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Auf schwankendem Grund

von Rudolf Mast

Hamburg, 18. November 2011. Herbert Fritsch als Newcomer zu bezeichnen wäre deplatziert. Fritsch ist Jahrgang 1951 und seit Jahrzehnten ein gefragter Schauspieler und Filmemacher. Zudem sorgt er seit dem Jahr 2000 mit hamlet_X, einem "intermedialen Kunstprojekt", für Furore. Als Theaterregisseur aber ist er einem größeren Publikum erst seit dem Frühjahr ein Begriff, als er mit gleich zwei Inszenierungen zum Theatertreffen eingeladen war. Kamen diese beiden Arbeiten noch aus der vermeintlichen Provinz, so stehen ihm nun die großen Bühnen in den großen Städten offen.

Zuletzt inszenierte er an der Berliner Volksbühne (zu deren Ensemble er lange gehörte), nun hatte seine jüngste Arbeit am Hamburger Thalia Premiere. Und als wolle er den frisch erworbenen guten Ruf gleich wieder ruinieren, wählte der notorische "Berserker" in beiden Fällen nicht, wie noch bei den Einladungen zum Theatertreffen, ein Werk der bürgerlichen Dramatik, sondern die wohl am schlechtesten beleumundete Textgattung des Theaters: den Schwank.

Sofa und Kakadu

In Hamburg ist es "Der Raub der Sabinerinnen", und wie es sich für "ordentliches" Theater gehört, ist der rote Vorhang vor Beginn der Vorstellung geschlossen. Doch schon wenn er sich hebt, ist mit "ordentlichem" Theater Schluss: Das große schwarze Bühnenhaus ist nahezu leer, und keinerlei Interieur zeugt vom Heim des Professors Gollwitz. Stattdessen steht im Hintergrund ein rotes Sofa mit "Wetten, dass"-tauglichen Ausmaßen, daneben baumelt an einer Kletterstange Cicero, ein bunt gefiederter Kakadu (Sebastian Zimmler). Dazu ertönt pathetische Musik.

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Gruppenbild mit Sofa und Kakadu © Krafft Angerer

Der erste Auftritt gehört einer sächselnden Putzfrau (Gabriela Maria Schmiede), zu der sich die schwäbelnde Theaterdirektorin Striese (Karin Neuhäuser) gesellt. Sie macht für ihre Wandertruppe Werbung. Als der Professor (Matthias Leja) ihr verschämt eine "Römertragödie" aus eigener Feder anbietet, greift die Diva zu. Vom Geschlecht des Impresarios und der Vogelgattung abgesehen, ist so weit alles wie im Original. Der Umgang damit jedoch ist ziemlich frei: Von den wie betoniert wirkenden Frisuren über die grelle Schminke und Kostüme bis hin zur Sprache ist alles exaltiert und steht unter derselben Hochspannung wie das Trampolin hinterm Sofa, das die Spieler durch die Luft katapultiert. Um das Ganze rund zu machen, wird die Szene in wechselnd farbiges, stets kreisendes Licht getaucht.

Mit lautem Knall: Das Stück im Stück

Zu Beginn des zweieinhalbstündigen Abends merkt man den Darstellern noch die Scheu an, mit dieser Art Theater vors Publikum zu treten, doch einmal freigespielt, lassen sie die Zügel schießen: Kein Kaulauer wird ausgelassen, und die Stimmen werden ebenso überstrapaziert wie die Gelenke. Unterm Strich ist das zwar ohne tiefere Bedeutung, aber beileibe nicht sinnfrei, weil es das eigene Tun und Lassen hinterfragt: Im Schwank, wie er im Thalia über die Bühne geht, ist die Trennung zwischen Haupt- und Nebenrollen obsolet, und vom Zwang zur höheren Bedeutung befreit, dürfen die Spieler zeigen, was sie können. Das müssen sie aber auch, um hinter den Kollegen nicht zu verschwinden. So darf ein jeder nach Herzenslust brillieren, und das Schöne an dem praktizierten Ensemblegedanken ist, dass jeder der beteiligten Spieler das Zeug dazu hat.

Theater, das spielend seine Mittel überprüft – das ist eine Art Leitmotiv des Abends und findet seinen Höhepunkt im Umgang mit dem Stück im Stück. Der Premiere von "Der Raub der Sabinerinnen" voraus geht eine Probe, zu der sich die Darsteller in römischen Gewändern versammeln. So frappierend wie die Virtuosität, mit der sie diese Szene spielen, ist die Veränderung der Bühne: Weißes Licht flammt auf, und aus dem Schnürboden senken sich (teils mit lautem Knall) fünf Scheinwerferbrücken, Gesteinsbrocken und ein bemalter Prospekt mit einer Landschaft, die von Schwaden aus Nebelwerfern umhüllt wird. Aufgefahren wird die gesamte Maschinerie, die dem Theater zur Verfügung steht, um etwas vorzutäuschen, was realiter nicht vorhanden ist.

