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Jede Zelle meines Körpers ist glücklich

von André Mumot

Hannover, 11. Dezember 2011. Ob einem das nun gefällt oder nicht: Es ist jetzt Weihnachtsmärchen-Zeit. Idealerweise können deshalb endlich wieder Geschichten erzählt werden, wie wir sie seit Dickens kennen, Geschichten, in denen das Herz über die Raffgier siegt. Nun würde man vielleicht nicht ausgerechnet im Werk des Filmkünstlers Lars von Trier nach solchen Fabeln suchen – das Schauspiel Hannover aber ist genau dort fündig geworden.

Der Regisseur, der in diesem Jahr sehr anmutig die Welt untergehen ließ und dank wirrem Ich-bin-Nazi-Gerede in Cannes effektvoll vor die Tür gesetzt wurde, hat nämlich 2006 einen kleinen, wenig beachteten Film gedreht: "The Boss Of It All" enthält, ganz untypisch für seinen den seelischen Exzess suchenden Macher, eine durch und durch charmante Komödienidee. Die Bühne freut sich.

Gala-Nummern der ausgestellten Peinlichkeit

Hier geht es schließlich um einen Opportunisten namens Ravn, der seine kleine IT-Firma profitabel verkaufen und nebenbei den alten Mitarbeiter-Stamm ausbooten und entlassen will. Weil seine Angestellten ihn aber so gern haben und er möchte, dass es so bleibt, engagiert er einen Schauspieler, der den nicht existenten "Oberboss" aus Amerika geben und die Sache für ihn abwickeln soll. Der hierfür Engagierte aber bekommt ein schlechtes Gewissen und stellt sich quer.

Zu Beginn ergeben diese beiden, der verzweifelte Regisseur und sein nicht sehr heller Akteur, ein hinreißendes Paar. Janko Kahle ist als charakterschwacher Chef mit hochrotem Kopf und nervöser Knuddeligkeit ein Kapitalist mit entgleistem schlechten Gewissen, der seinen Mitarbeitern immer besorgt das Händchen hält und, wenn die Stimmung zu entgleiten droht, mit ihnen ein ausdauerndes "Jede Zelle meines Körpers ist glücklich" trällert.

Florian Hertweck wiederum übt als Schauspieler den sorgenvoll entrückten Blick oder versucht, ein Meeting mit den Mitteln des Improvisationstheaters durchzustehen. Lustig ist er dabei sehr, sieht kostümiert aus in seinem schwarzen Anzug und in den nicht dazu passenden Sandalen, und schmollt, wenn man ihm keine Beachtung schenkt und ihm die großen Monologe missgönnt. Nebenbei ist er sehr unbeholfen und für allerhand Slapstick zuständig – jeder Auftritt eine Gala-Nummer der ausgestellten Peinlichkeit.

Bombastklassik und Zombiepantomimen

Denn wo von Triers absichtsvoll verschnittener Dogma-Film im spröden Pseudo-Naturalismus feststeckt, hat Regisseur Tom Kühnel beschlossen, aus dem skandinavisch reservierten Komödienstoff eine wilde Farce der Schießbudenfiguren zu machen. Man ahnt auch hier erst einmal lebensnahe Büro-Qualen, Stromberg'sches Witzelend. Aber es kommt anders, es kommt deftig. Auf einer Bühne, die ringsum von stilechten Lamellenvorhängen eingerahmt wird, auf der verschiebbare Konferenztische stehen und auf der die Topfpflanzen hochmütig aus dem Granulat ragen, müssen die Darsteller unter Hochdruck und ohne Unterlass komisch sein. Sie sind sehr effizient dabei und rücken ihre Figuren mit Rasanz von uns ab.

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Meeting in der IT-Firma: Janko Kahle, Roberto Guerra, Daniel Nerlich, Carolin Eichhorst, Florian Hertweck, Johanna Bantzer. © Katrin Ribbe

Kühnel lässt jede Menge Musik auf seinen Schwank niederfahren, spielt bombastischen Bruckner ein, wenn sich eine Wikingerhand samt Speer zur Vertragsunterzeichnung ausstreckt, und kummervollen Satie, wenn eine schüchterne Liebeserklärung ausgesprochen werden soll. Eine tatsächlich sehr komische Verführungsszene zwischen dem linkisch überforderten "Oberboss" von Florian Hertweck und der rabiat-erotischen Angestellten von Carolin Eichhorst durchbricht er ironisch mit Schwarzblenden und hochdramatischen "Der Tod und das Mädchen"-Takten. Doch leider gibt es hier kein Halten: Damit auch der unaufmerksamste Zuschauer versteht, wie infantil der Harmoniewunsch aller Beteiligten ist, muss die Belegschaft minutenlang zu brabbelnden Kleinkindern regredieren. Dann wird auch noch ein ausgedehnter Alptraum zur überinszenierten Zombiepantomime, die schrillt, klamaukt und die Nerven strapaziert.

Dann doch lieber weiterkuscheln

Diese ermüdende Verkühnelung überdeckt, wie hübsch und bissig die Ideen der Vorlage eigentlich sind. Denn statt sich um Strukturen unserer Wirtschaftsrealität zu kümmern (nichts haben Film und Stück darüber zu sagen, gar nichts), konzentriert sich von Trier auf die Geltungssucht von Schauspielern und Regisseuren und kommt so zu einer erstaunlichen Pointe. Am Ende siegt irgendwie das Herz, und trotzdem ist das nicht sehr schmeichelhaft für uns. Der Chef kann es dann nämlich doch nicht ertragen, dass seine Mitarbeiter sich von ihm abwenden, dass sie jetzt an den Lippen des eitlen Schauspielers hängen. Da verzichtet er lieber auf den Firmen-Verkauf, da will er dann doch lieber weiterkuscheln.

