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Marseillaise im Theatermuseum

von Esther Slevogt

Berlin, 3. Januar 2012. Am Ende der Pause, da fürchtet man kurz, das berühmte Revolutionsdrama könnte einen unverhofften Verlauf nehmen: Dass nämlich an diesem Abend der Kopf von Claus Peymann rollen könnte und nicht der Dantons und seiner Freunde.

Denn das Publikum hat sich noch nicht wieder wirklich auf seinen Sitzen eingefunden, da ergreift im ersten Rang plötzlich eine Handvoll Menschen lautstark das Wort und weist auf soziale Missstände am Berliner Ensemble hin: "Gesellschaftskritische Stücke spielen, und gleichzeitig Menschen ausbeuten!", das sei die Wirklichkeit an diesem Theater, hören wir also wohlorchestriert einen Sprechchor skandieren, der dazwischen immer wieder dumpf grollend in den O-Ton des Büchner'schen Volks verfällt, das dieser Dramatiker ziemlich illusionslos als eine von politischen Führern formbare und wenig Hoffnung erweckende Masse beschrieben hat. Auch die Kostümierung der Demonstranten (der Wortführer trägt Hosenträger und Schiebermütze und skandiert in eine Flüstertüte) macht natürlich keine Sekunde wirklich glauben, hier nun sei die Wirklichkeit in das Theater eingebrochen. Dass sich also die Zuschauer tatsächlich erhoben hätten, um gegen Intendant und Regisseur Claus Peymann zu demonstrieren.

Mit großem Ensemble auf großer Bühne

Und so erlischt nach einem Flugblattregen dann doch das Licht, und wir sehen im zweiten Teil des Dramas auf Karl-Ernst Herrmanns schwarz gerahmter, dreieckiger Schräge, die spitz auf eine Guillotine zuläuft, die Dinge unaufhaltsam ihrem Ende entgegen gehen: Danton und seine Freunde und nicht etwa Claus Peymann und sein Team werden einen Kopf kürzer gemacht. Peymann und die Seinen nahmen dafür am Ende freudig die Ovationen des Zuschauervolks entgegen.

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Ulrich Brandhoff alias Danton in der Hand der jakobinischen Häscher. © Monika Rittershaus

Und zwar gerade dafür, dass alles in geordneten Bahnen verlief, keine Kunstrevolution oder sonstige postdramatische Entgleisung zu verzeichnen war, sondern wirklich nichts als Theater gespielt wurde, mit großem Ensemble auf großer Bühne: mit einem blond gelockten jungen Danton (recht frisch vom Wiener Reinhardt-Seminar: Ulrich Brandhoff) als vergrübeltem Visionär und glutäugigem Fanatiker mit existenzialistischen Anflügen und bleich geschminktem Gesicht; einem entsprechend verkniffen daherkommenden Robespierre mit strengem Lagerfeld-Zöpfchen, schwarzem Outfit und eckig verklemmten Stummfilmbewegungen (Veit Schubert). Die Herren sind meist wie im Comic (oder in Robert-Wilson-Inszenierungen) ins Schrille zugespitzt, Georgios Tsivanoglou als St. Just zum Beispiel: eine Figur wie der Böse "Joker" aus einem "Batman"-Film mit wallendem Haarkranz um die Glatze und einer aasigen Gemütlichkeit, die später ins Brutal-Demagogische kippt.

Theater-Rokoko

Dagegen sind die Damen in den tragenden Rollen ganz und gar vom uralten Pathos des bürgerlichen Trauerspiels beseelt: Katharina Susewind als Danton-Gattin Julie und Antonia Bill als Lucile Desmoulins, die ihren Blick gelegentlich ins Irre kippen lässt und am Ende zirpend ein Liedchen anstimmt, selbstredend jenes vom Schnitter, der Tod heißt. Tragische Alltagsheldinnen, deren filigrane Gefühlswelt auf dem Altar der Geschichte geopfert wird. O Theaterschmerz!

Im Berliner Ensemble herrschen ansonsten schrillstes Theater-Rokoko und zugespitzte Künstlichkeit. Manchmal (etwa bei der Ausstattung der Büchner'schen Grisetten) gibt es Anklänge an die Zwanziger Jahre, als die Revolution der Nazis vor der deutschen Haustür stand. Und als Dantons Frau Julie ihren jungen Sohn zum Abschiednehmen vor der Hinrichtung in Dantons Zelle schickt, tut sie das mit so stoischer Contenance, dass sie (in einem entsprechenden Fernsehspiel) glaubhaft auch die Ehefrau eines 20.-Juli-Widerständlers gegen Hitler kurz vor dessen Hinrichtung in Plötzensee geben könnte. Das Kostüm mit den Fourties-Anklängen und das Kind in zeittypischen kurzen Hosen tun ein Übriges zu dieser Assoziation.

