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Ruf ins Dunkel der Netzgesellschaft

von Georg Kasch

6. Dezember 2011. Manipulation! Betrug! Autoritäre Köpfe, wohin das Auge blicket!, rufen die KommenatorInnen auf nachtkritik.de. Das Hamburger Thalia Theater, das vor einigen Wochen sein Publikum dazu aufrief, über den halben Spielplan der nächsten Spielzeit abzustimmen, trete die Netzdemokratie mit Füßen! Denn dem Aufruf folgten ein ungeahnter Hype um unbekannte Stücktitel, missverständliche Posts auf Thalias Facebook-Seite und offene Lobbyarbeit einiger Autoren. Hätte sich das das Thalia nicht denken können?, fragt der Postdramatiker auf seinem Blog. Die Häme ist groß, noch größer das Misstrauen: Steht das Abendland auf dem Spiel, gar die Demokratie?

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© Thalia Theater

Im Gegenteil. Das Hamburger Thalia, eine von Deutschlands renommiertesten Bühnen, hat etwas versucht, was auch in der Stadttheaterdebatte explizit gefordert wurde: Zuschauerpartizipation. Und zwar nicht nur vom treuen Abopublikum, sondern von allen, überall. Immerhin muss man bei der Abstimmung über vier Positionen des kommenden Spielplans (die drei erst platzierten plus ein Titel aus allen genannten) Namen und Adresse angeben, so dass Mehrfachvoten einigermaßen unwahrscheinlich werden (bzw. mit einigem Aufwand verbunden sind). Der Rest ist ein Rufen in den großen dunklen Wald der Netzgesellschaft (natürlich kann man auch per Post oder persönlich abstimmen) – ohne zu wissen, wie es von dort wieder herausschallt.

Schwarmintelligenz nicht garantiert

Das ist auch auf nachtkritik.de nicht anders. Auch wir haben unsere Erfahrungen mit der Netzgesellschaft gemacht. Von dort weht ein rauer Wind: Manipulationen lassen sich nie ausschließen. Und dass nun – nur zum Beispiel – aus den putzigen Flashmobs punktuell neuerdings auch Flashrobs werden (das meint Leute, die sich über Facebook zum Massenklauen verabreden, weil dagegen jeder Supermarkt machtlos ist), zeigt auch ziemlich deutlich, dass Schwärme im Netz nicht zwangsläufig auch die sprichwörtliche Schwarmintelligenz oder gar einen allgemeinen Nutzen produzieren.

War die Thalia-Öffnung Richtung Netzöffentlichkeit also blauäugig? "Nein", sagt Dramaturg Carl Hegemann, "wir wollten keine repräsentative Wahl, sondern Überraschungen." Schon in der ersten Pressemitteilung stehe ja, dass "dem Zufall Tür und Tor geöffnet" werde. Man wollte der Welt den Spiegel vorhalten, und siehe da: "Natürlich gibt's unter den Wählern Absprachen, Lobbyismus, Manipulationsversuche. Das ist in der parlamentarischen Demokratie nicht anders, trotz der Sicherungsinstanzen, die die haben."

Offensive der Lobbyisten?

Oder hapert's vielleicht nur an der Uneindeutigkeit der Sprache, in der der Partizipationsaufruf ans Publikum verfasst ist? Folgender Satz von der Thalia-Homepage lässt sich lesen, wie er ins jeweilige Weltbild passt: "Wir sind aber so optimistisch, anzunehmen, dass auch Internet-Wähler nicht alle bescheuert sind. Dass eine Mehrheit sich für ein Stück entscheiden könnte, das nicht mal eine Minderheit sehen will, ist ein absurder Gedanke."

