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Die ewige Probe

von Martin Pesl

Wien, 4. Dezember 2011. Es ist zwar keine öffentliche Probe mehr, trotzdem schickt sich Direktor und Regisseur Hartmann selbst auf die Bühne im Burgtheater-Kasino. Auch jetzt noch beteuert er, wie unfertig dieser reine Versuch, an Tolstois "Krieg und Frieden" heranzukommen, sei. Dann erläutert er die Bühne: Auf die Rückwand des länglichen Raumes projizierte Aufnahmen eines Modells mit kleinen Puppen auf Miniaturen von Johannes Schütz' grauen Tischen und Stühlen werden Menschenmassen markieren. Zudem werde die Nummer der Romanseite, der der jeweilige Text entstammt, im oberen rechten Eck zu lesen sein. Auch die ersten Worte der Handlung spricht der Chef selbst: "Im Oktober 1805 ..."

Gedoppelter Detailreichtum

Gegenüber den "Proben", an denen Hartmann ab April 2010 zum normalen Verkaufspreis Zuschauer teilhaben ließ, dürfte sich kaum Grundlegendes geändert haben, außer dass Gundars Āboliņš die Rolle des Pierre von Udo Samel übernommen hat und statt Mareike Sedl nun Adina Vetter spielt. Nach einer letzten (nichtöffentlichen) Probenwoche verspricht Hartmann: "Es wird keine Proben mehr geben." Das Experiment, für das er immerhin mit dem Nestroy-Spezialpreis ausgezeichnet wurde, ist vorbei.

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© Georg Soulek

Dafür hat man im ersten von drei Teilen den Eindruck, der Probenprozess könne noch nicht allzu weit vorangeschritten sein. Während die 15 Schauspieler nicht nur Dialoge, sondern auch Tolstois beschreibende Narration aussprechen, nehmen sie jede einzelne Geste textlich vorweg, deuten auf jedes erwähnte Kleidungsstück und jede körperliche Erscheinung ("Er war mittelgroß") mit der Hand. Diese enervierende Inflation der Dopplungen hätte in eineinhalb Jahren Proben ausgemerzt werden können. Freilich, was an Tolstois Roman bewundert wurde und wird, sind Realismus und Detailreichtum, mit denen der auktoriale Erzähler den russischen Adel 1805 bis 1812 zu schildern vermochte. Eine psychologisch näher betrachtete Hauptfigur oder Haupthandlung gibt es dort nicht. Stattdessen verfolgt Tolstoj ziemlich gleichberechtigt vor allem drei Familien und ihr Treiben im Zarenrussland: Soireen, Empfänge, Schlachten – Äußerlichkeiten also.

1000 von 1600 Seiten

Aber dann: Nach Pause eins (von zwei) kommt es zu einer wundersamen Verdichtung, die drei der viereinhalb Stunden durchaus genießbar macht. Die Schauspieler wechseln seltener die Rollen, es entfalten sich Szenen mit nachvollziehbaren zwischenmenschlichen Konflikten, die oft eben dadurch Witz und Spannung erhalten, dass die Erzählzeit wesentlich länger ist als die erzählte Zeit, also etwa ausführlich berichtet wird, wie der schöne Anatol die hässliche Marja (famos: Oliver Masucci und Sabine Haupt) in eitler Selbstverliebtheit anschweigt.

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© Georg Soulek

In reibungslosem, durch Livemusikuntermalung (Karsten Riedel, Wolfgang Schlögl) unterstütztem Rythmus verlieben, duellieren, enthalten sich Pierre, Natascha, Andrej, Nikolai und zahllose mehr, betrügen, erziehen und vernachlässigen einander. Innerhalb eines starken Ensembles finden einige Mitglieder zu ungeahnten Höhen, vor allem Stefanie Dvorak als laszive Schönheit Hélène oder Fabian Krüger als knallharter Dolochow und als das gesamte Ensemble einer Opernaufführung, auf die eigentlich keiner achtet. Prosaisch bleiben alle an der Oberfläche: Der Autor hat schon genau beobachtet, wie eine Person dreinblickt oder welches Lachen sie aus welcher Taktik heraus an den Tag legt, der Schauspieler muss es nur noch lustvoll erzählen.

Nichtsdestotrotz: Wenn nach vier Stunden wieder Matthias Hartmann auftritt, auf die eingeblendete Seitenzahl (etwas über 1000 von 1600) deutet und meint, weiter sei man nicht gekommen, aber das Publikum wolle sicher wissen, was aus den Figuren geworden sei, dann hat er damit absolut Recht. So erzählen sie dann noch ihr jeweiliges Schicksal zu Ende, an der langen Tafel sitzend, wie wohl einst bei der ersten Leseprobe.

