und dreifach durch Erklärungen abgesichert ist. Sie steht da wie aus Beton, man prallt an ihr ab, kann sich aber daran freuen, mit wieviel Begeisterung Matthias Hermann sich in die Rolle des Transvestiten Agrado stürzt, zum Beispiel.

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Bette Davis in Lübeck     © Thorsten Wulff

In Inhalt und Chronologie, zum Teil sogar im Aussehen der Figuren bis hin zum Kostüm halten sich Holzwarth und sein Team meist eng an den Film. Aber es ist nun mal Theater, und das Ganze leidet von Anfang an einem falschen Ton. Joseph Reichelt als 17jähriger Esteban, der die Rolle des Erzählers übernimmt, spricht seine Tagebucheinträge in eine Kamera, die sein immer wie verständnislos staunendes Gesicht auf den Fernseher hinter ihm projiziert. Er hat etwas Putziges und redet, als habe er es mit begriffsstutzigen Kindern zu tun. Wenn er sich mit seiner Mutter Joseph Mankiewisczs "Alles über Eva" im Fernsehen anschaut, wird der Film ausführlich erläutert, damit auch ja keiner die Parallelen zu "Alles über meine Mutter" übersieht. Alles wirkt ausgestellt.

Endstation Theaterdonner

Das drückt das Tempo, und so ist es nur konsequent, dass "Endstation Sehnsucht", das Stück im Stück, größtenteils in Zeitlupe gespielt wird. Als Bühne auf der Bühne dient dabei ein großer offener oranger (im übrigen schlecht verklebter) Kasten, der quergestellt auch Schauspielergarderobe und Krankenhaus sein kann.

Der Regisseur scheint kein Vertrauen in die Auffassungs- und Kombinationsgabe seiner Zuschauer zu haben, nicht in die Kraft des Theaters, und in die Fähigkeiten seiner Schauspieler auch nur bedingt. Videos werden eingespielt, Gesichtsausdrücke erklärt, überflüssige Dialoge hinzuerfunden. Dabei wäre Astrid Färber als Manuela, die Mutter von Esteban, durchaus in der Lage, eine Frau mit Lebenserfahrung einfach zu spielen.

Die Repräsentanten der bürgerlichen Normalgesellschaft sind bei Pit Holzwarth dagegen ins Karikaturenhafte überzeichnet: die Ärzte, die immer im Rudel und immer im Marschschritt auftauchen, die monströse Mutter der Nonne, die mit spanischem Akzent spricht, die Nonnen, die den Fußboden sauberlecken. Auch Thomas Schreyer hat in seiner gelackten Version eines Rocky-Horror-Kostüms keine Chance, aus Lola einen Menschen zu machen. Bei seinem Auftritt wird vom Bühnenhimmel ein Donner herabgeschickt.

Der Beifall am Ende ist dennoch groß.

Alles über meine Mutter
von Samuel Adamson, nach dem gleichnamigen Film von Pedro Almodóvar
Regie: Pit Holzwarth, Bühne und Kostüme: Werner Brenner, Musik: Achim Gieseler, Video: Iwailo Nikolov, Dramaturgie: Peter Helling.
Mit: Katrin Aebischer, Astrid Färber, Matthias Hermann, Susanne Höhne, Claudia Hübschmann, Joseph Reichelt, Thomas Schreyer, Leif Stawski, Ingrid Noemi Stein.

www.theaterluebeck.de

 

Alle Texte aus dem nachtkritik-Schwerpunkt Nord in dieser Spielzeit hier.

 

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Kritikenrundschau

Von lang anhaltendem Applaus berichtet Jürgen Feldhoff in den Lübecker Nachrichten (31.10.2011), lässt seinerseits allerdings auch Vorbehalte gegen diese Filmumsetzung erkennen: "Was im Film mit großer Leichtigkeit erzählt wird, wirkt in der Bühnenfassung manchmal etwas überladen. Präzise gezeichnete Nebenfiguren wie der herzensgute Transvestit Agrado (hinreißend: Matthias Hermann) und Rosas Mutter (Katrin Aebischer in Hochform) stehen neben zu weit ausgesponnenen Handlungsfäden." Die grundsätzlichen Bedenken gegenüber Adaptionen von Filmen auf Bühne kann dieser Abend beim Kritiker nicht ausräumen: "Zu verschieden sind die Darstellungsformen von Film und Theater, um auch nur annähernd deckungsgleiche Ergebnisse hervorbringen zu können."

Für das Onlineportal des Schleswig-Hosteinischen Zeitungsverlags (31.10.2011) lobt Karin Lubowski: "Wo Holzwarth inszeniert, ist der Zuschauer gefordert: Gefühle gibt es da in allen Schattierungen und Mixturen; sie sprießen überall." Holzwarth schöpfe "ohne Angst vor Kitsch und Pathos aus dem Vollen" und werde darin durch seinen Bühnenaussatter (Werner Brenner) und Musiker (Achim Gieseler) unterstützt: ein "kongeniales Trio". Zur inhaltlichen Seite:  "Menschlichkeit, so lautet die ebenso banale wie bedeutende Moral dieser Geschichte, findet sich in den Abgründen der Gesellschaft, Härte und Brutalität in den besten Familien und: Das Leben ist ein Wunder."

