Edward II - Ivo van Hove inszeniert Christopher Marlowes Königsdrama an der Schaubühne
Männerknast für Hochgebildete
von Christian Rakow
Berlin, 17. Dezember 2011. "Oh jammervoll das Land, wo Lords Hof halten und Könige in Haft genommen sind!", beklagt der Graf von Kent das Schicksal seines Halbbruders König Edward II., der soeben abgedankt hat und nun seinen letzten Weg nach Berkeley Castle antritt, wo er den Meuchelmördern des Reichsverwesers Roger Mortimer zum Opfer fallen wird. Das höfische Jammertal in Christopher Marlowes Königsdrama – seinem letzten Stück (1591–1592), ehe auch er gewaltsam vor seiner Zeit starb (1593) – hat kurze Wege: Kaum ein Steinwurf trennt den Thron von Kerker und Schafott.
Was aber, wenn an der Berliner Schaubühne bei Regisseur Ivo van Hove diese ganze Welt ein einziges Gefängnis ist und sich nirgends ein Hof für einen Regenten findet? Kann man dann eigentlich noch über den fatalen Lauf der Dinge klagen? Oder muss man durchweg klagen?
Vitale Burschen
Acht eiserne Zellen für acht athletische Insassen hat Bühnenbildner Jan Versweyveld nebeneinander gebaut. Zentral darüber hängt eine Videoleinwand. Von seiner Wachstube aus kontrolliert Urs Jucker per Überwachungskameras das Geschehen (Videokonzept: Tal Yarden). Im Häftlingstrakt geht es gesittet zu. Man redet sich mit "Sir" und "Madam" an (Kay Bartholomäus Schulze übernimmt den einzigen Frauenpart der Stückfassung: Königin Isabella). Es ist ein Männerknast für Hochgebildete.
Geradeheraus: Die kühne Setzung, Marlowes "Edward II." hinter schwedische Gardinen zu verlegen, will nicht einleuchten. Fraglos mag man bei Folterszenarien, derer das Stück nicht eben wenige zu bieten hat, an Abu Ghraib denken. Und kernige Hackordnungskämpfe lassen sich auch auf Alcatraz verorten. Sicher. Aber solche Analogien greifen nicht eben weit. Schlimmer noch: Sie greifen regelmäßig am gesprochenen Text vorbei: Während Stefan Stern als Edward II. von den Baronen Mortimer (Paul Herwig) und Lancaster (Sebastian Nakajew) über den finanziell und außenpolitisch desolaten Zustand seines Reiches informiert wird, stemmt er auf einer Fitnessbank Gewichte. Welche Welt, denkt man, bedrängt wohl diese vitalen Burschen? Welche Reiche haben sie zu verteidigen?
Inhaltslose Allianzen
"Treubrüchig Glück, dein Rad hat einen Punkt, zu dem der Mensch empor strebt, bis er ihn berührt und abwärts taumelt." Diese Worte Mortimers kurz vor seiner Hinrichtung durch Edwards Sohn, Edward III. (Bernardo Arias Porras), benennen den Zug ins Tragische. Bei Marlowe sieht man einen Edward II., der wie ein farbenfroher Gockel seine Favoriten Gaveston und später Spencer liebkost und protegiert. Unter seiner Günstlingswirtschaft verödet das Land, und erst als der König entmachtet ist, erkennt und leidet er in Größe seine eigene lebenslange Zerrissenheit: zwischen Privatvergnügen und öffentlichem Amt. Parallel zu seinem Abstieg sieht man den jähen Aufstieg und Fall von Roger Mortimer, dem Kriegsherrn und Liebhaber der Königin Isabella.
Diese Bögen sind bei Ivo von Hove nivelliert worden. In seinem Gefängnis werden alle gleich. Sie schmieden Allianzen, die inhaltslos bleiben. Zustand des Landes, Standesehre, persönliche Vorteile oder ähnliche Motivationen fallen hier für die Konflikte ebenso aus wie die sexuelle Einstellung des Königs (schon weil Homosexualität in dieser Haftanstalt praktisch universell vollzogen wird). Der Gewaltzusammenhang, der das Geschehen trägt, speist sich nurmehr suggestiv aus der bedrohlichen Szenerie.
Wo der Schnitter umgeht...
