Drahtzieher, Puppenspieler

von Georg Kasch

München, 8. November 2007. Was für ein Theater! Da inszeniert Prospero einen Sturm, um auf seiner öden Insel nicht nur Geister, sondern auch Neapolitaner auftreten zu lassen. Für seinen Diener Ariel erfindet er fantastische Kostüme, ordnet an, an welchen Handlungsorten die Geretteten ausgesetzt werden sollen, schreibt den Geistern detailliert ihren Text vor, arrangiert Zusammenkünfte und Romanzen. Prospero ist Autor, Regisseur und Akteur wie weiland William Shakespeare. Und wozu das Ganze?

Um seinen angestammten Platz als Herzog von Mailand wieder einzunehmen, den ihm sein hinterfotziger Bruder Antonio einst raubte. Aber auch, um eine gute Performance zu liefern. Sein Epilog bringt es auf den Punkt: "Wenn nicht des Beifalls Wind meine Segel bläht, war all mein Streben vergebens, Euch zu gefallen."

Die Bühne: ein aufgeschlagenes Buch

Davor hatte er genügend Gelegenheit zu zeigen, wer Herr der Bühne ist, die Barbara Ehnes als offenes Buch gestaltet hat, in dem jede Doppelseite einen neuen Schauplatz markiert. Im Anfang war das Wort, und so gestaltet Prospero diese (Schein-)Welt: mit pädagogischem Impetus und Zaubersprüchen. Regisseur Stefan Pucher macht in seiner "Sturm"-Version an den Münchner Kammerspielen deutlich, wem das ganze Spektakel gilt: dem Publikum.

Shakespeare kannte keine Vierte Wand. Aber er kannte das Theater, und so hat der Dramatiker und Theaterwissenschaftler Jens Roselt in seiner sehr heutigen Übersetzung besonders den performativen Begriffen und Konstellationen nachgespürt. Nicht nur Hildegard Schmahls Prospero gebärdet sich in seinem dandyhaften Tigerkopfsessel als großer Regisseur und Erzähler ad spectatores; ein Humanist, der mal mit nach innen gewendetem Groll, mal mit rätselhaftem Lächeln die Fäden in der Hand hält.

Wolfgang Preglers Ariel, zunächst mit weißem Haar und schwarzem Gewand ein Ebenbild seines Herrn, der sich von Prospero den Kopf kraulen lässt, versichert den Zuschauern sein Talent. Zum Beweis verwandelt er sich mit Silberpumps und Strassslip in eine schillernde Nixe, mit schwarzem Tüll und tiefem Ausschnitt in eine Königin der Nacht. Pampig stapft er so über die Tafel Alonsos und spuckt den hohen Herren ins Obst.

Ihr habt ja alle zuviel Zeit!

Eine Publikumsbeschimpfung skandiert das Komikerduo Trinculo und Stephano zu Beginn seines zweiten Auftritts: "Ihr habt ja alle zu viel Zeit, sonst wärt ihr heute Abend nicht hier. Wir müssen unseren Arsch hinhalten, damit die Knete stimmt." Stefan Merki und Bernd Moss wirken wie das britische Künstlerpaar Gilbert und George: Im Dreiteiler, aufrecht, mit versteinerten Mienen servieren sie ihre Pointen trocken und treffsicher. Thomas Schmausers Caliban indessen spielt mit vollem Körpereinsatz. Er heult und spuckt wie ein verzogenes Kind, zerdehnt oder verschlampt die Wörter bis zur Unkenntlichkeit und schmettert absurd-wüste Flüche ins Publikum.

Doch nicht nur die Komiker-Szenen blitzen vor Ironie. Gelangweilt wie Leonce und Lena wirken die High-Society-Jugendlichen Ferdinand und Miranda, Wachs in den Händen des Regisseurs Prospero. In Annabelle Witts opulentem 70er-Glamour übt Katharina Schubert das Verführungsgestenrepertoire, lüpft das Kleid, schmachtet mit dem Blick. Oliver Mallison schwingt unter seiner roten Langhaarperücke große Reden und ist nach dem Spalten eines Holzscheits k.o. Als er sich schließlich anschickt, Miranda zu küssen, sagt sie: "Ach, das ist albern", und so halten sie sich nur strahlend bei den Händen.

Reichtum und Armut: abgeschafft

Neben Prospero wird von Pucher auch Peter Brombachers Ratsherr Gonzalo ein völlig ungebrochener Auftritt zugestanden. Vorne an der Rampe erklärt er zunehmend selbstsicher sein Gesellschaftsideal, eine Mischung aus Rousseau und Marx: "Reichtum, Armut und Dienstleistungen: abgeschafft. Verträge, Erbschaften, Grundeigentum: nichts davon. Die Natur wäre stark genug, um auf ihre Weise alles in Hülle und Fülle hervorzubringen, was mein unschuldiges Volk ernähren kann."

Mit John Lennons Aussteiger-Hymne "Watching The Wheels", erhält Brombacher das vorletzte Wort. Das letzte hat natürlich Prospero – nach zwei knappen Stunden. Erstaunlich, wie reich, mit wie vielen Bezügen, Anspielungen, Ideen Pucher die ganze "Sturm"-Geschichte in derart kurzer Zeit erzählt. Je länger der Abend dauert, desto weniger kann man sich satt sehen, so lustvoll zeigen der Regisseur, sein Team und das Kammerspiele-Ensemble, dass die Welt eine Bühne und die Bühne die Welt ist. Wahrlich: Was für ein Theater!

