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Ein Schelm im Freiheitswunderland

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 17. Dezember 2011. Das waren noch Zeiten, als die feministisch ambitionierte Rockröhre Gianna Nannini 1979 auf dem Cover ihrer "California"-LP die Fackel der amerikanischen Freiheitsstatue durch einen Vibrator ersetzte und damit im katholischen Italien einen Skandal landen konnte. Zumal sich auf der Scheibe auch der Song "America" befand, der die sexuelle Befreiung der Frau durch die Genüsse der Selbstbefriedigung hochleben lässt.

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Leise rieselt Sand in "Frey!" © Cecilia Gläsker

Wie sich Freiheit definiert, wie und ob sie sich wirklich erfüllen kann, welche Lebensbereiche sie objektiv oder subjektiv umfassen darf oder muss, ist einer der komplexesten theoretischen und praktischen Fragen, mit denen sich die Menschheit auseinanderzusetzen hat. Nicht erst seit der Aufklärung und Kants Forderung der Befreiung des Menschen "aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Von daher trifft Jan Neumanns neuestes Stück "Frey!", das jetzt in der kleinen Spielstätte "Nord" im Probenzentrum des Stuttgarter Staatsschauspiels in Bad Cannstatt uraufgeführt wurde, ein so gut wie immer aktuelles Thema.

Simplicissimus auf Schelmenreise

Wie so oft bei Neumann entwickelte und schrieb der Regisseur auch dieses Stück erst im Probenprozess mit den Darstellern. Man ging dabei spielerisch und assoziativ zur Sache. Gemäß den Worten Schillers, die zitiert werden: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Spielen bedeutet Freiheit. Das "als ob" wird zum Programm. Perücken und Schnauzer kommen an diesem Abend bewusst dilettantisch zum Einsatz, die perfekte Maskerade erspart man sich, Travestie ist dennoch Pflicht.

In "Frey!" lässt Neumann den Schelmenroman aufleben – episodenhaft und prosaisch sind seine Texte ohnehin, es wird viel und in rasantem Tempo erzählt. Hier schickt er seine kaspernde und chaplineske Hauptfigur "Friedemann Frey, Verwaltungsangestellter einer namhaften deutschen Versicherungsgesellschaft" auf Reisen, als wär's der Simplicissimus: In der Daseinsfalle zwischen Versicherungsbüro, Durchschnittsfamilie und Kegelbahn packt Frey (Gabriele Hintermaier) eines Tages die Torschlusspanik.

Ein Traum, was sonst

Er macht sich aus dem Staub, taumelt ziellos, passiv und staunend durch die Welt wie Alice im Wunderland. Sucht die Abgeschiedenheit der Berge, lebt bei einem Einsiedler (Jens Winterstein), der sich erst durch den Tod seiner lange Jahre schwerkranken Frau befreit fühlte. Landet auf einem Kreuzfahrtschiff, wo er in die Ernährungsgewohnheiten von Wohlstandsschnepfen und in die Missbrauchsgeschichte von Jutta (Sebastian Röhrle) eingeführt wird und nebenbei noch einiges über sadomasochistische Lustbefriedigung erfährt. Trifft in New York auf den Biker Zotti (Matthias Kelle), einen Heidegger zitierenden Ex-Knacki, um dann in einem Hotel in Las Vegas an eine recht morbide Rezeptionistin (Silja Bächli) zu geraten, die ihm den Selbstmord schmackhaft machen will. Sie selbst stamme aus einer Familie, in der "der Freitod eine große Tradition" habe. "Warum soll man dieses Leben wollen", fragt sie Frey, "das einem gegeben wurde, ohne dass man es wollte, und das man sowieso längst nicht mehr selbst lebt."

Um ein Ende zu finden in der schier überbordenden Thematik, bedient sich Neumann eines alten Theatertricks: Frey erwacht, sitzt vor seinem Computer, und "vor ihm schimmern Statistiken und Tabellen". Alles nur erträumt, nichts gelebt. Der Kreis schließt sich. Die Sinnsuche kann von vorne beginnen.

