Alle waren aufgeregt

von Rainer Nolden

30. Dezember 2011. "Sie wissen, wie hoch ich Ihr Talent schätze. Und eben deshalb bin ich verpflichtet, Ihnen gegenüber ganz offen zu sein. Und das ist mein ganz freundschaftlicher Rat: Hören Sie auf, fürs Theater zu schreiben. Das ist überhaupt nicht Ihr Fach."

Diese Zeilen sandte Alexander Pawlowitsch Lenski (1847 – 1908) dem Dramatiker Anton Tschechow, dessen Stück "Die Möwe" er vor der Uraufführung gelesen hatte. Lenski, Schauspieler und Regisseur, schien mit seinem Urteil recht gehabt zu haben, denn das vom Autor als "Komödie" bezeichnete Drama fiel bei seiner Premiere am 17. Oktober 1896 im Alexandrinski-Theater in St. Petersburg mit Pauken und Trompeten durch. "Die Schauspieler waren aufgeregt. Sie hatten lange keine Klarheit über die Figuren, wie sie der Autor konzipiert hatte, und vermochten auch keine passende Intonation zu finden. Offensichtlich griffen sie zu ihren abgedroschenen Klischees und spürten, dass all die Klischees weder zu diesen Worten noch zu den Szenen passten." Mit scharfsinnigem Blick analysierte der Regisseur und Gründer des Moskauer Künstlertheaters, Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko, die Schwächen – nicht des Stücks, sondern derjenigen, die es zur Aufführung bringen sollten.cover-tschechow

Das gab es vorher nicht

Wie sollten sie auch die Langeweile und den Überdruss, die Einsamkeit und die Verzweiflung der Menschen vor der russischen Revolution 1905 darstellen? Theaterstücke, wie Tschechow sie schrieb, hatten sie vorher nicht gekannt. Es gibt wenig Handlung, wenig "Dramatik" in seinen "Komödien", dafür viel Stille und Seelenanalyse. Diesem Anspruch konnten die Mimen mit dem, was sie gelernt hatten, nicht gerecht werden. Sie waren es gewohnt, ein Stück ein paar Mal zu proben, in der Regel durchlaufend vom ersten bis zum letzten Akt, ohne an einzelnen Szenen oder Situationen zu feilen oder sich gar Gedanken zu machen über die Charaktere, die man verkörperte. Kein Wunder also, dass sie überfordert waren mit der Aufgabe, die Rat- und Orientierungslosigkeit ihrer Charaktere zu verinnerlichen, die Tschechow auf geradezu schmerzhafte Weise bloßgelegt hatte.

Es war eben jener Nemirowitsch-Dantschenko, der gemeinsam mit dem Regisseur und Schauspieler Konstantin S. Stanislawski sowie dem Dramatiker Anton Tschechow den um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in hohler Pose erstarrten Betrieb entrümpelte und zu einer wichtigen Stimme im Moskauer Kulturbetrieb machte. Die Schwierigkeiten, die die Künstler dabei zu überwinden hatten, waren immens: Es fehlte an Geld, an einem geeigneten Theater, an Schauspielern, die bereit waren, nach der "Stanislawski-Methode" zu arbeiten. Also rekrutierten die beiden ihr Ensemble weitgehend aus dem Nachwuchs, der, unverbogen und unverbildet von der "klassischen Schauspielerei", aus der Schauspielklasse der Moskauer Philharmonischen Gesellschaft kam.

Zärtliche Dankbarkeit

Den holprigen Weg von der Idee bis zur Umsetzung beschreibt Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko in seinen Erinnerungen, die jetzt zum ersten Mal in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Interessanter als die Rekonstruktion des steinigen Wegs freilich, und das hebt diesen Band von anderen ab, die sich mit dem Theater seiner Zeit beschäftigen: Im Laufe seiner Zusammenarbeit mit Tschechow ist er dem Dramatiker näher gekommen als alle anderen, die mit ihm zusammengearbeitet haben.