Heißt das nun: Das Thalia wird alles dafür tun, dass es kein schlechtes Stück an die Spitze schafft, wie die Verschwörungstheoretiker vermuten? Oder will Hegemann damit sagen, dass auch die von Lobbys gepushten Stücke nicht ganz verkehrt sein können, weil schließlich niemand einen Text wählen würde, den er schlecht oder komplett misslungen findet? So jedenfalls erläutert Hegemann selbst seinen Aufruf im Gespräch mit nachtkritik.de. Dass dies so sei, sehe man doch auch daran, dass es im Zuge dieser Aktion auch Initiativen für einzelne Stücke über Facebook und das Internet gebe, es davon aber trotzdem nur wenige ins Thalia-Ranking schaffen.

Und diese Initiativen gingen garantiert nicht vom Thalia-Theater aus. Das bestätigt auch Annika Stadler, die die Facebook-Seite des Theaters betreut. Sie ist einigermaßen überrascht, dass die Ironie der Postings aus der Dramaturgieetage nur bedingt verstanden wird. "Wer sich über Jens Nielsens Stück 'Die Erbsenfrau' aufregt, kann sich doch mit seinen Freunden und der Familie zusammenschließen, um einen Gegenoffensive à la T. Halia Wilder starten. Zur Rettung des guten (gutbürgerlichen?) Geschmacks", heißt es etwa in einer Antwort auf einen User-Post. Auch sei die Fan-Page "Friedrich T. Halia Wilder", die zur Wahl von Stücken von "Marivaux, Wilder und Dürrenmatt" aufruft, kein Kind der Dramaturgie, sondern offensichtlich von theaternahen und -interessierten Bürgern gegründet worden. Was die Verdächtigungen gegen den aktuellen Kampnagel-Newsletter betrifft: Ich als regelmäßiger Leser (gerade weil sie immer so unglaublich subjektiv und respektlos sind, zu "Luxy" besonders) kann bestätigen, dass die schon immer so klangen.

"Freuen Sie sich nicht zu früh!"

Wirklich gar keine Manipulation, nicht mal Gelüste? Gegen eine Einmischung des Thalia sprechen jedenfalls die Zahlen: Bislang haben erst gute 1000 Leute abgestimmt – allein die Thalia-Facebook-Seite hat über 7000 Freunde. Außerdem behauptet Hegemann stoisch, die bisherigen Top-Plätze zu mögen: "Ich finde 'Peers Heimkehr' zum Beispiel eine richtig gute Idee, mit der wir uns in der Dramaturgie wahrscheinlich auch ohne die Abstimmung auseinandergesetzt hätten", behauptet Hegemann. Auch für die 'Erbsenfrau' oder 'Jack the Ripper' hat er angeblich ein Herz.

Egal, ob das nun Schönrednerei ist oder aufrichtiges Interesse: Erheblich ist diese Wahl im postdramatischen Zeitalter ohnehin nur bedingt. Schließlich steht die Art der Umsetzung nicht zur Wahl. "Freuen Sie sich nicht zu früh!", warnt auch das Thalia Theater (ironisch): "Die Umsetzung auf der Bühne bestimmen immer noch die Künstler unter Ausschöpfung der im Grundgesetz garantierten Kunstfreiheit." Was also Luk Perceval zum Beispiel aus dem "Jack the Ripper"-Musical machen würde, stehe auf einem vollkommen anderen Blatt.

Sammelbecken der Verschwörungstheoretiker

Interessant auch: Das Netz ist nicht so leicht einschätzbar, gerade weil es transparent erscheint, es aber nicht ist. Auch das Thalia Theater hat das inzwischen begriffen und will bis zum Wahlschluss am 16. Dezember keine neuen Zwischenergebnisse veröffentlichen (nur noch einmal, am 9.12.), damit es für Kampagnen-Führer mit Manipulationsabsichten schwerer wird, potenzielle Sieger abzuschätzen, um ihre Kampagnen danach auszurichten. Ein normaler Vorgang, findet Hegemann: "Was mich ärgert, sind die Verschwörungstheorien, das Nicht-Verstehen-Wollen, die fürchterlichen Verdächtigungen. Warum werden die jahrelangen Frotzeleien zwischen Thalia und Kampnagel jetzt plötzlich ernstgenommen?"