Dabei hätte man diesen Schauspielern der Schaubühne allen nur möglichen Raum geben können: Stefan Stern ist mit seiner weichen, nervös fiebrigen Anmutung, mit seinem durchlässigen Spiel, das Gefahr sucht, Abgründe schaut, Todesnähe spüren lässt, eine Idealbesetzung für Edward II. Christoph Gawenda kann seinem Gaveston, des Königs Liebhaber, eine fast entrückte Verletzlichkeit und Duldsamkeit verleihen. Kay Bartholomäus Schulze kostet mit großer, konzentrierter Ruhe die Marlowe'schen Verse. Man wünschte sich, dass jemand dieses ganze irreführende Setting wegrisse und ihnen eine abstrakte Raumanordnung gäbe, wo sie das Drama noch einmal neu aus der Textspur entwickeln, wo sie nicht nur einen ewig gleich bleibenden, gedämpft elegischen Ton ins Gang-Ambiente gießen könnten.
Paul Herwigs Mortimer ist kein Stratege, kein glorioser Intrigant. Wie auch, wo der schicksalhafte Verlauf rein äußerlich gedacht ist, als immer schon fertige Gewaltspirale? Mit Urs Jucker als Gefängniswärter erhält diese ein Gesicht. Er schlüpft in die Rolle des Mordbanausen und wird zum Handlanger eines irgendwie übergreifenden Willens zur Qual. Nach und nach lässt er die Köpfe des inhaftierten Hochadels rollen bzw. unter einer roten Plastiktüte ersticken – sogar noch einen mehr als im Stück vorgesehen (den der Königin). Wo der Schnitter umgeht, muss man's nicht so genau nehmen. Nach getaner Arbeit kehrt er brav nach Hause zu seiner Frau. Das Video flackert ein letztes Mal. Sie wartet mit Spaghetti und Tomatensauce auf ihn – Feierabend eines Henkers, Banalität des Bösen.
Edward II.
Von Christopher Marlowe
Deutsch von Alfred Walter von Heymel, Fassung von Bart van den Eynde
Regie: Ivo van Hove, Bühne und Licht: Jan Versweyveld, Kostüme: An d'Huys, Musik: Eric Sleichim, Video: Tal Yarden, Dramaturgie: Bart van den Eynde, Maja Zade.
Mit: Stefan Stern, Christoph Gawenda, Kay Bartholomäus Schulze, Bernardo Arias Porras, David Ruland, Sebastian Nakajew, Paul Herwig, Moritz Gottwald, Urs Jucker.
www.schaubuehne.de
Zuletzt inszenierte Ivo van Hove im Herbst 2010 an der Berliner Schaubühne Molières Der Menschenfeind.
"Toll," schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (19.12.2011) angesichts des Bühnenbild- und Technikbombastes dieses Abends. "Vielleicht hätte man auf ein Stück und Schauspieler lieber verzichten sollen." Die Schaubühnenspieler aber müssten prügeln, vergewaltigen, küssen, nackt duschen und dabei auch noch Blankverse sprechen. Und das Schaubühnenpersonal, Seidler zufolge sonst eher geübt in der Darstellung deprimierter "Wohlstandsjungs", versuche sich nun auch ganz redlich und bürgerlich-daramtisch in Marlowes Monströstäten einzufühlen. Was an diesem Abend offenbar auch nichts zur Wahrheitsfindung beitragen kann. Denn die Inszenierung zelebriere ihre eigene Ästhetik, für die der Kritiker nur ein "hübsch heftig" übrig hat.