Kommentare  
Alles über meine Mutter, Lübeck: hingehen!
Es ist ein großartiger Abend geworden, deshalb hat das Publikum so lang und anhaltend applaudiert. Die Schauspieler beeindrucken durchgehend durch ihre intensive Spielweise- hingehen!
Alles über meine Mutter, Lübeck: rundum gelungen!
Ein durchweg fesselndes Stück, großartig inszeniert und mit fantastischen Schauspielern! Musik und Bühnenbild perfekt.
Einfach ein rundum gelungener Abend!
Alles über meine Mutter, Lübeck: Camp fürs Volk
Alles perfekt ? Ich will mal so anfangen: Daß der Bühnenscheinwerfer, der plötzlich von hoch oben neben Frau Stein einschlug, diese zum Glück nicht erschlagend, das kam in der Tat ziemlich perfekt, ja allzu perfekt, denn das kam ja zu den Worten der Mutter durch Astrid Färber "Du weißt ja nicht, wie es da draußen in der Welt zugeht" (oder ähnlich): ein Theatermoment gestern, den man so schnell nicht vergessen wird.
Ansonsten würde ich "allzu perfekt" aber eher ansetzen im Sinne von "allzu rund, allzu
glatt" und ziemlich bemüht, ähnlich wie beim "Großen Bruder", dem Josephsroman im Großen Haus, ziemlich bemüht im Grunde, sich (das Publikum) in eine Tradition "hinenzulügen", in Form eines "Franz-Wille-affinen-Fiktionalismus", kaum mit irgendeinem Gegengewicht eines leisen Zweifels an der heutigen und hiesigen Basis , der bloßen "materiellen" Basis für eine Art Sontagschen-Camp-Lebens. Camp fürs Volk, für die breite Masse: das ist doch überaus fraglich, wenn man das nicht sogleich als (ua. in seiner Voraussetzungsfülle !) Widerspruch in sich begreift. Nun, in Lübeck herrscht allerdings ein Bewußtsein und auch eine gewisse gediegene und hoch verfeinerte Kenntnis der diversen Kulturströmungen hin zu einer Tradition sich bewegend vor, so daß ich schon denke, daß dieser Abend bereits in Kiel ganz anders wirken und auch aufgenommen werden würde. Es ist dem Abend, der viel Charmantes und Sehenswertes auch birgt, auch nicht vorzuwerfen, daß er sehr "Lübecker-Mischung-gerecht" gerät, aber auch ich spürte überdies jenes Korsett,
von dem die Nachtkritikerin in ihrem Text schreibt. Es mangelt dem Abend, der sich durchaus angenehm viel Zeit läßt (!) bei seinen mitunter schönen Bild- und (Nach!-)Spielfindungen, auch bei vielen Szenen, die ziemlicher Kitsch sind allerdings (immer da, wo das ganz betont "Camp" werden sollte im Grunde), eigentlich schon an einer gewissen Spannung und Dynamik, die einer gleichsam negativen "Coming of Age"-
Geschichte sehr gut zu Gesichte stehen würden, vieles ist immer schon wie fertig, eigentlich wird die Mutter durch jene fremdartigen Verhältnisse auch nicht wie von einem Sog erfaßt (wie es irgendwo im Programmheft steht). Wieder einmal sehe ich ein Beispiel für typisches "Dramaturgentheater", das in bestimmter Hinsicht wirkungsroutiniert tatsächlich perfekt ausgeklügelt ist: dabei kommt aber gerade das Spiel zu kurz und damit auch der wohl für den Abend zentrale Bezugspunkt, daß es sich hier gewissermaßen um das Fragment eines 17-Jährigen handelt, auch um ein Fragment, das mehr die Entstehungsbedingungen zB. des Filmes "Alles über meine Mutter" eher befragt als nun (mit Sicherheit vergeblich) versucht, die bunte Wucht der Filmbilder lediglich bühnenwirksam zu machen. In dieser Hinsicht ist es ein kluger, angenehm zurückgenommener, maßvoller Abend. Auch Astrid Färber näherte sich im Spiel der Ausstrahlung einer 17-20 Jährigen und konnte hier eine Entwicklungsgeschichte immerhin andeuten, währenddessen der Sohn hin und wieder wie ein Muttersöhnchen-Freak-Zombie an Entwicklung eher nicht denken ließ, ja schlicht wie ein Störfall hin und wieder "durchs Bild" zog: immer weniger mochte ich da an "seine" (!) Geschichte denken, die dem Abend eine gewisse Oberflächlichkeit und Schlichtheit gewiß erlaubt hätte, währenddessen am Ende wieder die Fiktionalismus-Philosophie das Regiment übernahm, um nicht nur vom "Wunder der Gegenwart" zu handeln, was allemal noch anginge, sondern, daß es nur auf sie ankomme: das ist, mit Verlaub, nicht mehr Camp !.
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