Dank seiner genauen Beobachtungsgabe und seinem Einfühlungsvermögen, das sich nicht auf seine Arbeit am Theater beschränkte, lässt er den Schriftsteller selbst lebendig vor dem Auge des Lesers entstehen – mit all seinen kleinen Absonderlichkeiten, seinen Ängsten und Unsicherheiten, seinem skurrilen Humor, den nagenden Zweifeln und stillen Triumphen und der Sorge um seinen Gesundheitszustand, der sich zusehends verschlechterte: "Man nahm jede neue Sache von ihm bereits nicht mehr mit der üblichen Sorglosigkeit eines Lesers auf", notiert Nemirowitsch-Dantschenko, "sondern mit einer gewissen zärtlichen Dankbarkeit und dem Bewußtsein, daß hier schon fast erlöschende Kräfte noch einmal voll dargeboten wurden."

Wir erfahren, wie Tschechow über Kollegen dachte, den geschätzten und weniger geschätzten, wie er ihre Fähigkeit, scheinbar mühelos und publikumswirksam zu schreiben, beneidete und dennoch nie in Versuchung geriet, den eigenen Weg zu verlassen und bequemere Pfade einzuschlagen. Und dass er sich, bei aller Liebe zur Literatur, stets und vor allem als Mediziner sah. Wenn man ihn auf seine Tätigkeit als Schriftsteller "reduzieren" wollte, entgegnete er gekränkt: "Erlaube mal, ich bin doch Arzt." Nicht zuletzt wird die Beziehung Tschechows, dieses "Frauenverehrers", zu Olga Knipper und ihrer beide Heirat mit äußerster Diskretion mehr angedeutet als geschildert.

Aus den Fugen

Gut möglich, dass Tschechow heute zur Riege der Boborykins, Krylows oder Gneditschs gehören würde, seinerzeit berühmte, inzwischen längst vergessene Dramatiker, hätte er Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko nicht getroffen. Gut möglich auch, dass deren "neues" Theater ein anderes geworden wäre, hätten sie nicht Tschechows Texte als Vorlage gehabt, die ihnen die dramaturgische Richtung vorgaben. Auf jeden Fall, diese Behauptung darf gewagt werden, hätte das russische und auch das europäische Drama, das Anfang des 20. Jahrhunderts vom "russischen Weg" nachhaltig beeinflusst wurde, andere Wege eingeschlagen, wäre es nicht zu dieser Begegnung gekommen, deren Nachwirkungen bis heute zu spüren sind, wo derzeit wieder einmal eine Welt aus den Fugen geht.

Die Auflösung gesellschaftlicher Konventionen, die Auswirkungen auf das Individuum, die hilflose Suche nach einem Ausweg und das Scheitern in der eigenen Biografie – all das macht Tschechow, den abenteuerlichen Avantgardisten, für zeitgenössische Theaterschaffende reizvoll genug, um mit seinen Stücken einen beträchtlichen Teil der aktuellen Spielpläne zu bestücken.

Wie das Trio Tschechow, Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko zusammenfand, sich zusammenraufte, stritt und diskutierte, oft auch davorstand, wieder getrennte Wege zu gehen und sich dann doch wieder gegenseitig in seinen Zielen bestärkte und stützte, schildert Nemirowitsch-Dantschenko  quasi in permanenter Nahaufnahme.

Ergänzt wird der von Dieter Hoffmeier herausgegebene Band durch Auszüge aus Stanislawskis Notizheft, in dem er von seinen Begegnungen und seiner Arbeit mit dem Dramatiker berichtet. Und obwohl dieser mit Stanislawskis Regie- und Schauspielarbeit hart ins Gericht ging, hat Letzterer seine –  bei den Kollegen so scharf verurteilten – Eitelkeiten auf geradezu vorbildliche Art überwunden und stellenweise sogar ein sehr liebevolles Porträt des Menschen gezeichnet, dem Stanislawski seine ersten großen Erfolge als Theatermacher zu verdanken hatte.


Konstantin Stanislawski, Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko
Tschechow oder die Geburt des modernen Theaters. Herausgegeben, aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Dieter Hoffmeier.
Alexander Verlag Berlin 2011, 360 Seiten, 24,99 Euro    


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