Anarchische Freude an Zungenzerbrechern

In Matthias Werners Bühnenbild – unter einem weißen Gazezelt, von dessen Decke tropfenförmig sich ausbeulende weiße Säcke herunterbaumeln, aus denen leise Sand und mit ihm die Zeit rieselt – entwickeln sich witzig-absurde Szenen: Etwa wenn Frey auf dem Boden liegende Büroangestellte an ihren rosa Krawatten – Symbole der Unfreiheit – durch die Gegend schleift. Oder wenn der Sturm in den Bergen, der Frey beim Aufstieg zu schaffen macht, von den Darstellerkollegen hör- und sichtbar gemacht wird, indem sie ins Mikro pusten, ihm die Haare zerzausen und seine Krawatte zittern lassen, während sie selbst ihre Häupter in der Anzugsjacke verstecken, jetzt kopflos sind.

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Beim Rollenhopping in "Frey!" © Cecilia Gläsker

Gegenüber solch lustvoll komödiantischen Szenen wirkt so manch andere Episode, wenn sie im Stehtheater verharrt, blass. Lange Monologe bringen den Abend dann in die Nähe zum Hörspiel. Nichtsdestotrotz begeistert das comedyhafte Rollen-Hopping, in das sich das fünfköpfige Ensemble spielsüchtig stürzt. Es bewältigt auch recht sicher die Unmengen von Text, der mit einer anarchischen Freude an Zungenbrechern, am Absurden und am sinnfreien Klang auftrumpfen kann – wenn auch der Zwang zur Alliteration und zum Reim gelegentlich die Grenze des Erträglichen überschreitet, etwa als Frey sinniert: "Wann hab ich denn zuletzt gewichst? Das ist ja nun auch schon was her. Ich weiß gar nicht mehr. Wann hab ich gewichst ohne Witz! Ich mach öfter Witze, als dass ich wichse. Und auch noch schlechte."

 

Frey! (UA)
von Jan Neumann
Regie: Jan Neumann, Bühne: Matthias Werner, Kostüme: Dorothee Curio, Musik: Thomas Osterhoff, Dramaturgie: Kekke Schmidt.
Mit: Silja Bächli, Gabriele Hintermaier, Matthias Kelle, Sebastian Röhrle, Jens Winterstein.

www.staatstheater-stuttgart.de


Mehr zum Original-Simplicissimus, dem barocken Helden? Florian Fiedler inszenierte den Roman in Hannover, Thomas Dannemann kompilierte den 1000-Seiten-Wälzer 2009 in Köln.


Kritikenrundschau

Auf der Webseite des Deutschlandfunks (18.12.2011) schreibt Cornelie Ueding, fünf Personen "winden, witzeln, stöckeln, kämpfen, verkleiden sich durch Dutzende von Figuren, Situationen, Stereotypen". Dabei würden "alle gängigen Vorstellungen von Freiheit durchdekliniert". Nicht als schwer lastendes, ambitioniertes philosophisches Quintett, sondern als "schrille Bagatelle über Freiheitssüchtelei oder -wahn 2011". Nichts sei zu "ausgelutscht oder abgelegen, zu kurios oder lasziv", dass es nicht von den "Verwandlungs-Virtuosen" als Varianten des Prinzips Freiheit in Szene gesetzt würde. "… verkiffte Heidegger-geschädigte Rocker, eine schwäbelnde Stuttgarter Domina mit Schweineschlachten im Programm, (…) oder unerhörte Bekenntnisse eines Missbrauchsopfers". Zwischen all diesen "schrägen Monstrositäten" Frey, "halb Parzival, halb Peer Gynt", wie ein "von Kafka gezeichnetes Strichmännchen rutscht er bald dazwischen, hechtet rein, duckt sich, boxt sich durch". Worum es Frey gehe, sei nicht auszumachen. Nebenbei persifliere dieses "auf witzige Art pseudo-dokumentarische Stationentheater", das nichts sei als "hinreißendes, virtuosestes Schauspieler-Theater", die "realiensüchtige Performance-Mode à la Rimini-Protokoll".

