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Lizenz zum Austoben

von Matthias Weigel

Berlin, 18. November 2011. Ein Musical, das vom Dreh eines Films handelt, mit dem die "Ein Mann sieht rot"-Action-Reihe fortgesetzt werden soll und der inhaltlich auf Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" basiert. Alles klar?

Knalliger Trash mit blinkenden Drehbühnenbauten und knackigem Bigband-Sound live aus dem Orchestergraben; in den (teils von früher aufgewärmten) Songs werden New York, Angst und Schmerzen besungen. Und dazwischen geht es in Studio Brauns "Action Musical" "Fahr zur Hölle, Ingo Sachs" munter und sinnlos quer durch alle Ebenen: Ole Lagerpusch spielt einen verrückten Autorenfilmer zwischen Klaus Kinski und Jack Sparrow und schikaniert sein Team. Felix Goeser stolziert gleichermaßen als gealterter Action-Held und Action-Held-Darsteller umher und ist nie um einen Aphorismus verlegen à la "Bienen machen Honig. Menschen machen böse Sachen." Studio Braun, bestehend aus Heinz Strunk, Rocko Schamoni und Jacques Palminger, latschen immer wieder durchs Bild und erklären, flöten, korrigieren oder singen.

Kleist, ick hör dir trapsen
Im besten Fall gibt das gute Gags, wenn Moritz Grove wie eine Matroschka-Figur erst als Filmfigur den Actionfilm-Protagonisten Michael Coolhaze (Kleist, ick hör dir trapsen!) reinlegt, sich dann als eigentlich Amok-laufender Regieassistent (des Filmdrehs) entpuppt, um sich wiederum als eigentlich durchdrehender DT-Schauspieler Moritz Grove zu bekennen. Im schlechtesten Fall wird fade rumgestanden und – oha – auf der Bühne aus dem Aufführungs-Skript korrigiert: "Du sagst doch jetzt was ganz anderes!" (Vierte Wand, ick hör dir bröckeln...)

Wie schon bei der Musical-Oper von "ICKE&ER" im April in der Volksbühne ist es vor allem eine Fan-Veranstaltung, bei der Studio Braun-Liebhaber sicherlich auf ihre Kosten kommen. Allen anderen werden die nihilistischen Gags aus dem Theater-Antiquariat eher ein Gähnen entlocken. Ein teures Gähnen immerhin, denn an ein Budget für soviel Brimborium muss man erstmal kommen.

Schmerzfreier Hang zum Trash
Schon erstaunlich genug, dass sich anscheinend immer mehr Gruppen allein durch die performativen Anreicherungen ihrer Konzerte, durch ihr erprobt unerschütterliches Auftreten oder schmerzfreien Hang zum Trash hinreichend qualifiziert fühlen, im Vorübergehen eben mal die größten deutschen Stadttheater-Bühnen zu bereichern. Aber auch die Intendanten hegen ja offensichtlich nicht die geringsten Zweifel, sondern empfangen die namhaften Quereinsteiger mit offenen Armen – und offenen Geldbeuteln. Wer in theaterverwandten Kunstsparten Erfolge feiert, zieht Publikum, so wohl die (sicherlich berechtigte) Hoffnung. Aber nur weil einer das Konzert-, Humor- oder Telefonstreich-Handwerk beherrscht, baut er noch lange keine herausragenden Theaterabende. Die Amateure bekommen lediglich die Lizenz zum Austoben. Und auch wenn sich Studio Braun hier immerhin redlich um die interpretatorische Meisterleistung bemühen, dass Michael Kohlhaas auch als moderner Lynchjustiz-Action-Thriller gelesen werden kann: Zieht man mal die opulenten Mittel ab, ist außer Namen nix gewesen.

Ob man sich mit der Lässigkeit der eingekauften Gäste wirklich den Staub vom DT polieren kann, ist zu bezweifeln. Den eingefleischten Studio-Braun-Fans wird's jedenfalls herzlich egal sein, auf welcher Bühne sie ihre Jungs sehen. Und den Bühnen-Fans dürfte es herzlich egal sein, was die Jungs von Studio Braun da oben machen.

 

Fahr zur Hölle, Ingo Sachs
Ein Actionmusical von Studio Braun (Rocko Schamoni, Heinz Strunk, Jacques Palminger)
Regie: Studio Braun, Bühne: Janina Audick, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Sebastian Hoffmann, Studio Braun, Orchesterleitung: Sebastian Hoffmann, Video: Eva Könnemann, Dramaturgie: Anika Steinhoff
Mit: Felix Goeser, Ole Lagerpusch, Moritz Grove, Anita Vulesica, Katrin Wichmann, Jens Rachut, Rocko Schamoni, Heinz Strunk, Jacques Palminger, Malin Nagel / Hannes Oppermann, Nicole Lowery, Lara Scherpinski, Martina Jonigk, Studio Braun

www.deutschestheater.de

 

Mehr zu Studio Braun? Im Oktober 2010 inszenierte das lustige Trio am Hamburger Schauspielhaus Rust – ein deutscher Messias mit Fabian Hinrichs.