Von einer mittelmäßig klischeemodernen Aufführung spricht Matthias Heine auf Welt-online (19.12.2011), den die Setzung des Abends, Marlowes Drama im Männerknast zu verorten, nicht überzeugt. Aber auch die Schauspieler kommen schlecht weg. Nicht nur, dass bereits ihre Physiognonie den Kritiker unken lässt, sie hätten wohl zu oft Küchendienst gehabt und sich eher wenig im Fitnesssudio auf der Bhne gestählt. "Am allerunglaubwürdigsten sind diese Wohlstands-nicht-mehr-ganz-Jünglinge, wenn sie mal richtig die brutale Sau rauslassen sollen," schreibt Heine. "Dann schlagen sie mit Eisenstangen gegen die Gitterstäbe wie kleine Jungs, die mit ihrem Holzbaukasten hämmern. Dann schütteln sie die Federn aus den Zellenkissen wie Frau Holles züchtige Haushilfe. Erst recht gelingt es den Darstellern nicht, einleuchtend zu machen, warum die Häftlinge mit ihrem Casual-Gefängnishof-Look in der geschraubten Sprache elisabethanischer Poesie reden. Es bereitet ihnen unsagbare Mühe." Für den Kritiker sind das nicht die einzigen Widersprüche, "an denen diese im schlechtesten Sinne zeitgenössische Inszenierung klumpfußt. Ein paar weitere: Wieso gibt es in diesem Dritte-Welt-Knast eigentlich eine Videoüberwachungsanlage, von der die Direktoren westlicher Hightech-Gefängnisse nur träumen können? Aus welchem Grund regen sich ausgerechnet an diesem frauenfreien Ort, wo man sich lieber nicht nach dem Stück Seife unter der Dusche bücken sollte, alle so über die Männerliebschaft des Königs auf?"
Als "pompös verquaste Eros-und-Thanatos-Männer-Show" verreißt Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (19.12.2011) die Inszenierung. "Die Welt ist also ein Riesenknast, in dem es ausschweifend drunter und drüber geht, inklusive Mord- und Totschlag. Das passt, wenn man Foucault falsch verstanden hat, natürlich immer." Van Hove mache aus dem Stück "eine große Sexsache", bei der "hinter tausend Stäben zwar viele Penisse baumeln, aber nichts von dem Doppelporträt und dem Interesse an der Geschichte" übrig bleibe. Die Schauspieler geben sich Schäfers Eindruck zufolge zwar Mühe, "überhaupt so etwas wie Figuren und einen nachvollziehbaren Konflikt hervortreten zu lassen, aber das dominante Setting des Abends prügelt sie immer wieder in die Gesichtslosigkeit der Reihe, in die choreografischen Gesetze der Turnerei zurück. In einem anderen Rahmen würde das empfindsame Leiden und die inbrünstig vorgetragene Liebe zwischen Stefan Stern als verweichlichter Edward und Christoph Gawenda als Gaveston möglicherweise anrühren. Hier wird bloß eine Schmonzette draus. "
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.12.2011) schreibt Irene Bazinger: Bei van Hove gerate in Vergessenheit, dass König Edward II. ein "charismatischer, nicht unbedingt sympathischer Außenseiter" gewesen sei. Die acht inhaftierten Männer seien einander "ziemlich ähnlich", nur Urs Jucker als Leicester sei hervorgehoben. Die Gitterzellen, die er überwacht, symbolisierten "eher die gesellschaftliche Vereinzelung und Isolation" als das Gefängnis. Van Hove demonstriere "mit seiner spiegelglatt unterkühlten Inszenierung" einerseits die Banalität des Bösen, andererseits das "Modell eines politischen Ausnahmezustandes". Die aufwendige Technik sei "eindrucksvoll" und verstärke die vorhandene "unmenschliche Atmosphäre des Originals", lasse aber die Schauspieler "ganz klein und blass und unerheblich werden". Die "enorme tragische Fallhöhe Edwards II." sei "unter diesen Umständen" nicht einmal zu "erahnen". Stefan Schwarz (sic!) vermöge "demgemäß" dem König keinerlei "dramatisches Profil und emotionale Sprengkraft" zu verleihen. Unüberzeugend auch Paul Herwig und Christoph Gawenda. Nur Kay Bartholomäus Schulze als Königin Isabella gelängen "ein paar berührend-intensive Augenblicke". Edward II. inszenatorisch in die Mitte der Gesellschaft zu holen, bedeute einen Statuswechsel, der ihm nicht bekomme.
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Aber: Geht es in diesem Stück nicht vielmehr um die alte und neue Günstlingswirtschaft zwischen Politik und (Geld-)Adel und dessen Adjutanten bzw. Emporkömmlingen? Geht es nicht darum, dass das politische Führungspersonal wechselt, die einsame/ängstliche Masse (David Riesman) auf ihren Bildschirmen zuschaut und der Mob bloß dazu benutzt wird, um nach dem von oben herbeigeführten Ausnahmezustand neue Herrscher auf den Thron zu hieven? Eine differenziertere Betrachtung dieses Stoffes geht aufgrund der (zu starken) Setzung in den Gefängniskontext verloren. Der Technikschnickschnack mit den eingeblendeten Stationen des Dramas überdeckt die inhaltlichen Schwächen. Schade.