Man möchte uns trösten an diesem dritten Advent, auch im Schauspiel Hannover: Nicht die Gier treibt die Welt an, heißt es hier, sondern letztlich bloß kümmerliche Eitelkeit. Das ist doch schon mal was: Lieber Liebe wollen wir als Geld. Lachen wir also und glauben es. Es ist ja bald Weihnachten.


The Boss Of It All
Von Lars von Trier
Regie: Tom Kühnel, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Markus Hübner, Dramaturgie: Aljoscha Begrich
Mit: Johanna Bantzer, Aljosch Begrich, Carolin Eichhorst, Susana Fernandes Genebra, Roberto Guerra, Florian Hertweck, Janko Kahle, Wolf List, Daniel Nerlich.

www.schauspielhannover.de

Mehr Lars von Trier auf deutschsprachigen Bühnen: Anna Bergmann zeigte 2010 in Oldenburg Breaking The Waves, Martin Laberenz 2009 in der Leipziger Skala Idioten, Sebastian Nübling ebenfalls 2009 in Basel Dear Wendy.

 

Kritikenrundschau

Man habe hier "eine Geschichte, die dankbarer nicht sein könnte" und eine Inszenierung, der es leider gelinge, "so ziemlich jeden Tiefgang aus dieser Story zu tilgen", findet Alexander Kohlmann vom Deutschlandradio Kultur (Fazit, 11.12.2011). Tom Kühnel habe aus Lars von Triers "bitterböser Farce" einen Abend gemacht, der eine "harmlose Slapsticknummer" an die andere reihe. In dieser "Nummernrevue" bleibe kein Raum, mit psychologischem Spiel den Figuren "die Fallhöhe zu geben", die sie besitzen. Florian Hertweck sei zu jung besetzt, eher ein Mark Zuckerberg. Und mit den Angestellten, die hier "schon mal in Zombiekostümen über die Bühne robben", habe "bestimmt niemand Mitleid". So sei die Stimmung im Publikum denn auch "durchweg heiter". Dankbar würden die "vielen vordergründigen Pointen" quittiert, "die sehr oft wichtiger erscheinen als die Auseinandersetzung mit den Abgründen der Vorlage". Aus der Tragikomödie von Triers werde hier ein "echter Schenkelklopfer".

"The Boss of it all" sei eine "gute Boulevardkomödie, ein hübsches Verstellungsspiel mit komischen Charakteren und witzigen Aussagen zu Kunst und Wirtschaft", so Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen (13.12.2011). Kühnel packe die Sache "eher ruppig" an und unterschlage die "vom Stoff her mögliche elegante, vielleicht ironische, vielleicht tänzelnde Aufführung mit sonoren Chefschauspielern und jeder Menge Büroalltagsrealismus (...). Das wäre ja Boulevard und vielleicht auch komisch." Stattdessen gebe es "schlechtes Theater" mit "Übertreibungen und Typen". Hertweck sei "absolut gegen den Typ besetzt", probiere "Sprechweisen aus und haspelt sich weitgehend unbeholfen durch den Text. Aber: Das soll wohl alles so sein", schließlich gehe es im Stück um schlechte Schauspielerei. Auch dass das Timing oft nicht stimme oder man "in erstaunlicher Nähe zum Improvisationstheater" agiere, gehöre wohl zum Konzept. Eine "weitgehend unkomische Komödie".

Kühnel inszeniere von Triers Komödie "mindestens so spröde, so befremdlich und absurd, wie es vor fünf Jahren der umstrittene Film gewesen ist", befindet hingegen Siegfried Barth von der Neuen Presse (13.12.2011). Es werde an diesem Abend "aus allen Rohren gefeuert, als hätten Harald Schmidt und Michael Moore eine gemeinsame Show". Hertweck liefere "eine köstliche Parodie auf die eigene Zunft" ab. "Übertreibungen und beeindruckende Fantasy-Szenen überdehnen sich und kranken an der eigenen Überdosis. So bleibt das Pulver nicht trocken, manche Pointe zündet nicht. Aber es gibt ja so viele davon." Insgesamt: "zwei Stunden Vergnügen".

Eine "giftige Komödie, deren Sarkasmus Theaterregisseur Tom Kühnel verstärkt, indem er wie Filmregisseur Lars von Trier Distanz zum Geschehen hält", hat Klaus Irler für die TAZ (14.12.2011) in Hannover erlebt. "Kühnel überzeichnet die Komik ins Groteske, Lars von Trier dagegen verfremdet durch seine Dogma-Tricks: Er tritt im Film selbst auf, gibt Kommentare ab, lässt die Schauspieler direkt in die Kamera sprechen, bricht die Kontinuität durch Jump-Cuts." Kühnels "Verfremdungen" seien "gut dosiert", es werde beachtet, "dass die Geschichte verständlich bleibt", denn diese sei "in ihren Details und Pointen ziemlich vielschichtig": ebenso Satire auf die Schauspielkunst wie auf die heutige Arbeitswelt.

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