Weil das (anonyme) Netz von Anfang an ein Becken für Verschwörungstheoretiker war? Weil das Neue immer umstritten ist? Weil das Reden im Internet ein besonderer Balance-Akt ist? Wer spricht hier überhaupt? Spricht überhaupt jemand?

Vielleicht gibt es aus der ganzen aufkochenden Diskussion nur eine Lehre: Ironie im Netz unter Smiley-Verzicht? Funktioniert nicht.

 

nachtkritik.de kann mittlerweile auf über viereinhalb Jahre Kommentarpraxis zurückblicken. Im Februar 2011 etwa beleuchtete Nikolaus Merck in einem Vortrag für den Deutschen Bühnenverein, wie die Kommentare mit einer sich verändernden Öffentlichkeit zusammenhängen.

 

Presseschau

Für das Hamburger Abendblatt (12.12.2011) hat Armgard Seegers mit Joachim Lux und Carl Hegemann gesprochen. "Sollten nicht eigentlich Fachleute darüber entscheiden, welche Stücke in einem der größten und bedeutendsten deutschen Theater gezeigt werden? (...) Schmeißt sich das Thalia-Theater jetzt an die Zuschauer ran und vergisst dabei, auf Qualität zu achten?", fragt Seegers. Zwischen Kunst und Demokratie herrsche schließlich "eine prinzipielle Unvereinbarkeit, Gerechtigkeit in der Kunst gibt es nicht".

Hegemann erläutert ihr gegenüber noch mal die Intention: "Wir wollen wissen, ob die Menschen das Gleiche wählen, was die Statistik des deutschen Bühnenvereins als die beliebtesten Stücke auflistet. Wir imitieren eine demokratische Wahl." Die Kunst lebe auch "vom Risiko und der Bereitschaft, sich selbst überraschen zu lassen". Wenn nun etwas herauskomme, "das uns nicht passt, dann müssen wir versuchen, für uns und das Publikum das Beste daraus zu machen." Und Lux fügt hinzu: "Vom Theater wird behauptet, es stecke in der Krise. Insbesondere sei es elitär und brauche mehr Publikumsakzeptanz und -mitwirkung." Bei diesem "Experiment" sei "die Möglichkeit zum Scheitern inbegriffen".

Allerdings müsse er als Intendant "auch die übergeordneten Interessen des Betriebs bedenken. Wenn also die Grundvoraussetzungen nicht stimmen sollten, dann muss ich Schaden abwenden." Es gehe schließlich "um eine Publikumswahl am Thalia (...) und nicht an einer Klitsche", da gebe es Parameter, "das Niveau des Theaters wie auch seine ökonomischen Notwendigkeiten" betreffend. Dem Thalia könne niemand vorschreiben, was es aus den gewählten Stücken mache, so Hegemann. "Falls der absurde Fall eintreten sollte, dass die Mehrheit ein völlig blödes Stück wählen würde (was ich bis jetzt nicht sehe), könnte man zum Beispiel so ein Stück auf fünf Minuten zusammenstreichen und als Vorprogramm zu einer anderen Inszenierung aufführen. Wir werden jedenfalls keine Steuergelder für Schwachsinn verschwenden." Eines der in der Publikumsgunst weit oben stehenden, unbekannten Stücke hat Hegemann immerhin schon gelesen: "Es haben schon Regisseure aus schlechteren Vorlagen gute Inszenierungen gemacht."

Hegemann glaubt nicht, "dass die Zuschauer so dumm sind, auf die ersten Plätze nur absoluten Schrott zu wählen. Sonst müsste man ja das Vertrauen in die Demokratie komplett verlieren." "Demokratie und Manipulation" ließen sich "nicht immer fein säuberlich trennen. Ohne Facebook gibt's auch Absprachen. Demokratie erzeugt kuriose Ergebnisse." Und warum sollte jemand – fragt Lux –, der als Bürger alle vier Jahre wählen gehe und über Dinge abstimme, "von denen er häufig nicht viel versteht, die aber sein Leben möglicherweise noch mehr beeinflussen als das Theater", nicht auch den Spielplan des Theaters mitbestimmen. Das Ganze diene, so Hegemann, nicht nur der Auseinandersetzung mit dem Theater, sondern auch "mit den Merkwürdigkeiten der Demokratie", entwickle sich allmählich allerdings, so Joachim Lux, "mehr zu einem internetgestützten Happening mit zig Abstrusitäten, angeführt von unseren Freunden, den Spaßvögeln von Kampnagel".

