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Niemand hat Fatima gezwungen

von Alexander Kohlmann

Hannover, 6. November 2011. "It must have been love", Roxette-Musik, ein Wohnzimmer mit Gartenterrasse und Kunstpflanzen, eine Treppe ins Obergeschoss, dessen Räume man in tausend Episoden niemals zu sehen bekommt, ein Klassenzimmer und eine Essküche mit Spaghetti Plakat. Dazu ein Schminktisch und Techniker mit pinken "Fatima-Crew" Shirts. Mittendrin, schwatzend und rangelnd die Young Actors, an ihren schrägen Pseudo-Jugendoutfits unschwer zu erkennen.

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 © Arzu Sandal

Das Junge Schauspiel Hannover empfängt die Zuschauer in einem Filmstudio, genauer am Set einer Teenager-Soap, auf dem am Fließband Emotionen produziert werden. Viel Platz für Tiefgründigkeit und Charakterzeichnungen bleiben in derartigen Produktionen bekanntlich nicht. Die erste Probe ist der erst Take, was gespielt wird, ist im Kasten.

Am Tag, als das Kopftuch kam

Und Regisseurin Mina Salehpour folgt in ihrer Deutschen Erstaufführung eines Skript-Imports aus dem britischen Theater nicht nur äußerlich dem Soap-Konzept. Der Freundeskreis der vier in ihren Joggingkostümen und achtziger Jahre Stylo-Frisuren im White Trash angesiedelten Halbstarken könnte plakativer nicht gezeichnet sein. Hier gilt das, was gesagt wird. Subtext, differenzierte Gefühle, ja Subtilität: Fehlanzeige! Richtig, wir befinden uns ja am Set einer Soap.

Vieles von dieser gewollten Eindimensionalität steckt bereits in der Vorlage der dreiundzwanzigjähigen britischen Dramatikerin Atiha Sen Gupta. Fatima, eine siebzehnjährige Türkin, die bis dahin keine Party ausgelassen hat, kehrt nach nur sechs Wochen Sommerferien plötzlich verschleiert in die Schule zurück. Ihr Freundeskreis steht Kopf, denn das Klischee geht hier nicht auf.

Selbstbestimmte Verhüllung

Niemand hat Fatima gezwungen, ihre Mutter (Susana Fernandes Genebra) hat einst selber gegen das Kopftuch gekämpft. Bruder Mohammed (Ali Berber) denkt nicht an Ehrenmord, sondern ist zunächst ehrlich empört über "dieses Ding", das seine Schwester da plötzlich mit sich rumträgt. Mit der Pointe der selbstbestimmten Verhüllung und der daraus folgenden Erkenntnis: "Nicht hinter jedem Kopftuch steckt eine unterdrückte Frau", ist dann allerdings auch alles gesagt, und das nach zehn Minuten.

Ein wenig puristisch für einen Abend. Deshalb das Fernsehstudio als Zubrot, auf der sich Regisseurin Salehpour und ihre "Fatima-Crew" allerdings so detailverliebt und stimmungsvoll austoben, dass es fast scheint, als ignorierten sie bewusst den nervigen Kopftuchkontext: Lieber gut gemachtes "O.C.–California" als moralisches Lehrtheater. Und das Publikum geht dankbar mit. Lacht, wenn auf der Digitalanzeige über der Bühne "Lachen" eingeblendet wird. Wirft sich weg, wenn Fatimas Freund Georg (Daniel Nerlich) ausgerechnet als Adolf Hitler verkleidet zur Maskenparty kommt und nur noch das Batman-Kostüm vom etwas verpeilten Kumpel Craig (Denis Geyersbach) noch verrückter aussieht. Aber da ist ja auch noch die blonde Steffi (Anne-Marie Lux), die als Pamela Anderson mit roter Rettungsboje Michelle Hunziker Konkurrenz macht und sich einen Dreck darum schert, dass die neuerdings muslimische Fatima sich an dieser offenen Zurschaustellung des American Sex-Dream stören könnte.

