Reitender Bote dringlich erwartet

von Wolfgang Behrens

Berlin, 8. November 2007. "Die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten", heißt es am Ende der "Dreigroschenoper", was soviel meint wie: Der rettende deus ex machina naht vielleicht in der Oper, kaum aber in der Wirklichkeit. Die Berliner Volksbühne allerdings wartet nun schon seit geraumer Zeit auf einen reitenden Boten, den sie doch auch so dringend brauchte – wähnt sie sich doch in der Krise (dazu siehe hier) oder lässt sich zumindest in derselben wähnen. Nicht in der Oper soll jedoch diesmal die Rettung kommen, sondern durch die Oper: Wo bloße Worte nicht genügen, hilft vielleicht der Gesang.

Spektakel mit sieben Kurzopern

Die "Meistersinger" stehen schon auf dem Programm, andere schwere Kaliber wie "Tosca" sollen noch kommen. Den eigentlich programmatischen Auftakt aber bildet jetzt ein Bündel von sieben Kurzopern aus der Zeit der Weimarer Republik, die im ganzen Haus verteilt (und jeweils nur in Auswahl) zu besichtigen sind.

Der Hausherr Frank Castorf selbst inszenierte auf der Hinterbühne jene fabel-, oder besser fibelhafte Schuloper "Der Jasager" von Brecht und Weill, in der einem Jungen die Entscheidung über seinen eigenen Tod zugemutet wird. Er hat sich aus freien Stücken einer anstrengenden Hilfsexpedition zur Rettung seiner verseuchten Heimatstadt (und insbesondere seiner kranken Mutter) angeschlossen, erleidet nun aber einen Schwächeanfall, der die ganze Unternehmung gefährdet. Soll man ihn zurücklassen und töten, oder soll man um des Einzelnen willen umkehren und die Reise scheitern lassen? Im "Jasager" entscheidet sich der Junge für das Wohl der Allgemeinheit und gegen sein eigenes Leben, im "Neinsager" hat Brecht dies später revidiert, hier wird die Expedition abgebrochen.

Charmante Fingerübung

Für Castorf ist das kleine Werk eine Fingerübung, der er sich souverän und nicht ohne Charme entledigt. Vor einem heruntergekommenen Western-Revue-Schuppen ("Salon Gier – Dreams for Sale" steht auf ihm geschrieben, Bert Neumann, wer sonst?, hat ihn gebaut) spielt Bernhard Schütz den die Handlung vorantreibenden Lehrer mit wütendem Ernst: Pathetisch-dringlich presst er seine Worte heraus, blickt finsteren Auges in die immer präsente Handkamera, deren Bild auf der Seitenwand projiziert wird, und rennt und rennt, als gälte es sein Leben.

Diesem – man möchte sagen: ironischerweise – ironiefreien Rollenbild sind vor allem die beiden Sängerinnen (Anna Kratky, Ruth Rosenfeld) entgegengesetzt, die, in Abendkleidern vor dem seitlich stehenden Flügel platziert, die Geschehnisse kommentieren: Wenn sie nebenbei eine Flasche Sekt köpfen, ist ihre Haltung zu dem revolutionären Spiel hinreichend klar: "Geht uns nichts mehr an!" Worin dann wohl auch Castorfs Gesellschaftsdiagnose zu suchen ist. Nach 45 Minuten ist der Spuk vorbei.

Munter regnen Gummihendl

Auf der Hauptbühne sind dann Castorfiaden zu sehen: Die jungen Regisseure Michael von zur Mühlen und Thorsten Cölle haben in hälftiger Arbeitsteilung vier Kurzopern von Karl Amadeus Hartmann aus den Jahren 1928–30 und dazu noch einige Szenen aus Thornton Wilders "Wir sind noch einmal davongekommen" zu einem undurchsichtigen Gebräu angerührt. Die mangelnden inhaltlichen Handreichungen (denn, Hand aufs Herz, wer kennt schon Kurzopern von Karl Amadeus Hartmann?) lassen den Zuschauer weitgehend im Dunkeln tappen, um was es überhaupt geht. Nur der vorbildhafte Stil des Meisters Castorf ist allgegenwärtig und legt sich mit lähmender Munterkeit auf die Szene, auf die es zum Höhepunkt hunderte von Gummihendln regnet.