Was ist schon perfekt?

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© Georg Soulek

Hartmanns Abend – trotz seines Skizzencharakters wohl der am genauesten gearbeitete, konsequenteste und somit beste seiner bisherigen Intendanz in Wien – ist natürlich keineswegs neuartig: Das dicke Buch als diffusen Ausgangspunkt und den illusionsraubenden Auftritt des Regisseurs kennt er von Nicolas Stemann, die Souffleuse auf der Bühne von René Pollesch. Doch was Hartmann hier zelebriert: die Fragilität des Inszenierens, das lustvolle Spielen als Daseinsberechtigung von alldem und die allmähliche Verdichtung im Entstehungsprozess, das macht sein Vorhaben sympathisch. "Was ist je perfekt?", fragt er uns damit verschmitzt und schulterzuckend. Auch wenn die Premiere nun vorüber ist, es zählt weiterhin das Abtasten und Ausprobieren.

So ein ausufernder Tolstoi eignet sich dazu hervorragend, wenngleich für diese Botschaft zugegebenermaßen nicht Tolstojs Geschichte allein hätte herangezogen werden können. "In der Pause gibt es Piroggen", entlarvt sich Hartmann in seiner Einstiegsrede. "Wir wollten es doch wenigstens ein bisschen russisch."

 

Krieg und Frieden
nach Leo Tolstoi
Fassung für das Burgtheater von Amely Joana Haag unter Verwendung der Übersetzung von Werner Bergengruen
Regie: Matthias Hartmann, Raum und Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Karsten Riedel, Wolfgang Schlögl, Licht: Peter Bandl, Video: Moritz Grewenig, Hamid Reza Tavakoli, Harald Trittner, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Elisabeth Augustin, Monika Brusenbauch, Stefanie Dvorak, Sabine Haupt, Yohanna Schwertfeger, Adina Vetter, Gundars Āboliņš, Franz Csencsits, Sven Dolinski, Ignaz Kirchner, Peter Knaack, Fabian Krüger, Oliver Masucci, Rudolf Melichar, Moritz Vierboom, Musiker: Karsten Riedel, Wolfgang Schlögl.

www.burgtheater.at



Ein russisches Romangebirge, mit eingestreuten Kommentaren, erklomm jüngst auch Alvis Hermanis an der Berliner Schaubühne, nämlich Puschkins Eugen Onegin – der allerdings kaum zwei Stunden dauerte. In seiner Mammuthaftigkeit ähnelt Hartmanns "Krieg und Frieden"-Erarbeitung eher Nicolas Stemanns achtstündigem Faust I & II-Projekt oder dessen Kontrakten des Kaufmanns, die ebenfalls beide vorab in einer öffentlichen Probe präsentiert und in denen Verse bzw. Seiten heruntergezählt wurden. Und wir besprachen natürlich Hartmanns öffentliche Probe von Krieg und Frieden an der Burg im April 2010.

 

Kritikenrundschau

Matthias Hartmann wagt den Versuch einer knapp fünfstündigen Teildramatisierung, die vor dem brennenden Moskau endet, mit nur fünfzehn Schauspielern, inklusive Souffleuse, die als Babuschka auf der Bühne sitzt. Und zwei Jahre Arbeit waren dafür dann doch genug, so Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (6.12.2011), "denn der Abend läuft perfekt. Obwohl es nicht leicht ist, über fünf Stunden spannend zu bleiben - Hartmann ist es gelungen. Ein meisterliches Spektakel." Sein Tolstoi-Ensemble erzähle einfach von den Figuren und Geschichten des Romans, deutet sie zum Teil spielerisch an oder führt sie auf. "So behalten sie sich einerseits ein bisschen Distanz, wie der Autor und selbst Bondartschuk, oder gehen in die Vollen wie die Hollywoodschauspieler. Schon dieser stete Wechsel, verbunden mit den Verkleidungen der Schauspieler, hält die Inszenierung am Laufen." Fazit: Hartmann ist ein großer Wurf gelungen, "er formuliert sich damit als Regisseur des großen Spektakels neu. Die Form verlangt keine Erforschung der Seelen. Man sieht die Menschheit in action. Ein spannender und schrecklicher Anblick."