Stefan Stern war in dieser genannten Ostermeier-Inszenierung wohl der berühmte einäugige unter all den anderen Blinden - und dabei konnten die Schauspieler gar nichts dafür! Was Herr Ostermeier hier abgeliefert hatte, war der schlechte Versuch, etablierte Versatzstücke, wie etwa aus seiner kongenialen Hamlet-Inszenierung, nochmal erprobt gekonnt zu verramschen! Und das hat nicht nur uns Zuschauer, sondern auch die auf der Bühne Agierenden wohl ratlos gemacht! Stern war daraufhin der Einzige, der sich in der Kopie Eidingers wenigstens krampfend abmühte, während alle anderen kapituliert hatten! Und mit Geschmack hat das nichts zu tun: bereits den Ferdinand in Kabale und Liebe von Richter am selben Haus folgten vernichtende Kritiken, Gerettet von Andrews war ein Flop und und und...da überschätzt ein Haus die Fähigkeiten, denn anscheinend will weder die breite Kritik noch das Publikum (...) teilhaben!
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/
Ich sehe da keinerlei künstlerische Unsicherheit oder gar Steifheit oder Verklemmtheit. Oder Nachahmung Eidingers. Im Gegenteil: das ist reife Schauspielkunst. Da scheint Seelisches durch unter der Oberfläche.
Diese komplizierte Mischung aus Verletzlichkeit, Zwang zur Anpassung, Widerstand und Wärme war auch im Len. Das sind Rollengestaltungen von immenser Humanität. Sie zeigen im Weichen, im Looser den Vorschein einer Welt, wie sie besser sein könnte.
Außerdem ist Stern ein Sprecher, der so konzentriert sprechen kann, dass er auch - zumindest mich - mit dieser Kraft der Konzentration in seinen Bann geschlagen hat. Denken Sie nur an den Schlussmonolog. Das ist wirklich bewundernswert.
Ich gebe zu, dass auch ich manchmal fand, dass die falschen Worte betont wurden. Aber das war meistens an Stellen, wenn es eher um den Affekt des Sprechens in dieser sehr affektgeladenen und oft auch widersprüchlichen Inszenierung ging als um die Übermittlung eines Inhaltes.
@ 9: Leerlauf? Wiederholungsmaschinerie? Das war doch durch die Zwischentitel sehr klar und modellhaft gegliedert und auf jeweils ein Thema (in dem sich die Szene nicht erschöpfte) fokussiert. Ich fand das nicht leerlaufend, sondern enorm spannend. Es wurde allerdings sehr leise gesprochen, weswegen man sich schon sehr konzentrieren musste. Ich hab's gerne getan, weil mich diese seltsame Distanz zwischen der szenischen Setzung (moderner Männerknast) und der symbolistischen Übersetzung von Heymel (mit den vielen klassisch-antiken Anspielungen Marlowes) sehr interessiert hat. Es ist auf eine kuriose Weise überraschend, wenn Prolls dichterische Sprache sprechen (und von Königreichen und Peers und so). Aber warum nicht? In jedem Menschen ein Funken Gottes, sagt Janacek. Das ist zwar ein bißchen bildungsbürgerlich. Aber warum darf man nicht auch mal Bildungsbürger sein, sich an der Schönheit dieser Sprache freuen und sich im Theater wundern, dass sie aus dem Munde dieser Menschen kommt? Es hat etwas Utopisches, was das Gefänfnistheater Aufbruch seit über 10 Jahren sogar in die Realität umsetzt.
Zu den Zwischentiteln: Das empfinde ich als Form des Theaters, welches den Zuschauer für dümmer hält, als er eigentlich ist. Muss man wirklich alles mit einer "Überschrift" erklären? Erklärt sich die "Homosexualität" zwischen Edward II und Gaveston oder auch der "Wendepunkt" (als zwei herausgegriffene Beispiele) nicht von selbst bzw. sollte sich das nicht über das Spiel erklären?