Mit solchen Stilkopien kommt die Volksbühne wohl kaum vom Fleck, am frischesten wirkt hier die zwischen parodistischem Neoklassizismus und Jazzklängen angesiedelte Musik Hartmanns.

Wozzeck im Tonstudio

Da spielt der ebenfalls noch sehr junge Regisseur David Marton in einer anderen Liga: Er bringt den Mut zur eigenen Handschrift mit. Und er hat sich im 3. Stock an die vielleicht wichtigste Oper des 20. Jahrhunderts gewagt, an Alban Bergs "Wozzeck". Bergs Musik ist für Marton jedoch nur der Ausgangspunkt für eine Fantasie aus Stimmungen und Sounds: Standmikrofone und ein großes Fenster zu einem rückwärtigen, ansonsten hinter einer Aluminiumfolien-Wand verborgenen Raum sorgen für die Atmosphäre eines Radio- oder Aufnahmestudios; hier sitzt der Musiker-Schauspieler Sir Henry wahlweise am Laptop oder am Klavier und überzieht die "Wozzeck"-Musik mit Samples, kontrastiert sie mit Salonnummern oder lässt sie zu Liegeklängen gefrieren.

Könnertum ins Leere

Stichwörter aus der nur sehr vage und äußerlich nachgestellten "Wozzeck"-Handlung dienen zum Anlass, eine je neue Stimmung zu bauen, was nicht zuletzt durch die Unterstützung der unglaublichen Yelena Kuljic gelingt. Diese Frau hat eine ganze Welt in der Kehle: von der verraucht-verruchten Altstimme bis zum girrenden Zwitschern steht ihr fast alles zu Gebote; elektronische Stimmverfremdung tut ihr Übriges. Und auch der Schauspieler Max Hopp, der als Wozzeck agiert, bietet eine immerhin noch erstaunliche Bandbreite an Baritonfarben an. Das alles ist sehr, sehr gekonnt: Marton versteht es, Atmosphären zu schaffen. Doch es bleibt auch ein Können ohne Auftrag, denn eine tatsächliche Reibung am Inhalt des "Wozzeck" findet zu keiner Zeit statt. Das Ganze ist selbstgenügsam wie eine Revue am Friedrichstadtpalast; den Leuten aber gefällt’s.

Die Neuerfindung der Volksbühne aus dem Geiste der Musik ist an diesem Abend wohl noch nicht geglückt. Es bleibt dabei: Die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten.

 

OPERNZEIT – ZEITOPERN

Der Jasager / Der Neinsager
von Bertolt Brecht und Kurt Weill
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Musik: Reinhold Friedel, Video: Andreas Deinert. Mit: Brigitte Cuvelier, Bernhard Schütz, Maximilian Speck und Axel Wandtke, Anna Kratky, Ruth Rosenfeld.

Wachsfigurenkabinett Teil I:
Der Mann der vom Tode auferstand / Chaplin-Ford-Trott / Wir sind noch einmal davongekommen
von Karl Amadeus Hartmann/Thornton Wilder
Musikalische Leitung: Timo Kreuser, Regie: Michael von zur Mühlen, Bühne und Kostüme: Inga Timm, Justyna Jaszczuk.

Wachsfigurenkabinett Teil II:
Für-wahr...!? / Die Witwe von Ephesus
von Karl Amadeus Hartmann
Musikalische Leitung: Timo Kreuser, Regie: Thorsten Cölle,
Bühne und Kostüme: Joki Tewes.