Der Sturm
von William Shakespeare
Deutsch von Jens Roselt in einer Bearbeitung von Stefan Pucher
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Marcel Blatti, Video: Chris Kondek. Mit: Hildegard Schmahl, Wolfgang Pregler, Katharina Schubert, Oliver Mallison, Walter Hess, Jörg Witte, René Dumont, Peter Brombacher, Thomas Schmauser, Stefan Merki, Bernd Moss, Joy Maria Bai, Annika Olbrich, Julia Schmelzle.

www.muenchner-kammerspiele.de

Kritikenrundschau

"Die Szenerien, die das Bühnenbild von Barbara Ehnes einzeln aufblättert, zeigen flache Hintergrundbilder, vor denen die Schauspieler wie in Kinder-Popup-Büchern agieren.", meint Jeanette Neustadt (Die Welt, 14.11.2007) Pucher, der "Pop-Regisseur", führe dabei "die Zweidimensionalität auf der Ebene der Figuren äußerst humorig, aber etwas emotionslos weiter." Und "die Frage nach dem Fremden, der diese Spielzeit an den Kammerspielen München gewidmet ist, verschwindet freilich unter dieser Inszenierung. Sie darf gar nicht erst gestellt werden."

Das Premierenpublikum war begeistert. Aber der Münchner Merkur (10.11.2007) will nicht mitjubeln, weil das für ihn hieße, die Ansprüche auf Amüsiermass herunterzuschrauben. "Nur weil die Handlung durch eine bunte Videowelt bebildert und interpretiert wird oder marthalerhafte Komikerszenen die Zuschauer zum Lachen bringen, ist das noch lange nicht eine Inszenierung auf der Höhe der Zeit. Der Regisseur hat sich mit der Oberfläche große Mühe gegeben, mit der weltumspannenden Dimension des Werks hat er es sich zu einfach gemacht", wird hier zu Protokoll gegeben. Puchers Blick auf Stück und Figuren bleibe so ausschnitthaft, wie das "meist nur im spitzen Winkel aufgeklappte Bühnenbilderbuch." Darin sei wohl Platz für allerlei Gags, von denen die Hofstaat-Darsteller auch reichlich Gebrauch machen würden, aber kaum für die Fantasie des Zuschauers.

Etwas ganz anderes, nämlich "zwei kurze, aber reiche Stunden" hat Christine Dössel erlebt (Süddeutschen Zeitung 10.11.), die Shakespeares Stück neu beatmet fand. Nicht nur durch Jens Roselts, "eigens auf Puchers flink zappenden Inszenierungsstil zugespitzte" Neuübersetzung, den grandiosen Kino-Bildermix des Videokünstlers Chris Kondek oder Barbara Ehnes als ein aufgeschlagenes, hochkant stehendes Buch gestaltetes Bühnenbild. Auch den Schauspielern liegt sie fast durchweg zu Füssen, Hildegard Schmahls Prospero zum Beispiel. Stefan Merki und Bernd Moss sind als Komikerduo Trinculo und Stephano für Dössel sogar "die schrägsten Spaßvögel, die das Theater seit langem gesehen hat. Insgesamt feiert sie die Aufführung, weil darin Ironie, Melancholie und Poesie "einen zauberischen, absurd komischen Dreiklang ergeben, sprühend vor Wahn und Witz."

Auch Peter Michalzik geht in der Frankfurter Rundschau (10.11.2007) vor "Pucher (nicht Pocher)" auf die Knie: "Pucher, der für die Abgründe im Spiel, im Glanz und in der Größe, in der Anmaßung und im Wahn unserer Zeit schon immer ein weit offenes Ohr hatte, erzählt den "Sturm" jetzt als Zaubermärchen. Er erzählt ihn als Komödie. Und er findet in seinem Innersten die Ernüchterung. Das ist alles nicht neu, das alles trifft das Stück im Kern, und doch sieht es seit dieser Aufführung so aus, als hätten wir es noch nie gesehen." Mit seiner "reichen, überreichen Aufführung" bringe dieser Regisseur nun "das, was man lange Poptheater genannt hat, zu sich selbst und zu Shakespeare."

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.11.2007) lässt Teresa Grenzmann die Sektkorken knallen. Stefan Puchers Inszenierung räume auf mit Humanistenträumen und utopischen Entwürfen, male sie "entweder zu Albträumen oder zu Barbiepuppenschäumen aus. Mindestens einmal fällt hier jeder aus seiner Rolle. Auch der Theaterillusionsbruch passt schließlich ins Pucher-Konzept. Denn nach und nach schürt und zerstört sich in diesem "Sturm" Illusion um Illusion: etwa die altmodischen Liebesschwüre zwischen Miranda und Ferdinand, die Katharina Schubert mit verklemmtem Verführungsblinzeln und Oliver Mallison mit schwächelnden Machoversuchen erst in bonbonfarbene Seifenblasen kleiden und dann doch plötzlich ernsthaft beenden." So falle Puchers Parodie "manchmal jäh und tief" in shakespearesches Pathos.

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