Was ich nun aber gar nicht verstehe, ist, was Sie in folgendem Absatz schreiben: "Es ist auf eine kuriose Weise überraschend, wenn Prolls dichterische Sprache sprechen (und von Königreichen und Peers und so). Aber warum nicht? In jedem Menschen ein Funken Gottes, sagt Janacek. Das ist zwar ein bißchen bildungsbürgerlich. Aber warum darf man nicht auch mal Bildungsbürger sein, sich an der Schönheit dieser Sprache freuen und sich im Theater wundern, dass sie aus dem Munde dieser Menschen kommt?" Was meint "Prolls"? Was meint "diese Menschen"? Sind das nicht erstmal alles professionelle Schauspieler? Sind Prolls alle und von vornherein blöd? Viel wichtiger noch: Geht es hier nicht eigentlich ursprünglich um Adlige? Was sagen Sie dazu, dass diese Inszenierung in den Gefängniskontext versetzt worden ist? Für mich geht das nicht auf. Zumal: Folter im Gefängnis. Wie lässt sich ein solches Motiv auf der Theaterbühne darstellen, ohne dass es - wie meines Erachtens hier - zu offensichtlich bzw. effekthascherisch rüberkommt? Dieser nachgespielte Gefängnisfilm wirkt auf mich zu platt, im Sinne von zu wenig verfremdet. Dadurch stellt sich eine Haltung ein, welche das Ganze nicht mehr ernst nehmen kann, wodurch eine (Mit-)verantwortung von Seiten des Zuschauers für das Gehörte und Gesehene von vornherein suspendiert wird. Ist das der Sinn der Sache/Inszenierung? Eine Ästhetisierung des Schreckens und/oder eine pornographisch-voyeuristische Nutzung von Gewaltbildern? Wohl nicht. Oder?
Die Weichheit der Figur ist sicher eine Eigenschaft des Marlowschen Edward. Die Kaltschnäuzigkeit eine andere. Es ist gar nicht selten, dass Menschen beides in sich haben.
Man sollte Eigenschaften auch nicht typisieren. Wenn Edward einer ist, der aus Schwäche brutal wird (als Notwehr), aber auch eine große Sehnsucht danach und nach Zartheit hat, dann heisst das doch nicht, dass alle Homosexuellen so sind. Wir müssten doch mittlerweile gelernt haben, dass es in jeder soziologischen Zuordnung (ich vermeide populärere Begriffe, um nicht gleich wieder angegriffen zu werden) alle möglichen Arten von Charaktereigenschaften zu finden sind. Edward ist nicht der Typus eines Schwulen, sondern der Typus eines Menschen.
Ihr 3. Absatz mit den Prolls bezieht sich auf eine theoretische Frage, die nicht zu beantworten ist: Darf ein professioneller Schauspieler etwas darstellen, was er nicht ist oder ist das eine Zuschreibung, die er unberechtigter Weise vornimmt. Die alte Brecht-Stanislawski-Debatte: Einfühlung oder Vorführen? Meiner Meinung nach kann man beides machen, wenn man es gut macht. Und man kann beides auch schlecht machen. Natürlich ist mir bewußt, dass die Herren hier etwas vorführen, womit sie nicht 100% identisch sind. Es ist eben ein Bild von der Welt, gemacht von bestimmten Leuten mit einem bestimmten gesellschaftlichen usw. Hintergrund. Aber jetzt stelle ich mir mal Bushido oder Dieter Bohlen vor, die diese wunderschönen Marlowe/Heymel-Sätze sagen würden. Das gibt mir zu denken. Das ist es, was diese Übermalung mir zu denken gegeben hat. (...)
Mit dem Begriff "effekthascherisch" habe ich Probleme. Mir kommt der Abend zu reflektiert dafür vor.
Und was die Zwischentitel anbelangt. Das ist doch gutes altes Brecht-Theater: Der Versuch, ein bißchen Reflektion und Klarheit in eine wüste Geschichte bringen. Sich eben nicht identifikatorisch reinfallen zu lassen, sondern immer wieder die Frage reflektieren, wieweit hier Mechanismen zu erkennen sind. Ich finde die Methode an sich weder genial noch schlimm, sondern es funktioniert einfach. Das ist ein simples Mittel.
