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Wenn Gott die Seelen zerreißt

von Matthias Weigel

Hamburg, 19. November 2011. Mit einiger Anstrengung könnte man Josef Roths "Hiob" heute als die Suche nach einem zeitgemäßen Wertesystem lesen, als Zweifelstudie über das Verhältnis von Eigenverantwortung und Schicksalsergebenheit: "Hiob" erzählt weitgehend parallel zur biblischen Geschichte von einem gläubigen und rechtschaffenden Mann, der nach und nach durch Unglücksfälle fast seine gesamte Familie verliert. Und darüber nicht an seinem Gottesglauben zu zweifeln beginnt.

Allerdings ist der Protagonist Mendel Singer in Roths Roman ein um 1900 in Russland lebender Jude. Das konkrete Setting ist heute somit schwer nachzuvollziehen; weder die damaligen moralischen Verhältnisse, die Bedeutung der Religion für die jüdische Minderheit in Russland, noch der Umgang mit Behinderten und Kranken. Und Regisseur Klaus Schumacher bemüht sich im Hamburger Schauspielhaus (mit der Textfassung von Koen Tachelet) allzu zaghaft, die Kruste an jüdischem Brauchtum und moralischer Altbackenheit abzutragen.

Schicksalsschlagdramaturgie

Überzeugend, aber erwartbar sitzt Michael Prelle als der stoisch nach innen leidende Familienvater auf einem Stoß aus Holzbrettern, verkörpert mit Haut und Haar das Klischee des gottergebenen jüdischen Trauerkloßes, das natürlich niemals die Beschissenheit seines Lebens zugeben würde.

Sein jüngster Sohn Menuchim (Martin Wißner) liegt zuckend vor ihm, keiner weiß, was mit dem "Krüppel" und seinen epileptischen Anfällen anzufangen ist. Dies ist der erste Schicksalsstreich und der nächste folgt sogleich: Die beiden anderen Söhne werden zum Militär eingezogen – wobei einer immerhin in die USA desertieren kann. Und schließlich lässt sich Tochter Mirjam auch noch im Kornfeld mit den Kosaken ein. Um der Schande zu entfliehen, wandert die Familie Singer dem Sohn hinterher in die USA aus, der dort inzwischen zu Reichtum gekommen ist. Allerdings darf der behinderte Menuchim nicht in die Staaten einreisen und wird also zurückgelassen.

Da ist einerseits viel Muff enthalten, der die eigentlich generalisierbaren Fragen des Mendel Singers verschleiert: Versuche ich mein Leben möglichst so hinzunehmen, wie es kommt, und mich darin einzurichten – oder kämpfe ich gegen den Lauf der Dinge und versuche, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, jedoch mit der Gefahr, unter dem verlustreichen Kampf kaputtzugehen? Die Frage nach der (ja fast fanatischen) Religiosität hingegen, ob man trotz allen Unglücks noch brav zu Gott zu beten kann, wird heute der Interessenten wahrscheinlich ungleich weniger finden.

Gläserne Füße statt Psychologie

Doch auch auf das psychologische Kammerspiel lässt sich Schumacher nicht ein. "Hiob" ist ja auch die Geschichte einer in die Jahre gekommen Ehe, über das Verbleichen der Attraktivität des "Fleisches" des Partners. Wie sie selber auch, so findet Mendel immer weniger Gefallen an den Falten und Hängebusen seiner Frau Deborah (Marlen Diekhoff). Beide verbindet bald nur noch eine funktionelle Partnerschaft, in der Mendel erst nach dem Tod seiner Frau wieder Liebe entdeckt.

Und erst die Kinder! Ihre Psychen sind wahre Haifischbecken voller Aggressionen gegen den andersartigen, Aufmerksamkeit erregenden Bruder, voller verbotener sexueller Begierde, voller Lust auf unsittliches, "unjüdisches" Leben. Schließlich Mendel, den die Fragen zerfressen, was er hätte vielleicht verhindern können, der zweifelt, schwächelt, ohne es sich selbst erlauben zu wollen.

Bei Schumacher scheinen die Figuren aber allesamt wie auf gläsernen Füßen erbaut, seltsam biografielos in die Zeit geworfen. Emotionale Schlüsselmomente werden wie Leerstellen mal beistehend narrativ beschrieben, mal bildhaft umgesetzt; im letzten Moment gleiten einem die Charaktere doch wieder durch die Hände. Der riesige, drehbare Hügel im Bühnenzentrum (Bühne: Katrin Plötzky) ist zwar immer wieder Grundlage für einige poetische Bilder, die aber in der generellen Unentschiedenheit gleich wieder verwischen. Einzig Tobias Vethakes tolle Bühnenmusik aus geloopten perkussiven Cello-Sounds bietet im zweiten Teil noch einen Rahmen für die oft zackig abgehakten Szenenreihungen.

Anders als der biblische Hiob kann Mendel Singer seinen Gottesglauben nicht mehr durchhalten, als fast alle Familienmitglieder tot oder verrückt sind. Natürlich passiert ausgerechnet dann das Wunder, das so lange hat auf sich warten lassen. Und dann wird es auch in der Hamburger Zwitterfassung zwischen Psychologie und Bildertheater versöhnlich: Mit einem wunderbaren Abschieds-Liedchen vom Familienorchester Singer.

 

Hiob
nach dem Roman von Joseph Roth für die Bühne bearbeitet von Koen Tachelet
Regie: Klaus Schumacher, Bühne: Katrin Plötzky, Kostüm: Heide Kastler, Musik: Tobias Vethake, Dramaturgie: Stephanie Lubbe.
Mit: Marlen Diekhoff, Stefan Haschke, Julia Nachtmann, Michael Prelle, Stephan Schad, Erik Schäffler, Martin Wißner.

www.schauspielhaus.de

 

Mehr Inszenierungen von Hiob: Im April 2008 inszenierte Johan Simons in den Münchner Kammerspielen zum ersten Mal Koen Tachelets Bühnenfassung nach den Roman von Joseph Roth.

 

Kritikenrundschau

Die Schauspieler hielten im Hamburger "Hiob" "mal Distanz zu den Figuren, identifizieren sich dann wieder mit ihnen", schreibt Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (21.11.2011). "Doch verzichten sie auf die Darstellung der jüdischen Lebenswelt, rücken die Geschichte aus der Ferne nahe an unsere Umbruchszeit und erzählen berührend humorvoll von Generationskonflikt und Auswandererschicksal, von Umbruchszeiten und unverhofftem Glück in der Verzweiflung." Michael Prelle zeige den Hiob "als Patriarchen ohne Kaftan und Kippa", er spiele "eindringlich Singers Wandlung zum einsamen wie einsichtigen Menschen und sich überzeugend ins Zentrum von Klaus Schumachers bilderbogenhaft klarer Inszenierung."

In einer Doppelbesprechung mit Der Raub der Sabinerinnen am Thalia Theater verbucht Ulrich Weinzierl für die Welt (22.11.2011) diesen "Hiob"-Abend als "ästhetische Kapitulation vor dem Text": Wie Klaus Schumacher den "in einem bezaubernd einfachen Märchenton" gehaltenen Romanklassiker von Joseph Roth "vor Augen und Ohren führt, wäre ein triftiges Argument gegen jegliche Dramatisierung". Die Inszenierung sei "so bieder wie uninspiriert, das Allerweltsbühnenbild mit drehbarem Hügel vor Rundhorizont hat wahrscheinlich symbolische Bedeutung, markiert jedoch allein Ödnis und – auch innere – Leere."

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