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Und das Wort ward nicht Fleisch

von Anne Peter

Berlin, 19. November 2011. "Am Anfang war das Wort". Mit dem biblischen Schöpfungsmythos wirft die Inszenierung gleich zu Beginn auch die Weltenschöpfungsmaschine Theater an. Vom Johannes-Evangelium geht es rasant mitten hinein ins gedankliche Zentrum des Kleist-Dramas, das hier aufgeführt wird: "Die Familie Schroffenstein", das schauerlich-krude, 1803 anonym veröffentlichte Debütstück jenes Autors, dem das Maxim Gorki Theater in seinem 200. Todesjahr mit einem 17-tägigen Kleistfestival huldigt.

Aus Wort wird Mord

"Am Anfang war – das Wort", stammelt Johann Jürgens. "Nenn' mir das eine Wort, das du gehört", drängt Ronald Kukulies. Und bald schon drängeln alle vier Mitspieler auf den armen Zeugen ein. Aber wie sollte er auf dem tummeligen Marktplatz denn genau gehört haben, was der Gefolterte, des Auftragsmordes am jüngsten Sohn von Rupert Schroffenstein bezichtigt, im Todeskampf von sich gab? So reimt sich Rupert, alias Kukulies, das Wort flugs selbst zusammen: "Sylvester", der Name des verhassten Vetters. Dessen Sippe hat man ja sowieso schon auf dem Kieker, eines Erbvertrag wegen, der beim Aussterben des einen Stamms dessen gesamten Besitz dem jeweils anderen zuschlägt.

Mit diesem Beginn setzt Antù Romero Nunes, der 28jährige Gorki-Hausregisseur, seine unter zwei Stunden bleibende Inszenierung auf eine klare Spur. Er spitzt Kleist sogar noch zu, indem er selbst dies eine Wort, das die ganze blutige Familienfehde ins Rollen bringt, in Ungeduld und Vorverurteilung bloß heraufmutmaßen lässt. Am Ende der Romeo-und-Julia-Variante werden die sich liebenden Kinder der beiden verfeindeten Häuser jeweils vom eigenen Vater hingemeuchelt.

Leergefegte Bühne

Die Sprache ist in diesem Drama des Misstrauens nicht vermittelndes, sondern verwirrendes, entzweiendes Element – das Wort, der Sündenfall. Nunes macht diesen Aspekt nicht nur thematisch zum roten Faden seines Abends, indem die Schauspieler die zahlreichen Textverweise auf das Sprechen betonen, ausstellen, wiederholen. Er erhebt es auch zum Regie-Prinzip, indem er auf nahezu leergefegten Bühne alles zwischen Schloss und Gebirgshöhle aus den Worten aufsteigen lässt. Dazu nur die nötigsten Requisiten – Krone, Helm, Heroldhut –, verschiedene Lichtstimmungen, ein bisschen Nebel, ein bisschen Feuer und ein Soundtrack, für den Johannes Hofmann Motive aus Beethovens Schicksalssymphonie gesampelt hat.

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"Die Familie Schroffenstein" fällt voll aus dem Rahmen. © Bettina Stöß

Einziges Bühnenelement ist Stéphane Laimés großer Metallrahmen mit grau-samtenem Vorhang, im Einsatz bereits vor zwei Wochen bei Jan Bosses Käthchen, der als Theater-auf-dem-Theater-Motiv manch nette Selbstreflexions-Spielerei erlaubt. Und wenn die Scheidewand sich um 180° dreht, bringt das treffend jene Spiegelbildlichkeit der familiären Umstände auf den Punkt. Beiden starb ein Kind, beide haben einander im Mordverdacht, beiden wurde ein Bote umgebracht, auf beiden Seiten befeuern falsche Geständnisse den Rachedurst. Insofern ist auch Nunes' zweite Grundidee stimmig, die Väter mit Ronald Kukulies, die Mütter mit Hilke Altefrohne doppelt zu besetzen. Das betont die Generationenkluft stärker als die Differenz der Familien, die vielmehr als die zwei Seiten einer Medaille erscheinen, auf denen Leid wie Schuld gleich verteilt sind.