Mit dem Gefängniskontext geht es mir genauso. Ich finde nicht, dass das jetzt DIE GÜLTIGE Interpretation ist. Das ist einfach ein Denkanstoß, der einen Aspekt aufscheinen lässt und andere zerstört. Es ist eben EINE Interpretation, EINE Fassung. Und außerdem dachte ich an Hamlet: Dänemark ist ein Gefängnis. Manchmal sind Eulenspiegeleien - die Sprache beim Wort zu nehmen - gar kein übles Mittel, um den Betrachter mit der Nase wieder auf die einfachen Wahrheiten von Texten zu stoßen. Dass da jeder so als Monade in seinem Gefängnis hockte, fand ich ein ganz nettes Aperçu zu dem Stück. Es wurde ja auch dadurch ironisiert, dass sie sich dann doch relativ frei von Kabäuschen zu Kabäuschen bewegen konnten. So richtig ernst hat es Ivo van Hove offenbar nicht genommen. Es ist halt bloß ein Spiel, eine Metapher.
P.S. Seinen Menschenfeind fand ich übrigens ziemlich blöd. Bin also kein van Hove-Fan. Hier hat mich auch weniger die Inszenierung gepackt als die Intensität des Menschlichen und der Sehnsucht nach Menschlichkeit.
Ich finde es zu billig, das Problem Edwards II auf die Ideologie des Humanismus zu reduzieren, denn es geht um mehr. Foucault schreibt dazu: "Wir aber wollen die Institution angreifen, die in der schlichten und grundlegenden Ideologie gipfelt, welche sich in den Begriffen von Gut und Böse, Unschuld und Schuld ausdrückt. Wir wollen diese gelebte Ideologie in den Institutionen verändern, in denen sie sich konkretisiert und reproduziert. Vereinfacht gesagt: der Humanismus besteht darin, das ideologische System verändern zu wollen, ohne an die Institution zu rühren; der Reformismus besteht darin, die Institution zu verändern, ohne ans ideologische System zu rühren. Die revolutionäre Aktion hingegen definiert sich als gleichzeitige Erschütterung des Bewußtseins und der Institution; dies setzt voraus, daß man zum Angriff auf die Machtverhältnisse übergeht, deren Instrumentarium Bewußstsein und Institution sind." (aus: "Von der Subversion des Wissens")
Oder anders gefragt: Wie kann man Soldaten in den Krieg schicken und gleichzeitig von der "Intensität des Menschlichen" und der "Sehnsucht nach Menschlichkeit" sprechen? Um solche (Selbst-)Widersprüche hätte es hier gehen können.
http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6482:festivaluebersicht&catid=635:festivaluebersicht
Da Edward II sich nun aber dem Kriegsbefehl verweigert und lieber seine Liebe zu Gaveston zelebriert, hat er in den Augen seiner Konkurrenten seine "Führungsqualitäten" als Machthaber verloren. Anstatt jetzt sein politisches Geschäft konsequenterweise ganz aus der Hand zu legen, beginnt Edward II einen Bürgerkrieg gegen seine Konkurrenten, das heisst, es geht plötzlich nicht mehr um den "äusseren", sondern um den "inneren" Feind.
Was mich an diesem Setting stört, ist - noch einmal - der Gefängniskontext, denn wenn der Konflikt in einem Gefängnis stattfindet, dann verliert er für mich die gesamtgesellschaftliche Relevanz. Und darum müsste es gehen. Das Gefängnis ist nach Foucault der Ort, welcher "das Böse" in Bezug auf die gesellschaftliche Mitte zugleich ein- und ausschließt. Das Gefängnis ist der Ort, worüber sich die Mehrheitsgesellschaft in einer Form der Abgrenzung definiert. Das heisst, der Ausnahmezustand ist eben nicht nur im Gefängnis zu finden, sondern er ist permanent. Dazu Agamben: "entscheidend ist vielmehr, daß das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und Innen, z o é und b í o s, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten. Der Ausnamezustand, in dem das nackte Leben zugleich von der Ordnung ausgeschlossen und von ihr erfaßt wurde, schuf gerade in seiner Abgetrenntheit das verborgene Fundament, auf dem das ganze politische System ruhte." (aus: "Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben").
"Und 'Lesen' meint hier 'Denken' / Mit anderem Verstand / Indem/in dem man liest, Gedanken sucht und findet / Die dann zitiert verbindet, das ist Technik / Und wer sie nutzt macht sich verdächtig / Wird unberechtigt Ladendieb genannt. / So wird ein Zeichensprecher Schwerverbrecher / So wird Gebrauchsgegenstand / Zwingend Mordinstrument" ("Sing Sing" aus dem Album "Die Welt ist schön")