"Ganz Russland passt auf diese Bühne. Vom seltenen Glück eines dramatisierten und eigentlich nicht für die Bühne gedachten Romans" ist auch der Text vom angetanen Dirk Schümer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.12.2011) überschrieben. Erst dachte sich der Rezensent, "das kann ja heiter werden." Doch es komme anders. "Hat sich das Personal der größenwahnsinnigen Geschichte erst mal sortiert, wird es unerwartet innig." Und indem sie die bösen Kommentare des Romanciers über ihre Schwächen, ihre Ticks, ihre Begierden und Hoffnungen gleich mitsprechen oder im Stakkato aufs Ensemble verteilen, setzen sich die vermeintlichen Helden selbst in Anführungszeichen, werden dadurch erst menschlich.

Sofort habe einen die Inszenierung am Schlafittchen, schreibt Ronald Pohl im Standard (6.12.2011). Denn Hartmann kokettiere auf geradezu erpresserische Weise mit den Mitteln des "armen Theaters". Die Inszenierung verquicke zwei bedeutende Vorzüge miteinander, ohne Tolstois Panorama-Malerei jemals unter Wert zu verkaufen: Sie bediene sich zum einen des Verfremdungseffekts, "zum anderen setzt Hartmann hemmungslos auf die Kolportage, von der Tolstois Schwarte förmlich überquillt". Kaum genug loben könne man, so Pohl, auch die Schauspieler, "Stefanie Dvorak (als schöne Gesellschaftslöwin Hélène Kuragin), Oliver Masucci (als Anatol) oder Fabian Krüger (als Haudegen Dolochow). Sie alle springen auf die Tische wie auf Präsentierteller und strahlen mit den an die Wand projizierten Zinnsoldaten um die Wette."

"Je aussichtsloser ein Projekt von vornherein erscheint, desto größer die Chance des Gelingens - weil dadurch ungewöhnliche Kräfte mobilisiert werden", lobt auch Ulrich Weinzierl in der Welt (6.12.2011), und was Matthias Hartmann binnen knapp 240 Minuten zeige, ist mehr als gut. „Es ist glänzend, seine weitaus beste Regiearbeit seit Amtsantritt in Wien, zählt zu den künstlerischen Höhepunkten seiner Karriere.“

"Seit April des Vorjahres hat es zu diesem Projekt immer wieder öffentliche Proben gegeben", die Arbeit habe sich gelohnt, so auch Norbert Mayer in der Presse (6.12.2011). "Man bekommt eine der besten Roman-Dramatisierungen zu sehen, ein Highlight der Saison." Mit einfachsten Mitteln werde ein Panorama der Schlachten und Gesellschaften von 1805 bis 1812 entworfen. "Graue Stühle und Sessel werden zum Laufsteg, dienen auch als Waffen, eröffnen Landschaften und Prunkräume." Aber die zierliche Opulenz bilde nur den Rahmen, den Hintergrund. "Was die Dramatisierung hinreißend macht, ist die Wandlungsfähigkeit des Ensembles, ihr intensives Durchwalken des riesigen Stoffes."

In der Zeit (8.12.2011) schreibt Andrea Heinz: Lew Tolstojs "Krieg und Frieden" auf die Bühne zu bringen sei "ohnehin indiskutabel". Das gehöre sich nicht.  Doch von der "Bedeutungsschwere des Stoffes", bei dem es schlicht um alles gehe, wollten Regisseur und Ensemble nichts wissen. Es sei der "sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan", und Parallelen zur Gegenwart "nicht zu übersehen". Bisweilen lasse Hartmann seine Darsteller "koksen und Party-Fotos schießen", zumeist aber verharre das Ensemble in einer "zeitlosen Fantasie-Schwebe". Oliver Masucci gebe "mit fettem Grinsen, mit einer fast indiskret und obszön wirkenden körperlichen Präsenz" Anatol Kuragin. Ignaz Kirchner rausche als "Grantscherben von Fürst Bolkonskij wie ein Rumpelstilzchen über die Bühne". Fabian Krüger gebe "mit vollem Einsatz nicht nur den Dolochow, sondern auch einen Baum und den Mond in der Opernaufführung". Allesamt seien sie "großartig" die Schauspieler. Der Text werde nicht allzu ernst genommen, "vielmehr als Material, mit dem man spielen kann". Mit einem anderen Text wäre das zu einer "seichten und wenig ergiebigen Aufführung geworden". Doch es zeige sich, der Text sei unzerstörbar und gehöre außerdem "wenn überhaupt, nur so auf die Bühne".



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