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Sensibling und Selbstbewusste: Paul Schröder und Julischka Eichel. © Bettina Stöß

Neckerin und Sensibling

Die Schauspieler trotzen den Kleist-Versen erstaunliche Eingängigkeit und allerlei originelle Betonungsvolten ab. Julischka Eichel widersteht dem kitschig-püppchenhaften Weißkurzkleidchen, in das Tabea Braun sie gesteckt hat, und stellt ihre Agnes frech fordernd und selbstbewusst neckend dem bloß engelhaft lieben Mädel entgegen. Paul Schröder, frisch aus dem DT-Ensemble herübergewechselt, spielt seinen Ottokar als verwuschelten Sensibling, dem das Seidentuch der Geliebten allemal besser steht als markige Rittersworte. Beide sind sie wie Kinder noch, die sich – "bssst" – per Zeigefinger elektrisieren und nach vollbrachter Verlobung abklatschen.

Es gibt sie, solche locker-leichten Impro-Ideen, die Nunes Spezialität sind. Aber sie kommen viel vereinzelter, weniger triftig daher als sonst. Und wo Kleist seinen Erstling mit drastischen Bluttaten zum Splatter aufgebläht hat, belässt Nunes die Gewaltszenen ganz im Zeichenhaften, verzichtet weitgehend auf Kunstblut und Co. Das Kopfkino funktioniert allerdings nur bedingt; atmosphärisch ist von Schrecken kaum etwas zu spüren. Schwer zu sagen, warum. Vielleicht weil alles eben immer überdeutlich bloß Spiel, Behauptung, ein Nichts aus Worten und zudem noch mit komischen Brüchen durchsetzt ist? Das ihm sonst so oft glückende Heraufbeschwören bleibt diesmal eher abstraktes Herbeigerede, das nicht hinreicht, seinen Gegenstand zu evozieren. Dadurch aber büßt gerade Nunes' zentrale Wort-wird-Tat-Stoßrichtung ihre Dringlichkeit ein.

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Ein Ronald Kukulies als zwei Schroffensteine.
© Bettina Stöß

Stockende Weltenschöpfungsmaschine

Welchem dieser Schlossbewohner traute man schon einen Dolchstich zu? Am wenigsten wohl dem Bodenständigkeitsexperten Kukulies, der die Doppelrolle Rupert/Sylvester im schluffigen Morgenmantelkostüm zu meistern hat. Das Bedrohliche, Gefährliche ist seine Sache nicht – wenn dieser Sylvester foltert, beißt er dem Opfer in den Finger und entschuldigt sich auch noch. Für das Grafen-Doppel, das anfangs noch gegensätzlich angelegt ist und sich dann, je stärker die Zweifel bei dem einen, die Rachegedanken bei dem anderen aufkeimen, immer ähnlicher wird, bis sie über den Leichen ihrer Kinder zu Spiegelbildern des jeweils anderen werden, bedürfte es – um diesen Prozess zu erspielen – wohl auch eher eines Verwandlungsvirtuosen als eines Typ-Spielers wie Kukulies.

Das Bestechende vieler früherer Nunes-Inszenierungen – sei es sein Diplom-Geisterseher, der Frankfurter Peer Gynt, oder sein letzter Gorki-Streich Rocco und seine Brüder – war gerade das Paradox, dass sie nie ihre Mittel, die Gemachtheit des Theaters verhüllten, ja Improvisationsmomente, Hinzureflektiertes und Aus-der-Rolle-Faller en masse produzierten, und den Zuschauer doch, trotz allem, immer wieder für Momente verführten, das Erspielte fraglos als eigene Welt anzuerkennen, in der gefühlt, gelitten, geliebt wird. Doch dieser beglückende Zauber, mit dem die geglaubte Wahrhaftigkeit plötzlich in die gewusste Illusion hineinbricht, mag sich hier nur selten einstellen. Die Weltenschöpfungsmaschine knirscht und stockt. Das Wort ward nicht Fleisch.