Keine Taschenspielertricks

Die Premiere von Gollwitz’ Machwerk droht trotz des Aufwandes zu scheitern, und nach dem ersten Akt ist der Autor derart deprimiert, dass er sich das Leben nehmen will. Auch im zweiten Akt reiht sich Panne an Panne, und dass nach dem dritten die Leute jubeln, liegt daran, dass Strieses Mann vortäuscht, was nicht da ist, und ihnen das Stück als Parodie verkauft. Auf solche Taschenspielertricks lässt sich Herbert Fritsch nicht ein, und statt etwas vorzutäuschen, hält sich seine Inszenierung ausschließlich an das, was da ist. Und das bereitet nicht nur ziemlich viel Spaß, sondern ist auch noch ziemlich wahr.

 

Der Raub der Sabinerinnen
von Franz und Paul von Schönthan / Curt Goetz
Hamburger Fassung Sabrina Zwach
Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Ingo Günther.
Mit: Marina Galic, Hans Kremer, Matthias Leja, Karin Neuhäuser, Jörg Pohl, Gabriela Maria Schmeide, Cathérine Seifert, Rafael Stachowiak, Victoria Trauttmansdorff, Sebastian Zimmler.

www.thalia-theater.de

 

Ein erstes Mal inszenierte Herbert Fritsch den "Raub der Sabinereinnen" bereits im Februar 2009 am Neuen Theater Halle.

 

Kritikenrundschau

Man könne beim "Raub der Sabinerinnen" in Hamburg sehen, wie "eine Fritschiade, ohne alle Schuld den Darstellern zu geben, nicht durchbrettert, nicht abhebt", meint Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen (21.11.2011). Die Schaupieler wirkten, "bis auf eine kleine, wunderbar veralbert gespielte Pause einer Probe, als hätten sie Blei in den Extremitäten. Und, schlimmer noch, auf der Zunge." Und sogar Karin Neuhäuser, "geschätzt für ihren knochentrockenen Humor auf der Bühne", schwäbele den "Striese als alterndes Bühnenschlachtross eher milde und ziemlich konturlos herunter."

Till Briegleb analysiert in der Süddeutschen Zeitung (21.11.2011) die Fritsch'sche Komödienmechanik. Der gewöhnliche Komödienhumor funktioniere "nach dem Prinzip der Entblößungs-Illusion: Der Darsteller wird ausgestellt in dem Bemühen, seine wahren Absichten und Mängel zu verbergen, und der Zuschauer freut sich daran, wie das misslingt. Bei Herbert Fritsch aber fehlt das Bemühen. Seine Figuren übertreiben einfach ihre Mängel und reizen das Lachen durch die Schamlosigkeit, mit der ihr Unvermögen zum Exzess gereizt wird." Die Geschichte tue da "eigentlich nichts mehr zur Sache. Was zählt, ist die einzelne Nummer, und zwar der Grad ihrer Hysterie." Die Schwäche von Fritschs Methode, "dass Hysterie auch mal eine Zigarettenpause braucht, damit sie danach wieder konzentriert zündet, bläut ihm an diesem Abend Karin Neuhäuser ein, indem sie das Tempo boykottiert." Sie halte damit "das Stück halbwegs zusammen", das ansonsten "an diesem Abend des sportiven Doping-Klamauks vom Reiz einer Strickliesel" sei.

"Ist das noch Dada oder schon gaga?" fragt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (21.11.2011). Diese Inszenierung sei der Hammer, sie jage "mit Karacho durch Kalauer und krasse Komik bis die Schauspieler erschöpft und die Zuschauer überrumpelt sind. Nix hehre Bühnenkunst oder intellektueller Tiefsinn. Hier ist der Irrsinn ausgebrochen, ganz real." Am herrlichsten gelungen sei "die Theaterprobe zum Sabinerinnen-Stück. Die Schauspieler, maulig und verfressen, lassen sich nur bändigen, wenn strenge Zucht zum Einsatz kommt, ähnlich der, wie sie Regisseur Einar Schleef einforderte." Und Karin Neuhäuser sei "der Star, inmitten eines glänzenden Ensembles. Sie schmeichelt und gurrt, sie leidet und fiebert, sie ist ganz große Tragödin und hintertriebene Komödiantin."