Friederike Gräff von der taz-Nord (13.12.2011) findet es schwierig, sich auf die Sache einen Reim zu machen. Intendant Joachim Lux hat ihr gegenüber bekräftigt, dass es sich nicht um ein "Marketinginstrument" handele, sondern man herausfinden wolle, was die Zuschauer gern sehen würden. "Zuschauerbindung und Mitbestimmung, also eben jene Partizipation, die heute jeder fordert, der ein Publikum für sein Sachbuch oder seine Demo sucht." Doch die Sache habe ihre Fallstricke. Dass "Partikularinteressen eine gewisse Rolle" spielen würden, habe das Theater wohl vorausgesehen, "zumindest hat es eine Erklärung veröffentlicht, wonach Demokratie und Manipulation nahe beieinander liegen". Jetzt rudere Lux vorsichtig zurück. "Jede Wahl hat bestimmte Koordinaten", zitiert ihn Gräff, und man müsse berücksichtigen, dass das Große Haus auf 1.000 Zuschauer angelegt sei und man sich deshalb eine Inszenierung, die nur 50 Leute anlockte, nicht leisten könne. "Das hätte vielleicht im Kleingedruckten stehen sollen", schreibt Gräff und kommt dann noch kurz auf die Manipulationsvorwürfen und "Verschwörungstheorien im Internet" zu sprechen.

In einer Randglosse vergleicht Peter Kümmel in der Zeit (15.12.2011) die Thalia-Aktion mit Günther Jauchs Publikumsjoker: "Er wird immer dann eingesetzt, wenn der Kandidat in eine Notlage geraten ist." Ob das wohl auch für die wackeren Thalia-Leute gelte? Sei ihre Aktion ein Versuch, sich als Avantgarde zu behaupten auf dem rauen Hamburger Theatermarkt? "Oder ist sie vielmehr die schlaue Parodie autonomer Künstler auf all die Publikumsbefragungen, auf die ausufernde Käuferverhaltensforschung, welche unsere Zeit beherrscht?" Kümmel lässt es offen und dafür eine weitere Beobachtung folgen: In der Schweiz "haben mehrere Theater eine Internetplattform gegründet, auf der sie ihre eigenen Premieren von freien Kritikern rezensieren lassen, und diese Kritiker werden honoriert von den Theatern selbst." (mehr dazu hier, hier und hier). Die Gesamtlage, so Kümmel locker-flockig, sehe also ungefähr folgendermaßen aus: "Die Bühnen agieren im Geiste einer großen Tradition; sie handeln, als wären sie Fürstenhöfe. Sie halten sich ein Publikum als dramaturgischen Beirat (Hamburg), und sie halten sich Kritiker als Hofnarren (Schweiz). All das im Dienste der Zuschauer, versteht sich."

