Presseschau vom 7.-29. Dezember 2011 – NZZ, FAZ und Tages-Anzeiger setzen sich mit Theaterkritik im Netz auseinander

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7.-29. Dezember 2011. Nun hat auch die Neue Zürcher Zeitung (6.12.2011) das Feuilleton im Internet entdeckt: In ihrer gestrigen Ausgabe berichten Philipp Ramer und Claudio Steiger über die schweizer Seiten theaterkritik.ch und kulturkritik.ch, aber auch über nachtkritik.de. Dabei fassen sie noch einmal das Prinzip von theaterkritik.ch zusammen: 600 Franken zahlen die (vor allem kleinen) Theater an die Redaktion pro Premiere, die davon zwei Kritiker und sich selbst bezahlt. Verrisse seien bislang keine zu lesen.

Skepsis komme jedoch nicht nur von den Printkollegen, sondern auch von Theatermachern: Entweder, weil das Geld fehle, um dieses Angebot zu nutzen, oder weil sie das Bezahl-Prinzip grundsätzlich ablehnten. Auch das vor allem auf den Raum Zürich ausgerichtete Portal kulturkritik.ch funktioniere als Projekt, dass seine AutorInnen von den Kulturproduzierenden bezahlen lässt. Initiant Stefan Schöbi verstehe das Projekt als "Schreiblabor für junge Journalisten, als Denklabor für die Formen, Formate und Voraussetzungen heutiger Kulturberichterstattung und als betriebswirtschaftliches Labor, in dem ein neuartiges Finanzierungskonzept getestet wird".

Nach einem Schlenker über nachtkritik.de, dessen Prinzip sie nicht so ganz verstanden zu haben scheinen ("Dass die Antwort auf die Grosskritiker von einst jedoch in internetbasierter Entprofessionalisierung von Kritik liegt, darf bezweifelt werden."), konstatieren die Autoren "ein Bedürfnis nach Theaterberichterstattung im Internet", plädieren aber für friedliche Koexistenz und Aufgabenteilung: "Die Internet-Plattformen mögen rasche Rückmeldungen zu Premieren ermöglichen, Lücken in der Berichterstattung füllen und ein Forum für (kampflustigen) Meinungsaustausch bieten. Das Feuilleton hingegen kann sich Zeit nehmen für längere, profunde Kritiken, für eingehende Porträts und umfassende Hintergrundberichte. Der umsichtige Blick, das reflexive Format, die sorgfältige Recherche sind bewahrenswerte Qualitäten. Im Verbund können Online- und Printmedien die gesamte Bandbreite des Theatergeschehens abdecken." (geka)

Als Reaktion auf diesen Artikel und auf theaterkritik.ch schreibt heute Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.12.2011) eine Glosse: "Auch wenn es in Deutschland schon Theater gibt, die stolz darauf sind, dass zum Beispiel ein Theaterkritiker, der nebenberuflich eine Dramatikerbiographie verfasst hat, diese auf ihrer Bühne vorstellt und dafür einen geldwerten Werbe-Vorteil von dem Haus kassiert, über dessen Inszenierungen er sonst auch schreibt – gilt Theaterkritik reaktionärerweise immer noch als Zeitungsberuf. Und nicht als Theaterberuf." Dem wollten nun etliche Schweizer Theater einen avantgardistischen Riegel vorschieben, den Stadelmaier umbenennt in "korrupzick.ch" und folgert: "So wird der Theaterkritiker das, als was ihn die Theater längst haben wollten: ein Mitmacher. Er bringt sich im Theater ein, und das Theater bringt sich bei ihm ein. Ein einbringliches Geschäft für beide." Für ihn gibt's aus diesem Dilemma nur einen (nicht eben überraschenden) Ausweg: "Ich aber bleibe bürgerlich." (geka)