Frage nach Identität

Macht aber nichts: Denn Fatima bleibt den ganzen Abend der Bühne fern. Weil sie nie da ist und stattdessen Steffi aus dem Klo kommt, vor dem Fatimas Freund Georg herzzerreißend fleht, dass sie diesen ganzen Kopftuchmist doch mal bleiben lassen soll, wird unser Bild ausschließlich durch ihr verstörtes Umfeld geprägt. Und dabei ganz besonders durch ihren Zwillingsbruder Mohammed. Denn Ali Berber gelingt es mit seinem ernsten Spiel noch am ehesten, die Soap-Vorgabe zu durchbrechen. Dieser Mohammed oder vielleicht auch der Schauspieler, der an diesem Set den Mohammed spielt, spürt ganz offensichtlich, dass die Geschichte ernster ist als die O.C.-Party in der Endlosschleife, dass das alles "ziemlich geschmacklos ist" und der Spalt zwischen den Freunden so langsam zum Abgrund wird. Dass das Kopftuch den endlosen Teeniespaß sprengt und hinter Fatimas nur scheinbar unverständlichem Verhalten auch die Frage nach der eigenen, auch seiner eigenen Herkunft steht.

Als er sich das Objekt der Zwietracht umbindet, sehen wir in ihm plötzlich die verschwundene Zwillingsschwester Fatima und vergessen die Soap-Aufstellung. Wenn es in solchen Momenten Raum gäbe für Brüche, Dialoge am Rande des Sets, Paratexte und verschwimmende Spielebenen, kurzum: mehr Experimentierfreude mit dem "well-made" Play, könnte es in diesem Studio noch richtig spannend werden.

Denn weil wir nichts über die Schauspieler am Set erfahren, und keine erkennbaren Unterschiede zwischen den gespielten Charakteren der Fatima-Geschichte und den Darstellern im Studio zu erkennen sind, bleibt der aufwendige Zubau zum Text nicht mehr als ein Gimmick, eine Art neunzigminütiges Making Off, das auch eine Flucht sein kann vor einem Thema, dass man am Schauspiel Hannover vielleicht schon ein wenig zu oft diskutiert hat: Kopftuch, Kopftuch, Kopftuch.

 

Fatima DEA
von Atiha Sen Gupta
Deutsch von Anne Rabe
Regie: Mina Salehpour, Bühne: Jorge Enrique Caro, Kostüme: Maria Anderski, Musik: Sandro Tajouri, Dramaturgie: Vivica Bocks.
Mit: Ali Berber, Susana Fernandes Genebra, Denis Geyersbach, Maya Haddad, Anne-Marie Lux, Daniel Nerlich.

www.schauspiel-hannover.de

 

Die Londoner Uraufführung des Stücks "What Fatima did" am Hampstead Theatre löste 2009 in Großbritanien einige Debatten aus. Atita Sen Gupta, 1988 geboren, stammt aus einer multikulturellen, gänzlich säkularen, nicht-muslimischen Familie. Ihre Mutter ist die ist die bekannte britisch-indische Journalistin Rahila Gupta. Die Regisseurin Mina Salehpour wurde 1985 in Teheran geboren.

 

Kritikenrundschau

Mina Salehpour habe mit "Fatima" "kein politisch korrektes Stück inszeniert", meint Stefanie Nickel in der Hannoverschen Allgemeinen (8.11.2011). Guptas Text strotze nur so "vor bitterbösem schwarzem Humor". Salehpours "Sitcom-Stil suggeriert: Es darf wieder gelacht werden – auch wenn es um Kopftücher geht. Aber auch: Vieles ist in den Integrationsdebatten vorhersehbar und unterliegt stereotypen Wiederholungen." Spätestens als Fatimas Ex-Freund Georg ihr das Kopftuch herunterreiße und sie eine Beschwerde wegen rassistischer Belästigung einreicht, werde jedoch "der Rahmen der Vorabendserie gesprengt" und das Stückchen Stoff bekomme plötzlich "eine Bedeutung, die den Freundeskreis nachhaltig zu erschüttern droht".

In der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung (8.11.2011) ist Jürgen Meier begeistert: mit so einem Abend könne es gelingen, Jugendliche wieder in die "ansonsten verschmähten" Theaterhäuser zu locken. Die Frage, warum genau Fatima Kopftuch trage, bleibe offen, aber sehr drastisch werde deutlich, was passiere, wenn ein Stück Tuch zum Symbol erhoben würde. Meier lobt die "humorvollen, witzigen Dialoge" und findet gar: "Für Schulklassen ab der 8. Klasse sollte "Fatima" von Atiha Sen Gupta Pflicht sein."

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