Der animistische Zauber von Jan Neumanns Theaterkunst verleihe allem eine Seele, "dem deutschen Durchschnittsbürger, dem leeren Raum, Töpfen und Pfannen - und einem Text, der für sich betrachtet kaum der Rede wert wäre, auf der Bühne aber zu leben beginnt", schreibt Stefan Kister in der Stuttgarter Zeitung (18.12.2011). Neumann und seinen "wunderbaren Schauspielern" gelängen Einblicke und Atmosphären, wie sie den größten Effektmaschinen bis hin zum Film in der Regel versagt blieben. Manchmal freilich blicke das Nichts durch Lücken und luftige Passagen drohend herein, werde das wundersame Hirngespinst dieses Freiheitstraums gefährlich fadenscheinig. Doch vor dem Sturz ins Bodenlose bewahre die Hauptperson, Herrn Frey, immer wieder in letzter Minute "eines jener kleinen Theaterwunder, die es Neumann und seiner Theatertruppe zuverlässig gelingt zu entbinden."

In den Stuttgarter Nachrichten (19.12.2011) schreibt Armin Friedl: Schauspieler, Dramaturgen, Assistenten, Techniker und der Autor und Regisseur Jan Neumann hätten sich über den Begriff "Freiheit" zusammengesetzt und "im Probenverlauf das Stück entwickelt ". Das Resultat sei ein "sehr assoziationsreiches Spiel". Episodenerzählungen seien "locker aneinandergefügt und befassen sich mal mehr, mal weniger eng mit dem vorgegebenen Thema Freiheit". Die auftretenden Figuren hätten keine "psychologische Tiefenschärfe", träten eher als Vertreter einer bestimmten Meinung in Erscheinung. Manchmal mutierten die Darsteller zu "sprechenden Kegelfiguren oder Straßenlaternen". Lediglich Gabriele Hintermaier bleibe Herr Frey, "stets korrekt aussehend, …. auch charakterlich immer sehr gefasst". Die Entourage um diesen Herrn Frey werde "immer schriller", und die "Travestien werden immer witziger". Mit "Liebe und Sorgfalt" hätten die Akteure ihre Rollen "ausgestaltet". Trotz dürrer Rahmenhandlung entstehe ein "kurzweiliges und witziges Spiel mit einigen Überraschungsmomenten".

"Das nennt man wohl postdramatisches Theater: keine Idee haben, sie aber multiperspektivisch ausagieren", befindet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.12.2011). "Auf der Bühne geht es dann auch zu wie im workshop in progress." Dabei sei "Frey!" "nicht Nichts": "Die Spielfreude der Akteure ist ansteckend, aber über weite Strecken erinnert der Abend doch an eine szenische Stoffsammlung und manchmal auch nur an ein Hörspiel, in dem Tierstimmen, Verkehrsgeräusche und Probleme eines gelungenen Lebens imitiert werden." Zum Sinnsucherdrama fehle es "Frey!" an Größe und Geschlossenheit, zum philosophischen Slapstick an Witz und Timing und zur nachhaltigen Erfahrung die auch für frisch-fröhlich-freie Theatersportler unverzichtbare Idee.

Als "betörend schönes, tieftrauriges Theater" hat Adrienne Braun von der Süddeutschen Zeitung (30.12.2011) diesen Abend empfunden. Bereits Titelheld Friedemann Frey rührt die Kritikerin an: "Wer ist dieses Männlein, das mit hängenden Schultern und zu großen Schuhen wie Charlie Chaplin durchs Leben stolpert? Ein Niemand, ein Nichts, einer wie alle". Freiheit laute das Spielzeitthema des Stuttgarter Schauspiels. In 'Frey!' entpuppt sie sich "als Schimäre, als trügerische Illusion". Jan Neumann habe sein Stück aus der Improvisation mit dem Ensemble entwickelt und spanne den Bogen "von der Petitesse bis zur Philosophie". Er inszeniere seinen Text "als eine Art szenisches Hörspiel, bei dem die Akteure mit wenigen Handgriffen Schauplätze andeuten und Geräusche simulieren." Es sei ungeheuer komisch, wie Silja Bächli, Matthias Kelle, Sebastian Röhrle und Jens Winterstein Straßenlaternen und Bratpfannen mit Antihaftbeschichtung spielen oder Vorstadt simulieren. Neumanns Sprache beschreibt die Kritikerin dabei als "lustvoll spielerisch." Auch erinnert "Frey!" Adrienne Braun "ans expressionistische Stationendrama, das letztlich ins eigene Ich führt."

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