Am 28.12.2011 widmet sich der Zürcher Tages-Anzeiger den neuen Theaterkritik-Formaten im Netz. Andreas Tobler verweist dabei auch auf die Skepsis, mit der Theaterschaffende auf das Portal reagierten: Nach Meinung vieler handele es sich um ein heikles, weil nicht unabhängiges Finanzierungsmodell, das manche außerdem für "zu teuer" und deshalb wiederum "unfair" hielten, "weil nur jene den Service nutzen können, die über genügend Mittel verfügen". Tobler schreibt aber auch über die Alternativen, die ins Spiel gebracht werden: eine Art "Solidarpakt" – statt ein "Selbstbedienungsladen" mit "Kritiken auf Bestellung" – etwa schwebt Michael Röhrenbach vom Berner Tojo Theater vor. Mehrere Spielstätten seien "bereit, jährlich einen fixen Beitrag an ein ähnliches Portal zu zahlen", so Tobler. Andere befürchten allerdings, "dass die Internetkritiken lediglich von Spezialisten gelesen werden", weshalb sie statt eines Online-Portals lieber eine Kulturzeitschrift unterstützten, in der Theater ein Berichterstattungsschwerpunkt neben anderen Kunstsparten wäre.

Ob man "die Probleme von theaterkritik.ch lösen" könne, "indem man die Kritiken mit Subventionsgeldern bezahlt?", fragt Tobler weiter. theaterkritik.ch erhalte vom schweizer Bundesamt für Kultur 70 000 Franken – allerdings nur als Starthilfe, dauerhaft könne der Betrieb so nicht finanziert werden. Dazu wird die Position von Plinio Bachmann von der Theaterförderung der Stadt Zürich referiert: Aufgabe solcher Förderung sei eben "die Unterstützung von Produktionen, nicht aber die Vermittlung von Theater". Lösen könne man die Probleme "mit einer Schweizer Kopie von nachtkritik.de", wo es eine "strikte Trennung zwischen Werbung und Redaktion" gebe, meint Tobler. Allerdings kämen an Schweizer Theatern "bisher vornehmlich die grossen Häuser wie das Zürcher Schauspielhaus zum Zug". Und auch hier bestehe "die Gefahr, dass die Kritiken vornehmlich von Spezialisten gelesen werden"; für diese sei das Portal allerdings "die ideale Ergänzung zur Tageszeitung".

Hoffnung auf "neue Formen der Theaterkritik" macht Tobler das "Experimentierformat" blitzkritik.posterous.com von Künstlern um 400asa-Regisseur Samuel Schwarz, wo es z.B. Audiobeiträge oder Interviews mit pausenflüchtenden Zuschauern gebe und wo es "radikal subjektiv, ungerecht und oft polemisch" zugehe – "gerade deshalb ein so interessanter Versuch, weil der Blog von einer Leidenschaft geprägt ist, die Lust auf eine Auseinandersetzung mit Theater macht". (ape)

