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Alle träumen von der Freiheit

von Caren Pfeil

Dresden, 19. November 2011. Wie spielt man mit siebenundzwanzig glaubwürdig einen 14-Jährigen? Man lässt ihn sprechen wie den Maik aus Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick", der dafür den diesjährigen Deutschen Jugendbuchpreis erhielt. Die Geschichte birgt zwar viel Reflexion und stimmungsvolle Bilder, aber wenig Dramatik in sich, so dass man nicht sofort darauf kommen würde, sie auf die Bühne zu bringen. Dennoch ist Dresden zwar das erste, aber nicht das einzige Haus, das den Roman zum Theater macht, es folgen Karlsruhe, Osnabrück, Potsdam, Berlin, Nürnberg …

Was ist das Geheimnis? Sagt uns da einer, wie die junge Generation tickt oder wie wir sie uns wünschen und dabei mehr die eigenen Sehnsüchte meinen, die wir damals nicht ausgelebt haben, als wir noch "Tom Sawyer" lasen oder Salingers "Fänger im Roggen"? Als die erste Rezension des Buches erschien, die sich nicht auf Letzeren bezog, hat der Autor einen Kasten Bier ausgegeben. Nun muss er sich erneut den Vergleichen stellen, aber inzwischen ist es ihm vielleicht egal. Herrndorf hat genau beobachtet und sich gut erinnert, er weiß, welche Fragen man stellt, wenn man noch wenig weiß, aber immerhin schon ahnt, was man nicht will.

Die Schöpfung eines Sommers

Das Unwiderstehliche seiner beiden Helden besteht auch darin, dass sie benennen, was sie sehen, ohne zu verurteilen. Es sei denn, es handelt sich um "Endbescheuerte", um wenigstens eine der schönen Wortschöpfungen Herrendorfs zu zitieren. Der Autor hat die Sprache, die er für seine Figuren findet, so genau abgeklopft nach allem, was darin zu viel, zu schwammig, zu angepasst ist, das es per se schon Theatersprache ist: gestisch und entlarvend. Figuren entstehen nicht durch das, was, sondern wie sie es sagen. Ihre Sprache ist ihr Kostüm, mit dem sie sich zeigen und hinter dem sie sich verbergen.

Chefdramaturg Robert Koall musste für die Theaterfassung aus der Fülle der Geschichten "nur" auswählen, ohne in die Sprache des Buches wesentlich einzugreifen. So bestimmen die leicht ironischen Reflexionen des Haupthelden Maik über sich und sein Leben auch die Struktur und den Erzählton der Inszenierung. Benjamin Pauquet nutzt die leise Selbstironie der Figur, um in vorsichtiger Distanz zu ihr zu bleiben. Er spielt, als blicke er auf sich selbst vor reichlich zehn Jahren, und die Melancholie dabei scheint echt zu sein. Schließlich leben die beiden Jungs den Traum von Freiheit, den mancher ein Leben lang träumt, in ihrer einwöchigen Reise sehr real aus.

Sonderlinge im geklauten Auto ohne Ziel

Sebastian Wendelin spielt den Tschick als einen zu früh alt gewordenen Sonderling, sodass er fast alterslos wirkt. Einmal Außenseiter, immer Außenseiter, Fremder, Asozialer, Krimineller, der schon mit vierzehn betrunken in die Schule kommt. Er spielt diesen Minimafiosi, als hätte der gar keine Kindheit gehabt in dem rauen Milieu, in dem er aufgewachsen ist. Umso berührender sind die Momente, in denen er das Noch-Kind aufblitzen lässt, das die Freiheit unendlich genießt, mit einem geklauten Auto ohne Ziel auf dem Highway … ach nein, es ist ja nur die Autobahn zwischen Berlin und der Walachei, dem Ort, wo angeblich der Großvater wohnt und der für das Irgendwo im Nirgendwo steht.

Die Menschen, die die beiden Jungs auf ihrer Reise treffen, spiegeln zum Glück nicht ein ganzes Gesellschaftspanorama, sondern ordnen sich in ihrer Schrulligkeit oder Herzlichkeit dem Ziel der Reise zu: weg von der Ereignislosigkeit ihres Lebens zwischen Schule, Elternhaus und einer Clique, zu der sie sowieso nicht gehören. Anna-Katharina Muck und Holger Hübner spielen die verschiedenen Episodenfiguren und auch Maiks Eltern mit der nötigen Überzeichnung, die solche Figuren nun mal brauchen, und mit viel Spielfreude. Die Schauspielstudentin Lea Ruckpaul als das Mädchen Isa bietet den beiden Jungs sehr nachdrücklich Paroli durch ihr geradliniges und körperintensives Spiel, das alle Mädchenklischees Lügen straft.

