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Amoklauf einer Pädagogin

von André Mumot

Braunschweig, 20. November 2011. Manchmal muss man auf den Wagen aufspringen, solange er noch richtig gut in Schwung ist. Wohl auch deshalb spielt das Staatstheater Braunschweig schon jetzt den durchschlagenden Theatererfolg der vergangenen Spielzeit nach, dessen Uraufführung noch in aller Munde ist. Eigentlich ist es ja sowieso kein Stück, sondern ein Phänomen, das alle Publikums- und Kritikernerven gleichzeitig in wohlwollende Wallung gebracht hat: "Verrücktes Blut", von Jens Hillje und Nurkan Erpulat geschrieben und von letzterem bei der Ruhrtriennale als Koproduktion mit dem Ballhaus Naunynstraße inszeniert, war jüngst in Mühlheim und beim Theatertreffen zu Gast, ist neben der Jelinekschen "Winterreise" von "Theater heute" zum deutschsprachigen Stück des Jahres gewählt worden – und darf jetzt, da die Hymnen noch nicht verklungen sind, zeigen, ob es auch in fremden Händen funktioniert.

Puberträre Selbstdarstellungsgesten

Dabei fällt vor allem eines sofort ins Auge: Die Zeitgeist- und Integrationsfarce mit den multiplen Böden ist nicht, wie bei Erpulat, mit Schauspielern besetzt, die einen eigenen Migrationshintergrund mitbringen. Aber schließlich haben die Autoren stets betont, dass es ihnen nicht um die Abbildung sozialer Realitäten geht, sondern um die Blicke von außen, um die öffentliche Wahrnehmung von Debatten und Klischees. Insofern ist die Verfremdung von Regisseurin Catja Baumann (für die wegen einer Erkrankung auf den letzten Probenmetern Nicolai Sykosch einsprang) ein sinnvoll und konsequent eingesetztes Mittel, das von Anfang an klar macht: Wir sind im Theater – und da bleiben wir auch.

So verlängert sich die Bestuhlung des Zuschauerraumes bis an die hinterste Bühnenwand, um der Deutschlehrerin (Martina Struppek) in ihrer Bedrängnis vorerst nur ein Minimum an Platz zu lassen. In den Zusatzreihen vor ihr fläzen sich nun jene Schauspieler, die eben noch sehr demonstrativ ihre Kostüme (Kopftücher, Sweat-Pants, Mützen und so weiter) angelegt und pubertäre Selbstdarstellungsgesten choreografisch zelebriert haben. Hier tun sie das, was man von einer Schulklasse aus Problembezirken so erwartet: Sie beleidigen, schlagen, fotografieren sich gegenseitig, sie kratzen sich im Schritt, diskriminieren den einzigen Kurden und hören vor allem nicht zu, wenn es um Schiller geht. Schon dieses Anfangschaos, in dem sich mancher Akzent anhört wie aus einem alten "Erkan und Stefan"-Programm, ist in seiner rüden Überdrehtheit ziemlich amüsant und wird mit dem folgenden Amoklauf der Pädagogin geradezu rasend komisch.

Lebensgierige Gesellschaftskritik

Ein so launig-durchgeknallter Pennäler-Pauker-Spaß scheint das zu sein, dass man irgendwann auf die Idee kommen könnte, Deutschland habe nach so vielen Jahrzehnten endlich seine zeitgemäße Feuerzangenbowle-Alternative gefunden: einen parodistisch-respektlosen Jux aus dem multikulturellen Bildungssystem des 21. Jahrhunderts. Aber "Verrücktes Blut" ist auch an diesem Premierenabend sehr viel mehr: Die Schüler sprengen die Sitzreihen auf, schleudern die Stühle von sich und erbauen eine Bühne, während die bewaffnete Lehrerin sie mit hinreißenden Regieanweisungen ("Schön in den Boden atmen!") dazu zwingt, deutschen Sturm und Drang zu spielen, dessen lebensgierige und gesellschaftsskeptische Ausbrüche so erstaunlich dicht dran sind an ihrer eigenen Lebensrealität.

Auch in Braunschweig bebt das Stück, und es verschiebt sich permanent die Tektonik seiner zahlreichen Schichten. Nicht nur wird der turbulente Gang der Handlung dadurch unterbrochen, dass das Ensemble im Lichtwechsel nach vorn tritt, Volkslieder singt und zynische Integrationsshows veranstaltet – vor allem bekommt jede Figur ihren eignen Schiller-Moment, in dem sie den Migrations-Akzent ablegen und großes Bühnenpathos als verklärte Ich-Findung erleben darf: So verwandelt sich Philipp Grimm vom homophoben Macho in eine hemmungslos weinende Luise Miller, und Theresa Langer von der verunsichert spröden Latifa in einen dominant auffahrenden Ferdinand.