Kommentare  
Presseschau Kritik im Netz: Neoliberalismus hat die Kritik erreicht
Stadelmaier hat wieder einmal hundert Mal rechter als all seine Verächter. (Reimt sich!) Dass sich Kritiker zunehmend bestechen lassen, dass sie Geld und Aufträge annehmen von Produzenten - Plattenfirmen, Verlagen, Fernsehanstalten, nun sogar Theatern -, deren Produkte sie zu besprechen haben, ist skandalös genug. Noch skandalöser jedoch ist die Schamlosigkeit, mit der sie das tun, ist die Tatsache, dass das Kommentatoren mehr und mehr selbstverständlich erscheint. Journalismus und Ethik ist nur noch eine Lachnummer. Der Neoliberalismus, für den der Profit das oberste Gebot ist, hat nun auch die Kritik erreicht und setzt jede Moral außer Kraft. Wer ist da bürgerlich?
Presseschau Kritik im Netz: eine Bereicherung
Als Theaterfan ohne diesbezügliche berufliche Interessen frage ich mich, was an diesem Konzept für eine "Kritik" zu zahlen so verkehrt ist, wenn es denn so offen darliegt. Die polemisch geladenen Kommentare von Th. Rothschild oder Herrn Stadelmaier scheinen eher unterschiedlich geprägten Verfolgungswahnen zu entspringen. Schließlich will ja keiner Ihre Meinung unterdrücken.
Was interessiert mich an einer Kritik? Ich möchte herauslesen können, was mich in der Aufführung erwartet. Was ist mir nicht so wichtig? Die persönlichen Statements in Kritiken ob's gefallen hat! Längere theatergeschichtliche Exkurse! Die Liste der anderen Aufführungen, die der Kritiker vom betreffenden Stück schon gesehen hat! Kritiken, die so wortgewaltig sind, dass sie mit der beschriebenen Aufführung in einen künstlerischen Wettstreit zu treten scheinen. Politische oder weltanschauliche Einstellungen des Kritikers!
In diesem Sinne stellen die Besprechungen in den Internetforen für mich eine klare Bereicherung dar.
Presseschau Kritik im Netz: Autos und ihre Tester
Danke, wolfgangk, ein wohltuend offenes Bekenntnis. Nur zur Klarstellung: für Kritiken darf man nicht nur, man soll sogar dafür bezahlen. Es ging um eine Praxis, bei der der zu Kritisierende bezahlt. Also zum Beispiel der Autohersteller den Tester. Mit den Internetforen hat das unmittelbar nichts zu tun. Aber wahrscheinlich sind Ihnen solche Unterscheidungen nicht so wichtig. Ich schweige also und gebe mich meinem Verfolgungswahn hin. Allerdings, wolfgangk, unter vollem Namen, damit mich die Verfolger auch finden.
Presseschau Kritik im Netz: Einordnung in Kontext
Was ist an Korruption denn so verwerflich, wenn sie nur mal bekannt ist - wäre dann die Schlussfolgerung! Ich suche in Kritiken genau das Gegenteil von Ihnen: Eine Einordnung der Aufführung in einen Kontext, auch einen Geschichtlichen. Gerne auch einen Vergleich mit Auführungen, die ich als "normaler" Zuseher nicht alle sehen kann, eine gern auch wortgewaltige Analyse - eine Inhaltsangabe kann ich auf der Website des Theaters auch nachlesen ...
Presseschau Kritik im Netz: dann reichen die Theater-Webseiten
@2 Aber wenn Sie das so sehen ("herauslesen können, was mich erwartet"), reichen Ihnen doch eigentlich Vorankündigungen plus Fotos. Da steht doch dann schon auf den Webseiten der Theater praktisch alles drin.
Presseschau Kritik im Netz: (Nacht)Kritik macht Spaß
@4 Mir scheint der Begriff Korruption doch stark überzogen, im rechtlich relevanten Umstand sicher nicht zutreffend. Eher schon handelt es sich um eine Marketingmassnahme, vergleichbar allgemeinen Gepflogenheiten der Verkaufsförderung.@Th. Rothschild Meinen Namen führe ich hier nicht vollständig, weil ich keine Lust habe mit diesen Beiträgen "ergoogelbar" zu werden. Bin kein Facebookfan.
Die Homepages der Theater halte ich in der Tat in vielen Fällen für sehr informativ, trotzdem macht (Nacht)Kritik Spaß.
Zu Herrn Stadelmaier hätte ich noch einen nachzulegen: Während der sogenannten Schreibblockaffäre hat er sich ohne zu zögern dem Publikum zugeschlagen und dieses in seiner Person angegriffen gesehen, jetzt wähnt er sich in einem Theaterberuf tätig. Iss er nich, er ist Journalist einer Zeitung - und daran ist überhaupt nichts ehrenrühriges.
Presseschau Kritik im Netz: Kritik versus PR
Theaterkritik muss unabhängig sein, sonst ist sie keine Kritik, sondern PR.
Presseschau Kritik im Netz: leider nicht online
Irgendwie doof (oder symptomatisch), dass der Artikel von Herrn Tobler nicht online steht. Immerhin scheint er doch mehr an einer echten Diskussion interessiert als die Autoren von NZZ und FAZ.
Presseschau Kritik im Netz: jemand muss Kritiker bezahlen
Ich verstehe die Aufregung nicht. Die Online-Formate sind doch eine Ergänzung zum Printjournalismus. Schaut man sich die in den Seitenzahlen stetig schrumpfenden Feuilletons an, werden viele vor allem kleinere Aufführungen gar nicht mehr besprochen. Dem entgegenzuwirken finde ich nicht verkehrt. Jemand muss die Kritiker aber für ihre Arbeit bezahlen. Entweder ein Verlag (was scheinbar nicht geht) oder dann halt die zu Kritisierenden. Da die Löhne im Kulturjournalismus allgemein nicht exorbitant sind, übt man diesen Beruf auch nicht nur des Geldes wegen (ebenso wie im Theater selbst...) aus. Daher denke ich nicht, dass der Zahlende einen grossen Einfluss auf die Kritik hat... Ebensowenig wie sich Regisseure oft um den Geschmack ihrer Geldgeber kümmern, sollten es Journalisten tun...
Presseschau Kritik im Netz: ehrenamtliches Vereinsblatt
lieber leser,

