Unter Hip-Hop-Kiddies

von Katrin Ullmann

Hamburg, 6. November 2007. "Ich strick dir'n Pullover", sagt Pam einmal zu Len. Da rudern sie – eine umgedrehte Parkbank dient als Boot – über einen imaginären See, essen Schokolade, und die Welt scheint in Ordnung. Len (Ole Lagerpusch) sinniert über seine liebste Pulloverfarbe und Pam (Lisa Hagmeister) über ein möglichst einfaches Strickmuster. Wieder und wieder streicht sich Pam dann über ihre weißen Schienbeine und hat mit "Ich strick dir'n Pullover" den wahrscheinlich zärtlichsten Satz aus Edward Bonds "Gerettet" gesagt.

Zwischen Gier, Lust und Gewalt

Jette Steckel, Jahrgang 1982, hat das Stück um junge Menschen ohne Hoffnung oder Perspektive am Hamburger Thalia in der Gaußstraße auf die Bühne gebracht. Und zwischen abgebrochenen Dialogen und derben Schreiereien, zwischen Gier, Lust und Gewalt, klingt Pams Pullover-Versprechen wie eine Liebeserklärung. Verliebt ist Pam allerdings nur kurz. Denn neben Len gibt es viele andere. Und es gibt Fred.

Der wird von Andreas Döhler gespielt, ist Bootsvermieter und ein echter Kerl. Kaum ist Pams Ruderpartie mit Len vorüber, schultert er das dünne Mädchen, um es auf der nächstbesten Bank in seinen Schoß fallen zu lassen. Pam ist fortan im Fred'schen Liebeswahn und kurze Zeit später schwanger. Von wem auch immer. Sie bekommt das Kind, ist überfordert und genervt. Fred macht sich unsichtbar, Len jedoch bleibt.

Hagmeister

Lisa Hagmeister spielt eine launische, minderbemittelte und unglaublich liebenswerte Pam. Sie ist mal x-beinig und mal lustgesteuert, mal überfordert und mal zickig doof: alles, ohne die Figur auch nur im Geringsten zu denunzieren.

Ole Lagerpuschs Len hingegen ist die perfekte Mischung aus Hängeschultern und Weichherz. Verständnislos fragt er nach Pams Eltern, bei denen sie noch immer wohnt. Insistiert auf deren kaputter Ehe, wundert sich über den wortlosen Alltag. "Red von was anders", faucht Pam ihn da an, klemmt sich ihr blassgrünes Minikleid zwischen die Schenkel und träumt von Fred. Dass ihre Mutter Mary (Anna Steffens) sich an- und vor allem auch auszieht wie Jackie Brown und ihr Vater Harry (Markus Graf) regelmäßig und lüstern gucken kommt, wenn Pam Jungsbesuch hat, ist für sie schon stumpfe Gewohnheit.

Steinigung

Und schon sind wir mittendrin in Edward Bonds trostloser Tristesse. Der englische Dramatiker hatte die Schule abgebrochen und sich lange mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, bevor er mit dem Schreiben anfing. "Gerettet", sein zweites Theaterstück, löste bei der Uraufführung 1965 einen Skandal aus. Die britische Theaterzensur verbot es wegen der radikalen Gesellschaftskritik und – nicht zuletzt wegen einer Szene, in der Freds Clique das Baby im Kinderwagen steinigt.

In Jette Steckels Inszenierung ist diese Clique ein eher harmlos wirkender Haufen gelangweilter Hip-Hop-Kiddies. Sie tragen – wenig originell – dunkelgraue Kapuzenpullis oder Blousonjacken (Kostüme: Pauline Hüners) und können ziemlich gut tanzen und singen. Den Kinderwagen werden sie später mit Zigarettenrauch einnebeln und mit Bretterbalken durchbohren.

Doch diese zentrale Szene berührt nicht wirklich. Obwohl Jette Steckel das Kinderwagenkind in den vorangehenden Szenen erbärmlich schreien lässt und die auf teilnahmslose Gesichter gerichtete Baby-Perspektive via Digitalkamera an die Rückwand beamt: Der Kindsmord selbst wirkt wie eine kühle Choreografie. Zu wenig hat sich die Situation unter den Figuren bis dahin aufgeheizt, zu statisch haben sie die generelle Gefühlsleere aneinander vorbeigespielt.