 

Kritikenrundschau

Spätestens seit diesem Abend, so Gregor Quack in der FAZ Sonntagszeitung (20.11.2011), muss die Frage nicht mehr lauten, ob Theater als Ex-Punk überhaupt gehe, sondern, warum Studio Braun damit nicht schon früher angefangen haben. "Die Musicalmischung funktioniert erst deswegen genau, weil die von Heinz Strunk wunderschön hanseatisch genästelte Curtis-Mayfield-Parodie ihr Gegenstück in dem von DT-Ensemblemitglied Anita Vulesica virtuos divenhaft geröhrten Studio-Braun-Klassiker 'Nikotina Turner' findet." Und auch das Spiel mit diversen Meta- und Über-Meta-Ebenen werde nicht zum Regietheater-Stilmittel, weil die Regisseure eben drei flachbrüstige Ex-Musiker in Faltenröcken und Kniestrümpfen sind und nicht irgendwelche Theatertitanen.

Mit Charles-Bronson-Abenden seien Schamoni und Palminger "schon am Anfang ihrer Karriere durch die Subkultur-Kneipen der Republik", weiß Julian Weber in der tageszeitung (21.11.2011) zu berichten. "Die furchtbar synchronisierten, leicht psychedelischen Actionfilme mit dem knorrigen US-Schauspieler deuteten sie existenzphilosophisch aus". "Fahr zur Hölle, Ingo Sachs" drehe diese Schraube "ein paar Umdrehungen weiter. Charles Bronson trifft nun auf deutschen Autorenfilm und Heinrich von Kleist, autoritäre Sprechweisen werden durch den Kakao gezogen." Der Witz von Studio Braun bleibe dabei "immer humanistisch und wird nie voyeuristisch, und das wird vom Premierenpublikum auch so verstanden." Zudem gelte nach wie vor der Grundsatz: "Wenn Studio Braun ihre Finger im Spiel haben, ist die Musik garantiert keine Kacke."

Ulrich Seidler wirft in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau (21.11.2011) Fragen auf: "Was wollen die Mundwinkel da oben? Das muss gute Laune sein. Und sie hat den Theaterbesucher befallen. Was soll denn nun werden?" Sei denn "das Deutsche Theater reif für Studio Braun? Für Trash?" Wobei Seidler anmerkt, dass den Abend "große Könnerschaft auszeichnet." Und die Schauspieler des Deutschen Theaters stünden den "Ironie-Virtuosen" von Studio Braun in nichts nach. Aber noch einmal gefragt: "Wofür dieser Aufwand? Einfach nur Glück? Kann es wirklich sein, dass Strunk, Palminger und Schamoni die ganze Inszenierung nur deshalb gemacht haben?" Jedenfalls, so schließt Seidler, könne man "hier endlich mal wieder seine Freunde von früher mit ins Theater nehmen".

Die drei "Szene-Scherzkekse" von Studio Braun bewiesen mit diesem Abend, dass immer noch "überraschende Zugänge" zu Kleists Werk möglich seien, findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (22.11.2011). Nonchalant würden der Bronson-Film mit der Kleist-Novelle kurzgeschlossen. "Der Erkenntnisgewinn solcher Kurz- und Querschlüsse geht zwar gegen Null, dafür stimmt die gute Laune." Das Ganze sei zwar "nicht viel mehr als ein fröhlich sinnfreier Flirt mit dem Trash, das aber immerhin mit einem tollem Orchester und einigem Unterhaltungswert".

Matthias Heine schreibt in der Tageszeitung Die Welt (23.11.2011): Noch größenwahnsinniger als die inhaltliche Verknüpfung von "Ein Mann sieht rot" und "Michael Kohlhaas" sei es wie Studio Braun die kulturellen Ebenen miteinander verknüpften: nicht bloß Kleist-Jahr, B-Movie-Stars der Siebziger, Retro-Chic und Blaxploitaton-Soul-Musik, sondern auch noch "brachialphilosophische Reflexionen über das Herr-Knecht-Verhältnis des Dramatikers zu seinen Figuren", die an Pirandellos erinnerten und Brücken zum "Faust", wenn Studio Braun gelegentlich in Schottenröcken erschienen und den "sich allmächtig wähnenden Psychopathen Sachs" erinnerten, dass er ihr Geschöpf sei. Doch beim Versuch an die Hamburger Publikumserfolge anzuknüpfen , fehle "irgendwas". Obwohl die "Jungstars des Deutschen Theaters" sich "gewaltig komödiantisch ins Zeug" legten: Ole Lagerpusch gebe "die Mutter aller Regisseursparodien, Katrin Wichmann lasse "im Sturm der Komik" manche Seelenqual des Schauspielerdaseins ahnen und Felix Goeser bringe das Kunststück fertig, "atemberaubenden Quatsch zu reden und dabei viril, cool und komisch zugleich zu sein". Vielleicht fehle es an der Musik. Hinterher könne man sich an keine Melodie mehr erinnern. Und das bei einem Musical.

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