Auch für Michael Laages (Deutschlandfunk, 19.11.11) ist die Probe der Höhepunkt der Inszenierung: "Vorne feixt und fuchtelt die Regie, kommt nicht recht voran, droht damit abzureisen – aber mithilfe des Ensembles entsteht dann eben doch jenes elementare Chaos, das den atemberaubenden Charme einer guten Klamotte ausmacht. Für diese Minuten der falschen Probe ist die 'Methode Fritsch' auch im Thalia Theater wieder ganz bei sich – das ist aber nicht immer der Fall in immer länger werdenden zweieinhalb Stunden." Unter dem "großen, leeren Thalia-Himmel" verlaufe sich "die atemlos-rasante Stimmführung in weiten Teilen des Ensembles, und naheliegenderweise retten sich einige ins Geschrei. Und Schreien ist generell sehr selten wirklich komisch." Der Abend werde so "merklich zäh – und die Inszenierung ist auf einmal fast nur noch damit beschäftigt, das hohe Tempo zu halten."

Herbert Fritsch treibe sein Ensemble über zwei Stunden in einem Wirbel von Unsinn über die Bühne, schreibt in der FAZ Sonntagszeitung (20.11.2011) Nora Sdun, die sich davon aber nicht einnehmen ließ: "Es ist ein Dauerfeuer von Blödsinn, was einen mürbe macht und schließlich einknicken lässt." Von der Bühne kommen keine weiteren Informationen als hilfloses Gezappel und schreckliche Verstrickungen in Kostümen und mit Requisiten. Man lache nicht über Pointen. Diese Sorte Gelächter habe überhaupt wenig mit mit dem Verstand zu tun, wohl aber mit Kontrollverlust. Fazit: "Ob der Schwank die darunterligenede Tragik offenlegt, wie es der Dramaturg Carl Hegemann wünscht, steht zu bezeweifeln, denn Albernheit entzieht sich wegen ihrer Tendenz zur Sinn- und Grundlosigkeit einer tiefsinnigen Analyse."

"Es rührte nicht Seele an diesem Abend, es würgte an der Gurgel", so Werner Theurich auf Spiegel online (19.11.2011), der findet, dass es nicht die schlechteste Theatererfahrung sei, nach einer Premiere außer Atem zu sein, "dennoch fühlte man sich nach diesem 'Raub' seltsam satt und mental entleert". Der Regisseur, bei dem auch "Hamlet" und "Nora" hampeln, lasse hier natürlich nichts anbrennen. "In der Unruhe liegt die Kraft, jedenfalls für Herbert Fritsch, der seine Bürger und Bohemiens bis zum sozialen Urknall aufeinander hetzt." Von der zwischendurch eingelegten Feuerpause im Gag-Beschuss erhole sich die Inszenierung allerdings nicht mehr. "Schade am Schluss. Dennoch überbordender Beifall für alle Beteiligten, aber auch eine sanfte Erleichterung im Publikum, dass es nun mal gut war mit der Schmiere. Auch wenn's noch so schön gekracht hat."

In einer Doppelbesprechung mit Hiob zeigt sich Ulrich Weinzierl für die Welt (22.11.2011) von diesem "Raub der Sabinerinnen" deutlich genervt: "Nichts gegen Blödelei, Groteskkomik und Aberwitz auf der Bühne, im Gegenteil! Es sollte nur bitte perfekt sein, leicht und spielerisch und präzise über die Rampe kommen." Lediglich der "fabelhafte Jörg Pohl" sei hier "ein Slapstick-Virtuose von Format". Der ganze Abend wirke schnell "ungemein langweilig und schal", auch weil es der "Possenkunst" von Fritsch und seinem Dramaturgen Carl Hegemann an Zeitökonomie mangele.

Eva Biringer hält in der Zeit (24.11.2011) diesen Abend, der "einem koketten Spiel mit dem unbedingten Willen zur Peinlichkeit" fröne und "bewusst jeglicher Frage nach Sinn" ausweiche, zwar für "verkalauert". Doch empfindet die Kritikerin dies als Qualität: Fritsch beherrsche "spürbar die Inszenierung. Jeder Gesichtsmuskel im Spiel des Ensembles zuckt mit manischer Genauigkeit, jeder halsbrecherische Salto ist perfekt choreografiert." Das Stück von Franz und Paul von Schönthan ermögliche dem Regisseur sein "theaterkritisches Potenzial" auszuspielen. "Erstaunlich ist, dass die Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Attitüde in den meistens Fällen funktioniert, eben weil sie so unprätentiös mit elitären Ambitionen und der elaborierten Hochkultur spielt." So laufe Fritsch mit diesem Abend "zur Höchstform auf".

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