lasst uns doch allesamt wieder zum amteurtheater übertreten und nachtkritik nebst ähnlichem wird zum ehrenamtlichen vereinsblatt. wenn keiner geld kriegt, hat auch keiner interessen; dann ist alles so friedlich, harmonisch und ästhetisch-inhaltlich wertvoll, wie im hasenzüchterverein - und so soll die welt ja schließlich auch sein. was ein schöner, frommer, post-weihnachtlicher wunschpunsch. danke!
Presseschau Theaterkritik im Netz: Artikel ist online
Inzwischen ist mein Artikel online: http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/theater/Die-Buehnenkritiker-gehen-ins-Netz/story/13938087
Presseschau Theaterkritik im Netz: Neujahrsvorsätze?
@olympe: Wenn Amateurtheater für Sie nur "friedlich, harmonisch und ästhetisch-inhaltlich wertvoll" ist, sollten Sie durchaus mal eines aufsuchen - nach dem Wunschpunsch vielleicht die Neujahrsvorsätze?
Presseschau Theaterkritik im Netz: das A-Wort
lieber amateur, was stehen sie auch mit überlangem Schlips rum und fühlen sich angesprochen. oder wollen sie ernsthaft mir mir über laien-, amateur-, experten-, jugend-, offoffmelange-theater und ihre dazugehörigen selbstverständnisse, vereins-/organistaionsformen und -satzungen reden? stehe gerne zur verfügung und kenne das theater jenseits akademisch verliehener professionalität ganz gut, traue ihm aber offenbar soviel zu, dass ich sogar glaube, dass es der ironische gebrauch des wortes "a" es nicht umhaut.
Presseschau Theaterkritik im Netz: Gegenteil von Profi
übrigens: das gegenteil vom profi ist halt der amateur. das ist im sport so, im handwerk und auch im theater. die grenze wird dabei oft nicht über das können gezogen, sondern an der frage entlang, ob man geld für das bekommt, was man tut.
Presseschau Theaterkritik im Netz: Vorteilsnahme
Was bitte ist denn das für einne Diskussion? Wir verurteilen Christian Wulff, weil er in den 70gern einen Billigkredit nahm, bei Freunden umsonst übernachtete und gutieren, daß Theaterintendanten Kritiker bezahlen, Anfahrt, Unterkunft. Und das doch nicht um die Presse zu unterstützen, sondern um - möglichst überregional - eine gute Kritik zu bekommen.Daraus versprechen sie sich wiederum mehr Zuschauer und für die eigene Karriere ist es auch nicht schlecht. Man nennt so etwas Vorteilsnahme und es ist ungesetzlich.
Presseschau Theaterkritik im Netz: gute Plattform
@ rina - hier kann jeder posten - ohne Vorteilsnahme. Was immer einen auch nervt - mich z.b. - dass es so oft dieselben sind, die sich in ellenlange Diskurse verlieren. Ansonsten - weiter so, nk - wenn es machbar bleibt. (klar ist mir bekannt, dass hier auch "befreundete" KritikerInnnen) posten. Dennoch: 'ne gute Plattform.
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