S A N D - Sebastian Nübling und Ives Thuwis lassen in Zürich ein rebellisches Lebensgefühl ertanzen
Knuddeln und Kämpfen
von Andreas Klaeui
Zürich, 10. Dezember 2011. Wer redet denn von Brettern, die die Welt bedeuten? Die Welt ist ein Sandkasten! Jedenfalls im Zürcher Schiffbau. Eine sandige Manege, an den Wänden schwarzer Plastic. 40 Tonnen Sand liegen da nach Angaben des Schauspielhauses im Bühnenbild von Muriel Gerstner. "Was braucht es", fragen darin, wieder nach Angaben des Hauses (Dramaturgie Katja Hagedorn und Uwe Heinrich), der Choreograf Ives Thuwis und der Regisseur Sebastian Nübling, "um sich in unserem 'postideologischen Zeitalter' (Slavoj Žižek) auf einen gemeinsamen gesellschaftlichen Weg zu machen?"
Eine Jugend erhebt sich
Gute Güte. Zu sehen ist das nicht; auch nicht mit viel interpretatorischem Goodwill. Aber was wir sehen, ist eine vierzehnköpfige, sehr junge Truppe, besetzt zum kleineren Teil aus dem Schauspielhaus-Ensemble und zum größeren aus den Theaterkursen des Jungen Theaters Basel, die sich den Sandkasten zu eigen macht, als bedeute er die Welt. Da sitzen sie auf einer selbst geschaufelten Sandbank und versuchen sich hochzustemmen – sich zu erheben? Man möchte es denken, wenn man das Band mit skandierten Revolutionsrufen dazu hört.
Da tanzen sie einen Kampftanz mit raumgreifender Gestik, und werfen mit Sand nur so um sich (auch vom Publikum ist Sandresistenz gefordert, zumindest in den vorderen Reihen). Sie agieren synchron alle zusammen oder in Gruppen, auch kleine Soli sind dabei. Sie besetzen den Sand, erschreiten ihn, umwandern ihn, greifen aus, schubsen einander weg, schreiten voran oder fallen hinab, sie buddeln und scharren wie die Katze im Kistchen, sie waschen sich mit Sand oder stecken den Kopf hinein.
Gleichfalls zu sehen sind choreografische Verzahnungen nach dem Prinzip von Repetition und Variation, und eine formale Verdichtung in den Figuren von – peripherem – Kreis und – zentralem – Riegel. Und was wir sehen, sind ganz einfach schöne Bilder, ästhetisch ergreifende Momente wie zum Beispiel jene Landschaft aus Sandgebirgen und Sandburgendörfern von ganz unterschiedlicher Bauart, in der dann tatsächlich so was wie eine kleine Welt im Bühnenlicht aufscheint.
Wandelnde Widersprüche
Und vielleicht lässt sich auch sehen, dass auf einen ersten Teil, in dem das Ausgreifen, die Eroberung des Raums im Vordergrund steht, ein eher in sich gekehrter zweiter Teil folgt, ein musikalischer Teil mit live gespielten Balladen des Baslers James Legeres und seiner Band, in dem es mehr um die (klar: jugendliche) Suche nach einem Platz in der Welt geht. In dem sich Beziehungen zwischen den Darstellern aufbauen, in dem aus dem Sand aufs Mal auch zwei weibliche Brüste wachsen, in dem nicht mehr so klar ist, was Knuddeln ist und was Kämpfen, wo das Fighten aufhört und das Fummeln anfängt und beides in beiden Richtungen nahtlos ineinander übergehen kann.
Zart können sie sein, die Sandkastenspiele, aber auch hart; in ihren besten Momenten sind sie ganz wild und ungebärdig. Muss sich ein "gemeinsamer gesellschaftlicher Weg" daraus herleiten? Der übergreifende Gesamtzusammenhang stellt sich nun nicht ein; aber vielleicht ein Lebensgefühl: "I'm a walking contradiction", wie sie es gemeinsam singen, und wie es jugendlichem Empfinden entspricht. Everybody dance now!