 

Die Familie Schroffenstein
von Heinrich von Kleist
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Tabea Braun, Musik: Johannes Hofmann, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Ronald Kukulies, Hilke Altefrohne, Paul Schröder, Julischka Eichel, Johann Jürgens.

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Mit dem Stück habe Antú Romero Nunes "sichtlich zu kämpfen", meint Christine Wahl im Tagesspiegel (21.11.2011). "Kleists komplexe Scheins- und Seins-Dialektik umfasst weit mehr als die vergleichsweise beliebig einsetzbare (...) Show in der Show", die Stéphane Laimés Bühnenbild suggeriert, das Nunes "zu einer Art Symmetrieachse zwischen den (...) bewusst spiegelbildlich konstruierten Familien umzuwidmen" versuche. Sein konzeptioneller Grundgedanke, beide Grafen-Paare vom selben Darsteller-Duo spielen zu lassen, sei "als szenische Verschärfung der Kleist’schen Dialektik an-, aber nicht präzise zu Ende gedacht" und erweise sich "in der Praxis schon deshalb als verengende Krux", weil Kukulies und Altefrohne "die symmetrische Bezogenheit beider Familien aufeinander als schauspielerische Gleichförmigkeit missverstehen". Ebenso bleibe Kukulies’ "Switching vom hohen Kleist-Darsteller zum Durchschnittstypen von nebenan (...) im Beliebigkeitsdunkel". Auch weitere Doppel- und Mehrfachbesetzungen "scheinen endgültig nur noch einem einzigen diffusen Verblendungszusammenhang zu gehorchen". Der drohe "Kleists dialektisches Konstrukt in einen Allgemeinplatz aufzulösen" und schnüre ihm überdies "die dramatische Luft ab". Nunes nehme viele Kleist-Fäden auf, verheddere sich in ihnen allerdings "so sehr, dass man am Ende nicht so recht weiß, was er nun eigentlich aus den Schroffensteins herausgelesen hat".

Wenn Nunes in einem Meister sei, "dann im Anzetteln von Textbefragungen", schreibt Elmar Krekeler in der Welt (21.11.2011). Seine "Nachnutzung" der "Käthchen"-Bühne habe "ihre Berechtigung, schließlich sind beides Ritterstücke" – wobei das Rittertum bei ihm noch mehr Staffage sei als bei Jan Bosse: "Plaste-Krone", "Prinzessinnen-Krönchen aus dem Supermarkt" und ein Helm mit Diskokugel-Vergangenheit. Die Schroffensteiner trauten sich selbst nicht mehr, anderen auch nicht, und "erst recht nicht dem Text, den sie (im Übrigen ziemlich gut) sprechen. Er ist größer als sie, er passt ihnen nicht." Schon bei Kleist seien die Ehepaare "Zerr-, Hohlspiegelungen des jeweils anderen", was Nunes durch die Doppelbesetzung nun auf die Spitze treibe. "Eine manchmal überdrehte, immer aber lebendige Textchoreografie": "Einer sagt was, es wird geglaubt. Oder gerade nicht. (...) Alles, was gesprochen wird, ist vergiftet. (...) Niemand ist mehr authentisch. Nicht mit dem, was er spricht, nicht mit dem, was er ist, besser: von dem er meint, dass er es sei." Kleists Stück sei – zumindest an diesem Abend – "ein erschütternd aktuelles Stück".

Bei Nunes falle die Versöhnung aus, so Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau / Berliner Zeitung (21.11.2011), am Ende stünden die Hinterbliebenen "stumm vor dieser Konsequenz ihres Tuns. Lauter Zerrissene, mit sich selbst Unversöhnte, also Unglückliche." Der "Regieentschluss", beide Elternpaare in zwei Figuren zusammenziehen, erhöhe den "Zerrissenheitsgrad" dieser Figuren noch, verführe Altefrohne und Kukulies aber auch "zu einem Doppelfigurenspiel" ohne Nuancen und Zwischentöne. Nunes’ "sonst so wunderbare Kunst", seine Spieler "zu darstellerischen Frei- und interpretatorischen Feinheiten zu verführen", gehe weitgehend verloren. Außer bei Eichel und Schröder: "Bei ihnen ist alles klar und scharf und deshalb voller genauester Widersprüche". In jeder Szene sei bei Nunes "als Unterton ein Zweifel an Kleist, am Stück versteckt: Wozu diese künstliche Verknotung der Story? Was soll dieses Ineinanderschachteln von Konflikten, wenn es doch auch alles ganz einfach ist? Das überzeugt mich nicht! Leute!, ruft diese Inszenierung (...), da ist nichts Verqueres, Verknotetes, nichts raunend Seelenfremdes. (...) Es spricht ja aus jedem Vers und jedem seiner Briefe ein Mensch, der wollte, was alle wollen: glücklich sein."