Unentschiedenheit mit Folgen

Die Inszenierung findet zwar heute und – dank der 16 grünen Bänke in Florian Lösches klugem Bühnenbild – auch ein bisschen überall statt. Aber die Figuren, ihre Sorgen, Nöte und ihre Ausweglosigkeit, bleiben seltsam fern. Vielleicht liegt es daran, dass die just zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählte Steckel, sich nicht klar genug zwischen psychologischem Realismus und kühler Abstraktion entschieden hat.

Einzelne Szenen – wie etwa die "Reifeprüfung"-verdächtige Annäherung zwischen Mary und Len oder Pams und Lens erste gemeinsame Nacht, lediglich von einer glimmenden Zigarette beleuchtet – sind tragikomische und berührende Highlights. Doch insgesamt hängt die Regisseurin zu sehr am Stückverlauf, erzählt alles so genau wie möglich. So werden die verhandelten Probleme immer kleiner, während ein großer, gesellschaftskritischer Gedanke schon lang versandet ist.

 

Gerettet
von Edward Bond
Deutsch von Klaus Reichert
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: Mark Badur.
Mit: Katharina Behrens , Simon Brusis , Andreas Döhler, Claudius Franz, Markus Graf, Lisa Hagmeister, Ole Lagerpusch, Asad Schwarz-Msesilamba, Anna Steffens.

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Im Hamburger Abendblatt (8.11.2007) zeichnet Armgard Seegers ein düsteres Bild der Gegenwart: "Marodierende, gewalttätige Jugendliche, sprachlose Erwachsene, Gleichgültigkeit und Apathie..." Edward Bond, will Seegers sagen, ist aktuell. Und Jette Steckel habe es geschafft, das Lebensgefühl des Verlotterten "als absolut heutige Zustandsbeschreibung von Unterschicht oder Prekariat lebensecht auf die Bühne zu bringen". Sie hätte "großartige Bilder des Schreckens" gefunden. "Nie sieht man Ursachen, immer nur Zustände. Ja, so ist es, möchte man sagen. Lehrer, Schüler und alle, die wissen wollen, wie das Leben in der Sackgasse aussieht, sollten sich diesen Abend unbedingt ansehen."

Monika Nellissen indessen hat eine "nüchterne Versuchsanordnung" gesehen, wie sie in der Welt (8.11.2007) schreibt, "eher analysiert als inszeniert". Der Abstand zwischen Publikum und Bühne, also zwischen Zuschauern und "den lebendigen Toten, die dem Titel des Stückes Hohn sprechen", betrage, wie gemessen werde, genau 4 Meter 48 – die gleiche Zahl, die Sarah Kane in "4.48 Psychose" zur Zeitangabe eines Selbstmords gemacht habe. Das schafft Bezüge, ist Nellissen aber zu abstrakt und zu ängstlich und ein Beispiel für den Zugriff im Ganzen. Steckel sollte "nicht nur mit dem Hirn", sondern auch "mit dem Herzen" inszenieren.

Am 13.11. 2007 erscheint auch in der Frankfurter Rundschau noch eine Kritik, als Mischform mit einer Porträtskizze der 25-jährigen Regisseurin, die die Tochter des Regisseurs Frank-Patrick Steckel ist und deren erste Regiearbeit als ausgebildete Regisseurin "Gerettet" ist. Anke Dürr hat die Inszenerung gefallen, sie findet sie "geradlinig" und "stilsicher" – so sehr sogar, dass sie froh ist, Jette Steckel einen Anfängerinnenfehler nachweisen zu können. Dass sie den "illusionslosen Dialogen" nämlich "noch ein paar bleischwere Merksätze hinterher(schicke)", klinge, "als ob sie ihrer eigenen Inszenierung nicht trauen würde. Ausgerechnet sie."

 

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