Das soll nie aufhören!

Im Mittelpunkt aber wirbelt Martina Struppek funkenschlagend von einem Schüler-Spannungsherd zum nächsten. Die Knarre schwingt sie wie die Reclamheftchen, verzichtet größtenteils auf hysterisch lärmende Verzweiflung und feuert in der furiosen Dauererregung ihres Aufklärungswahns vor allem Sarkasmus und Witz ab, wechselt schnell zwischen Härte und Wärme und ist rührend in ihrem Scheitern.

Es ist ein meistens großartiger Abend, gerade weil die Schauspieler echte Komödienfiguren erschaffen, und die weltanschaulichen Sackgassen rund um Gewalt und Ehrenmord, um Kopftuch-Emanzipation und Gutmenschentum, um Demokratieverständnis und Idealismus durch die Leichtigkeit ihrer Präsentation echte Frustrationsgefühle erwecken. "Verrücktes Blut" ist klug genug, um schließlich zu unterstreichen, dass die Loslösung von den vorgeschriebenen Rollen, die Freiheit von den kulturellen Konflikten vorläufig nur auf dem Theater möglich sind. "Das soll nie aufhören", sagt der traurige Kurde Hasan (David Kosel) am Ende, als er die Waffe hat, die ihn zum Regisseur nicht nur seines eigenen Lebens machen kann.

Da draußen bleiben die Probleme ungelöst, die Debatten gehen weiter, hier aber wird gespielt. Zum Glück: Das Phänomen "Verrücktes Blut“ ist jetzt nämlich definitiv ein Stück.

 

Verrücktes Blut
von Nurkan Erpulat und Jens Hillje
frei nach Motiven des Films "Heute trage ich Rock“ von Jean-Paul Lilienfeld
Regie: Catja Baumann, Nicolai Sykosch, Bühne: Gwendolyn Bahr, Kostüme: Leah Lichtwitz, Musikalische Einrichtung: Burkhard Bauche, Choreographie: Sebastian Geiger, Dramaturgie: Charlotte Orti von Havranek.
Mit: Philipp Grimm, Nikolaij Janocha, David Kosel, Theresa Langer, Nientje Schwabe, Oliver Simon, Martina Struppek, Raphael Traub.

www.staatstheater-braunschweig.de



Kritikenrundschau

"Verrücktes Blut" werde von Catja Baumann ganz als die "Versuchsanordnung" ernst genommen, als die sich das Stück im Programmheft ausweist, schreibt Martin Jasper in der Braunschweiger Zeitung (21.11.2011). Dabei bleibe offen, ob der Versuch, mithilfe von Schiller-Texten zur ästhetischen Erziehung "bildungsferner Migrantenkinder" beizutragen, den "Sarazin-Diskurs" zur Förderung des klassischen deutschen Literaturguts unterstütze oder doch "die absurde Zuspitzung seiner nationalkulturellen Neurosen" sei. "Diese Offenheit macht die Qualität des Versuchs aus. Doch erweist er sich mit seinen zahlreichen Wendungen auch zunehmend als zähes Konstrukt"; es schimmere "viel gut gemeinte Pädagogik" durch. Lob erhalten die Darsteller, die sich "mit viel Verve auf die Typen" werfen würden, "die sie krass ausmalen, ohne sie zu denunzieren". Auch gebe es "Momente von Theater-Magie", wenn die Schüler in die Schiller-Rollen schlüpfen und "von Schiller berührt" werden.

Das, was die Regisseurin Catja Baumann mit dem Text über eine Deutschstunde unter Waffenzwang veranstaltet hat, nenne man in der Kunst Re-Enactment, urteilt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (26.11.2011). Auch mit jungen Stadttheaterschauspielern funktioniere "das quälende Ausmalen von Hauptschul-Temperamenten, die sich durch Machismus, Ghetto-Posen und Terror gegen Lehrer und Mitschüler hervortun, bis man sie brutal an ihrer Schwäche, ihren Ängsten, ihrer Scham packt, ganz ohne Peinlichkeit". Dennoch klingt auch so etwas wie Guttenberg-Schelte an, wenn Briegleb mit den Worten schließt: "Einen zeitgenössischen Begriff für diese Art der Werktreue gibt es jedenfalls schon länger, der heißt: copy and paste."

 

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