Wozzeck
nach Alban Berg/Georg Büchner
Regie: David Marton, Bühne und Kostüme: Caroline Rössle Harper, Raum: Bert Neumann. Mit: Max Hopp, Sir Henry und Jelena Kuljic.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Für Ulrich Seidler (Berliner Zeitung, 10.11.) schließt sich eine halbe Stunde vor Mitternacht ein Kreis: Der "zarte Kraftschauspieler Max Hopp" philosophiert als Wozzeck über den Gedankenstrich zwischen Ja und Nein – und mit derlei Nachdenken habe der Abend bei Castorfs "Jasager / Neinsager" auch begonnen. Eine runde Sache dieser Abend also: "Mangel an Kraft, Lust und Risiko ist der Volksbühne bei ihrem Neuanfang als vierte Oper in der Hauptstadt jedenfalls nicht zu attestieren: Der Panzerkreuzer bewegt sich". Die "Wozzeck"-Bearbeitung sei "große Oper, Herzfresskunst", Castorf suche die "von echten Tönen unangetastete Theaterwahrheit". Dazwischen versinke der Zuschauer im "Sumpf der Zusammenhanglosigkeit": Die Kurzopern von Karl Amadeus Hartmann stiften nichts als "Verwirrung". Das "Erlebnis des Kreisschlusses" habe sich dennoch gelohnt.

Eva Behrendt (taz, 10.11.) denkt in ihrem Artikel viel über die Situation der Volksbühne und Castorf nach, "den man so langsam getrost als Altmeister bezeichnen kann". Von einem Neuanfang hat sie allerdings nicht viel gesehen. Sondern: "deftig linke Kost". Früher hätten solch "kleinteilige Abende" oft "Happening-Charakter" gehabt, "hier aber herrscht gedämpfte Beerdigungsatmosphäre". Den jungen Regisseure der Hartmann-Opern bescheinigt sie "harmlose Trash-Ästhetik". Aber Martons "Wozzeck"-Fassung hat auch sie als "intelligenten Lichtblick" erlebt. Die "Operngefühle" schwappten in die "Bühnenwirklichkeit und münden in einen grandios pathetischen Liebesmord ohne Tote". "Vielleicht fängt Castorf ja jetzt doch noch mit der Nachwuchsförderung an", schreibt Behrendt, und meint damit den zu fördernden David Marton.

Kommentare  
Opern in der Volksbühne: sterbenslangweilige Fingerübungen!
Finde die Kritik etwas zu milde. Mit Ausnahme von Castorfs Stück habe ich selten eine solche Ansammlung von uninspirierten, dümmlichen und sterbenslangweiligen Regie-Fingerübungen gesehen...
Volksbühne goes Stadttheater Plauen
Das ganze Ding war einfach nur unangenehm und peinlich. Wer nicht schon bei der Vorankündigung ein ganz mulmiges Gefühl hatte (ich meine, allein schon dieser Titel - OPERNZEIT - ZEITOPERN - ist ja ein hochwirksames Schlafmittel!!! arbeitet sich die Volksbühne jetzt am westdeutschen Theater der 80er ab?), bekam es spätestens beim Betreten der Volksbühne, in der an diesem Abend so ein ganz unangenehmer gymnasiastischer Wind wehte. Volksbühne goes Stadttheater Plauen oder Cottbus oder Paderborn oder was auch immer, und zwar am Tag der offenen Tür.
Opern in der Volksbühne: unterirdisch, außer Wozzeck
was herrn castorf betrifft - der hat sich sicher ganz gut aus der affäre gezogen, mehr allerdings auch nicht - PREMIERE stimmt nicht ganz, das wurde wohl eher zur premiere - mangels anderer inhalte -erklärt - jasager und neinsager waren schon in der vergangenen spielzeit in der volksbühne zu sehen. wozzeck im dritten stock ist sicherlich das interessanteste des abends - ansonsten: so etwas unterirdisches habe ich bis jetzt seit castorfs intendanz nicht mehr in der volksbühne gesehen. wenn das der neue anfang sein sollte, ist es das ende.
Keine Krise an der Volksbühne, sondern das Ende
Von Krise kann bei der Volksbühne nicht mehr die Rede sein. Das ist das Ende. Die neue künstlerische Leiterin Gabriele Gysi scheint der Volksbühne den Todesstoß zu versetzen. Traurig traurig...
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