Pointiert, verspielt, vital

Wunderbar pointierte Dialoge wie der über jüdische Zigeuner, oder das gemeinsame Philosophieren über einen Insektenstern, der nur dadurch existiert, dass sie ihn erfinden, sind Ruhepole im Rhythmus einer vitalen und an Spieleinfällen reichen Inszenierung, die dennoch den einen oder anderen kleinen Strich gebraucht hätte. Andererseits ist zu verstehen, wie schwer es sich trennt von verspielten Details und überhaupt von diesen beiden berückenden Glückssuchern.

Wohltuend schon im Buch ist die Abwesenheit von Moral, sieht man davon ab, dass der dekadenten Welt des Reichtums ihre soziale Kälte in Form einer kaputten Familie ganz kräftig um die Ohren gehauen wird, was aber wunderbar gebrochen wird durch die alkoholkranke Mutter Maiks, die ihm ein emotionaler Anker bleibt. Im Schlussbild klatschen Mutter und Sohn die ganze teure Einrichtung in den Pool, bevor sie sich selbst hinterher schmeißen. Auf dem Grunde des Wassers genießen sie mit angehaltenem Atem den kurzen Moment der Freiheit, bevor sie wieder auftauchen müssen in die Realität.

Tschick (UA)
von Wolfgang Herrndorf, Bühnenbearbeitung von Robert Koall
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüm: Cornelia Kahlert, Dramaturgie: Julia Weinreich.
Mit: Benjamin Pauquet, Sebastian Wendelin, Lea Ruckpaul, Anna-Katharina Muck, Holger Hübner.

www.staatsschauspiel-dresden.de


Mehr zum Regisseur Jan Gehler: Gehler hat Szenische Künste an der Universität Hildesheim studiert und wurde mit seiner Inszenierung von Thomas Freyers Separatisten zum Körber Studio Junge Regie 2007 nach Hamburg eingeladen.

 

Kritikenrundschau

Herrndorfs Roman sei von Robert Koall "zu einer linearen Erlebnisgeschichte gestrafft worden", meint Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (20.11.2011). "Das hat nichts Entscheidendes an Struktur und Gehalt des Romans geändert. Gegen die schludrige Lässigkeit, mit der an manchen Berliner Bühnen große Romane zu kleinen Theaterspielereien verarbeitet werden, hebt sich Koalls Dramatisierung wohltuend ab." Und Regisseur Jan Gehler präsentiere "Figuren, ohne deren Erlebnisse szenisch auszumalen oder gar realistisch zu bebildern." Das Ganze sei "ein bewegtes Präsentierstück, bei dem sich Erzählung und Schauspieler-Vorspiel-Szenen, die zugleich von spielerisch genauer Körperlichkeit und lakonischem Witz sind, wunderbar ineinanderfügen." Die Aufführung schaffe Seh- und Denkvergnügen.

Jan Gehler treffe "den Ton des Buchs sehr genau", schreibt Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (21.11.2011), wobei ihm die Bühnenfassung von Robert Koall helfe, der "inzwischen ein Experte für Dramatisierungen" sei. Benjamin Pauquet und Sebastian Wendelin fänden "in dieser kleinen Geschichte zur Hochform", sie spielten "alles so humorvoll und zärtlich, dass es nicht nur Jugendlichen im Publikum das Herz erwärmt. Diese Inszenierung versetzt einen wirklich zurück ins Früher: Als es nicht darum ging, möglichst viel voneinander zu erfahren, sondern darum, einfach Zeit verstreichen zu lassen." Der Roman erzähle von Sehnsucht, "ohne kitschig zu sein. Genau das schafft Jan Gehler mit seiner Inszenierung."

Die Bühnenfassung von "Tschick" biete eine "witzige, temporeiche, phantasievolle Wiederentdeckung der Jungend", schreibt Hystra Klunker in den Dresdner Neuesten Nachrichten (21.11.2011). Benjamin Pauquet und Sebastian Wendelin überzeugten "mit jugendlicher Frische und Witz ohne überflüssiges Teenie-Getue. Sie setzen die humorvolle, klare und poetische Prosasprache von Wolfgang Herrndorf in mitreißende Bühnenpräsenz um." Die Inszenierung sei eine "wunderbare Reise voller Geheimnisse, bitterer Wahrheiten und Spaß".

Anlässlich des Gastspiels der Inszenierung beim Festival "Radikal jung" in München würdigt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (28.4.2012) Herrndorfs Werk ("ein zauberhafter Roman", eine "Abenteuergeschichte, voller Wehmut und hinreißendem Humor"). Jan Gehler habe "den Roman ohne viel Schnickschnack" auf die Bühne gebracht. "Ein herrlich charmanter Abend mit charmanten Darstellern, unglaublich witzig, rasant, zwischen Erzählung und Darstellung federleicht pendelnd, eine duftende Erinnerung an die eigene Jugend."

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