Nunes habe Kleists Stück zwar in Umfang und Besetzung "verschlankt", allerdings nicht unbedingt auf kurzweilige Art, findet Andrea Gerk vom Deutschlandradio (Fazit, 19.11.2011). Feind und Freund verschmelzen durch die Mehrfachbesetzungen, nur "die Liebenden bleiben sich selbst gleich". Die Kostüme wirkten wie "billige Glitzerfummel", allesamt wie "eine billige Wandertheatertruppe". Es gebe zwar ein paar "schöne Ideen" um zentrale Kleist-Aspekte herum, es bleibe aber bei relativ flachen Einfällen, ohne Ambivalenz und Vielschichtigkeit – für Gerk insgesamt "ein maues Tischfeuerwerk".

Sehr prinzipiell und reflektiert setze sich Nunes mit Kleist auseinander und mache es sich dabei nicht leicht, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (22.11.2011). Er traue "dem Gerassel der Ritterrüstungen nicht, mit dem Kleist in 'Schroffenstein' die zeitgenössische Mode der Ritterstücke gleichzeitig zu imitieren und zu parodieren scheint". Die Eltern seien mit Altefrohne und "einem schön selbstironischen" Kukulies "identisch besetzt - die Feinde spiegeln sich bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander". In der "spröden Inszenierung" gehe es um Missverständnisse, Worte als Waffen und scheiternde Kommunikation: "Theater als angewandte Sprechakttheorie". Das werde allerdings "etwas zu deutlich ausgestellt".

Nunes entdecke in dem Stück "viele Parallelen zur Lebensgeschichte des Dichters", was für Katrin Bettina Müller von der taz (22.11.2011) allerdings "einen etwas zu schicksalhaften Beigeschmack" habe. Davon jedoch abgesehen gelinge ihm vieles: z.B. "einen sprachphilosophischen Akzent zu setzen". Die Doppelbesetzung zeige, "wie Feindschaft aus Projektionen entsteht". Sie sei zudem "symbolisch einleuchtend, auch wenn man sich dadurch gelegentlich in den Fäden der Handlung verheddert". Wie Nunes die beiden jungen Liebenden "über die Schatten ihrer Familien springen lässt", gehöre zu den wenigen Momenten dieser Inszenierung, "die ohne doppelten Boden funktionieren, berauschend einfach und ungekünstelt scheinen".

Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.11.2011): Nunes setze "bevorzugt auf Strukturen, Muster, Wortkomplexe statt auf Figuren und Szenen". Die häufige Wiederholung von Sätzen reflektiere einerseits "Kleists sprachkritische Positionen", wirke andererseits "arg pädagogisch". Doch trotz des "gelegentlich eingestreuten Allotrias", sei der Aufführung "ein beherzter Hang zur Ernsthaftigkeit anzumerken". Obwohl die Besetzung "denkbar zusammengestrichen" sei, skizziere Nunes die Konflikte nicht bloß, sondern "versteht es, sie in ihren intellektuellen wie emotionalen Verwerfungen sinnlich spürbar zu machen". Seine Inszenierung scheue vor "Gefühlen, Beklemmungen, Widersprüchen, mancherlei Pathos" nicht zurück. "Überhaupt" versuche er "zumindest", sich "dem Dichter zu stellen" – anders als zahlreiche von dessen Bewunderern, "die zu Kleist halten, ohne ihn eigentlich auszuhalten".

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