Zunächst erschien der Thalia-"Volksentscheid" Michael Laages vom Deutschlandfunk (Kultur heute, 17.12., 17:30 Uhr) "bloß ulkig": Wie sich da "weniger das Publikum, als vielmehr einschlägig interessierte Theatermacher die Idee unter den Nage rissen" und plötzlich alles eine Chance hat, "wenn nur genügend gute Freunde mit-voten", eben auch jene hochgewählten Stücke, die "sonst kein halbwegs vernünftiges Theater haben will". Mit "derart viel krausem Zeug" würde sich das Thalia "aus der Riege der Top-Theater in Deutschland (...) für eine Weile verabschieden". Bei dem Ganzen gehe es nicht "um irgendeine Form von Repräsentativität, sondern um populistische Ad-hoc-Mehrheiten sozusagen auf Zuruf". Die Initiatoren liefen blindlings "einem Trugbild vom Wesen der Kunst" hinterher. Diese sei nämlich keineswegs demokratisch: "Wer Entscheidungen über künstlerische Ausdrucksformen dem Urteil der Mehrheit unterwirft, oder gar der Masse, läutet freier Kunst das Sterbeglöcklein. Kein Theater, das sich den Steuergeldern der Gesellschaft als Ganzes verpflichtet fühlt, darf sich der Entscheidung zufälliger Mehrheiten unterwerfen; auch nicht innerhalb der Minderheit derer, die sich überhaupt für so etwas interessieren." Entscheidend sei in der Kunst "die Überzeugungskraft derer, die Künstler sind, und sein müssen, oder wenigstens Vermittler von Kunst", also u.a. Theater-Intendanten. Gäben diese das "Selbst-Bewusstsein des Machers", Gestalters, Ideenstifters auf, seien sie "überflüssig". Deshalb bleibe das Thalia-Projekt eine "schlimme Schnapsidee", "gefährlicher, populistischer, kunstferner Unfug".

Man dürfe also getrost wetten, schreibt Christoph Twickel nach der Stimmauszählung am Sonntagabend auf Spiegel Online (18.12.2011) "dass von den gewählten Stücken keines den Weg in den regulären Spielplan findet." Twickel rekapituliert noch einmal das Unternehmen und wirft der Thalia-Führung vor, das "hoffnungslos vergurkte" Unternehmen nicht vorher abgeblasen zu haben. Spätestens die Tatsache, dass Interessensgruppen schwache Stücke an die Spitze katalputieren konnten, wäre aus Twickels Sicht Grund dafür gewesen. Inklusive einer Entschuldigung dafür, "dass man keine Ahnung vom Internet hat". Stattdessen habe sich Hegemann dazu entschlossen, "die Spielplanwahl durchzuziehen" Against all odds sozusagen. Zeit-Feuilletonchef Jens Jessen habe bei der Diskussion nach der Wahl erklärt, dass sich Kunst und Mehrheitsentscheidungen nicht vertragen und darüber räsoniert, dass und warum das Bürgertum "das Gute, das Wahre und das Schöne" dem Plebiszitären entzogen habe. Die Hamburger Piratenpartei-Vorsitzende Anne Alter habe sogar versucht, Hegemann eine Grundregel der internetgestützten Basisdemokratie beizubringen: "Diese Systeme müssen übernahmesicher gegen Interessengruppen sein." Twickel weiter: "Alles vergebens. Man habe mit dieser Abstimmung etwas erzeugt, was sich nach herrschenden Kulturkriterien nicht legitimieren lasse und mit dem man sich jetzt künstlerisch auseinandersetzen wolle. Es gäbe doch eine Menge irrsinnige Stücke, aus denen man eine Menge machen könne."

Dass keines der gewählten Stücke je auf den Spielplan des Theaters finden wird, davon ist auch Till Briegleb überzeugt, der den Fall für die Süddeutsche Zeitung (19.12.2011) kommentiert. Ein voller Erfolg sei diese Aktion nur in einer Hinsicht gewesen: "In dieser Form wird garantiert nie wieder ein Theater in Deutschland seine Inkompetenz in Sachen Demokratie zur Schau stellen. Denn das Ergebnis dieses Versuchs, die Hälfte des Spielplans der nächsten Saison in einer unkontrollierten Abstimmung von jedermann bestimmen zu lassen, ist so hilfreich wie ein kongolesischer Diktator." Auch wenn Wahlvater Carl Hegemann sich am Wahlabend dem Eindruck Brieglebs zufolge "gewunden bemühte, intelligent klingende Ausflüchte zu formulieren, die dem schwachsinnigen Ergebnis die Würde eines echten demokratischen Experiments andichten, ist die Netto-Erkenntnis dieser Aktion doch ganz schlicht: Ein wenig Beschäftigung mit der Parademokratie der Klick-Medien hätte gereicht, um ein solches Resultat vorherzusehen. Das Image einer weltfernen Institution, das dem Theater gerne angeheftet wird, scheint durch diesen Schadensfall leider voll bestätigt. Aber wer gerne und laut von 'Schwarmintelligenz' redet, sie aber dann mit der Pseudodemokratie unterm 'Like'-Button verwechselt, der muss eben durch eine solche Blamage kuriert werden." Wobei der grundsätzliche Ansatz, der in Carl Hegemanns provozierender Idee einer Spielplanwahl durch das Publikum stecke, räumt Briegleb dennoch ein, nämlich "sich selbst einmal öffentlich zu hinterfragen, ja ein wunderbarer Stolperer in der monotonen Marschordnung deutscher Theatergewissheiten ist."