S A N D
Ein Tanztheaterprojekt von Sebastian Nübling und Ives Thuwis
Inszenierung: Sebastian Nübling und Ives Thuwis, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Ursula Leuenberger, Musik: James Legeres und Lars Wittershagen, Licht: Rainer Küng, Dramaturgie: Katja Hagedorn und Uwe Heinrich.
Mit: Rula Badeen, Jara Bihler, Jan Bluthardt, Ambrosius Huber, Alejandra Jenni, Daniel Karrer, Stefan Karrer, Tobias Koch, Franziska Machens, Sean McDonagh, Anselm Müllerschön, Joris Mundwyler, Zoë Valks, Nora Vonder Mühll.
www.schauspielhaus.ch
www.jungestheaterbasel.ch
Einlässlich beschriebt Lilo Weber in der Neuen Zürcher Zeitung (12.10.2011) die Aktionen: "Weltschmerz und Wut, kindliche Sandkastenspiele, die zu bitterem Ernst werden, vorsichtige Annäherungen, die in Kämpfe ausarten, dazu Anspielungen an die Umwälzungen im Maghreb und im Nahen Osten." Dann wird die Faszination auch ausdrücklich gemacht: "Das ist alles sehr genau choreografiert von Regisseur Sebastian Nübling und dem belgischen Choreografen Ives Thuwis. Und dieser Tanz aus und in den Sand ist hervorragend gemacht. Das Schnaufen, laut und echt, das Schwitzen, nah und riechbar, Wucht und Wut wird physisch spürbar – das gibt in der dezidiert künstlichen Anordnung des Sandkastens ein Gefühl von untrüglicher Authentizität."
"Nübling ist nie so gut wie mit den ganz Jungen." Mit diesem Lob für das Junge Theater Basel, dem der Erfolgsregisseur stets die Treue gehalten habe, steigt Simone Meier im Tages-Anzeiger (12.12.2011) in ihre Würdigung dieses Abends ein. Auf der Bühne passiere in "den ersten fünf Minuten schon mehr als bei Beckett an einem ganzen Abend." 40 Minuten lang würden ohne Musik komplizierte, kollektive Bewegungsmuster exerziert, "schließlich ist Gemeinschaft ein komplexes Konstrukt". Dabei entstünde langsam der Eindruck, "dass ein bisschen griffige Texte und Kontexte allgemein dem Tanztheater nicht schaden könnten". Sobald aber die Band nach ihren Instrumenten greift werde alles "anders und super". Eindrucksvolle Bilder und "kleine Szenen zwischen Rausch und Zauber" entstünden, "betörend schön" werde von Sehnsucht und Liebe gesungen.
Schlicht und ergreifend "ein Glücksfall" sei diese Zusammenarbeit von Nübling und Thuwis und ihr Stück "wie aus einem Guss: komponiert wie ein Rondo, mit einem immer wiederkehrenden A-Teil, dazwischen B- und C- und D-Themen. Alles auf Sand. Unglaublich." So jubelt Barbara Schulte in der Badischen Zeitung (12.10.2011). Unbändige Energie werde benötigt, um auf Sand zu tanzen, weshalb hier auch ein junges Ensemble gefordert sei. Die "Konzentration auf den körperlichen Ausdruck", die der stets sehr physisch arbeitende Nübling einbringe, erfahre durch Thuwis' Mitarbeit "noch einmal eine Steigerung".
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Fazit: Nervenaufreibende Zeitverschwendung
Übrigens heisst die ganze Band «James Légères», ein Kunstname.
Wer eine Textflut mit Moral am Ende erwartet wird enttäuscht, denn gesprochene Sätze gibt es an diesem Abend nur eineinhalb.
Der Zuschauer ist sich selbst und seinen Assoziationen überlassen.
Mutig und sehr gelungen!