Zwei Tage später (21.12.2011) legt Briegleb in der Süddeutschen Zeitung noch einmal nach: Diese Wahl sei "ein exemplarisches Beispiel dafür, wie selbstverständlich hohl die Begriffe 'Demokratie' und 'Partizipation' mittlerweile sind". Die 'Demokratie', die hier gemeint sei, bezeichne man aber besser "als 'Wählen ohne Argument und Verantwortung'. Unkontrollierte Abstimmungen ohne Konsequenzen für den Wählenden zeugen eben nicht von der Herrschaft des Volkes, sondern von moderner Marktforschung. Like-Buttons, Netzbewertungen und Internetabstimmungen dienen vor allem der Impulsabfrage zum Erzeugen von Stimmungsbildern, mit der Unternehmen ihre Angebote besser justieren können." Die Geste dieser Spielplan-Wahl, "wir schenken euch jetzt Mündigkeit", habe die erste Lebensregel der Demokratie völlig außer Acht gelassen: "Demokratie muss gefordert, nicht gewährt werden." Aber habe jemand eine Spielplan-Beteiligung gefordert? Echt demokratisch abstimmen könne der Zuschauer hinterher, an der Kasse. "Das ist seine Verantwortung, und dort hat sein Votum auch Konsequenzen. Wir leben schließlich im Kapitalismus."

In der Welt (21.12.2011) setzt Alan Posener die Thalia-Abstimmung zu einem Nicht-Ereignis in Beziehung, nämich der Nicht-Einladung des Londonder Richard III. mit Kevin Spacey durch die Spielzeit Europa der Berliner Festspiele. Wenn Joachim Sartorius eine Inszenierung als "Mainstream" abtue, weil sie auf "die Mätzchen des Regietheaters" verzichte, müsse man sich andererseits nicht "über fehlende Resonanz und Relevanz" wundern wie in Hamburg, wo sich Joachim Lux mit der Abstimmung blamiert habe. "Vielleicht sollte er einfach einer Hollywood-Größe Platz machen. So jemand bringt die Kunst vielleicht nicht voran, wohl aber unters Volk. Und darauf kommt es an."

Auch der für seine Internetaffinität nicht gerade bekannte Kritiker Gerhard Stadelmeier hat sich zu einer Glosse hinreißen lassen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.12.2011) steigt er – naheliegend – mit Lessings "Hamburgischer Dramaturgie" ein, um dann zu berichten, dass das Thalia nicht nur auf einem abgestimmten Rock-Musical, einem Dürrenmatt und einem Wilder sitze, sondern "auch auf vielen, von Freundeskreisen mittels sozialer Netzwerke massenhaft, aber naturgemäß anonym gepushten Amateurdramen", die es nun "alles brav spielen" müsse. Was so nun auch wieder nicht stimmt. Das Verfahren sei ausbaufähig, ätzt Stadelmeier: "Das Publikum könnte ja solcherart Intendanten per Mausklick abwählen (Dramaturgen bitte sofort auch) – und vor allem das Schnapssortiment der Kantinen bestimmen, in dem ja nicht nur in Hamburg die besten Ideen stecken."

Und so haben die findigen Diagramm-Bastler von "Spielplandeutschland" die Sache aufbereitet.

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