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Karl-Ernst Herrmanns wilsoneske Bühne im Berliner Ensemble. © Monika Rittershaus

Peymann sucht das Allgemeingültige in Büchners Revolutionsdrama, das immer wieder die Ideologie gegen die Utopie des privaten Glückes stellt – und die Notwendigkeit von Revolte und Veränderung trotzdem nicht bezweifelt. Er will den Fanatismus aller Couleur geißeln und auch die Revolution nicht beschönigen, wenn sie am Ende zum Terror führt statt zur Weltverbesserung. In Interviews hat Peymann sich auch von den Revolten im arabischen Raum zu seiner Inszenierung angeregt gezeigt.

Anklänge an Robert Wilson

Immer wieder arrangiert Claus Peymann sein Ensemble zu großen Tableaus, etwa wenn der Deputierten-Ausschuss Partei für den angeklagten Danton ergreift. Wie schwarze, finstere Vögel und gleichzeitig Kasperlefiguren erheben sich die aufgepeitschten Deputierten rechts und links hinter den enormen schwarzen Wänden, die die dreieckige (rote) Spielfläche begrenzen und wuchten schließlich Trikolore-Dart-Pfeile in den Zuschauerboden, während sie bedrohlich militaristisch die "Marseillaise" intonieren. Auch hier grüßt die grelle, reduzierte Ästhetik Robert Wilsons, die Peymann schon in früheren Inszenierungen sichtlich beeinflusst hat.

Die stärkste Reminiszenz daran ist der Auftritt von Wilsons Lulu Angela Winkler als Hure Marion, die hier noch einmal ein prächtiges Solo als gespenstisch alterslose Kindfrau hat und trotzdem eine recht klischeehafte Verkörperung von Eros und Thanatos in Personalunion bleibt. Am Ende haben die jakobinischen Demagogen gesiegt. Das Volk, das tümliche, an dessen Souveränität und geschichtsbildender Kraft Büchner bereits Zweifel hatte, bevor Karl Marx es überhaupt zur geschichtsbildenden Kraft erhob, begleitet gaffend und geifernd die Revolutionäre aufs Schafott. Peymanns Theatermittel sind alt, aber sie scheinen zu funktionieren. Soll man da jetzt den jakobinischen Kunstrichter spielen?


Dantons Tod
von Georg Büchner
Regie: Claus Peymann, Bühne: Karl-Ernst Herrmann, Kostüme: Mads Dinesen, Wicke Naujoks, Julia Schweizer, Musikalische Leitung: Martin Klingeberg.
Mit: Ulrich Brandhoff, Roman Kanonik, Felix Tittel, Norbert Stöß, Veit Schubert, Georgios Tsivanoglou, Boris Jacoby, Roman Kaminski, Martin Schneider, Ursula Höpfner-Tabori, Katharina Susewind, Antonia Bill, Anke Engelsmann, Angela Winkler, Claudia Burckhardt, Gerd Kunath, Uli Plesmann, Michael Rothmann, Stephna Schäfer, Marko Schmidt, Martin Seifert Jörg Thieme, Thomas Wittmann, Rubens Dehniger, Joel Eisenblatt, Kim Leander Quint.

www.berliner-ensemble.de


Kritikenrundschau

Neue Interpretation, Bezug zu aktuellen politischen Geschehnissen: Fehlanzeige, urteilt Andrea Gerk im Deutschlandradio Fazit (3.1.2012). Vielmehr wirke der Abend wie eine "Expressionismus-Parodie". "Während Büchners Text eine ungebrochene Faszination und Modernität besitzt, er die Grenzen der Gattung sprengte und eine ungeheuer berührende poetische Kraft besitzt, bleibt diese Inszenierung weit hinter der Modernität der Vorlage zurück." Alles bleibe künstlich, zum Teil sogar albern, ohne nachvollziehbare Vision. Als Zuschauer fühle man sich "wie in einem Theatermuseum, wo man einer furchtbar altbacken wirkenden Gattung beim Aussterben zusehen darf."

Claus Peymanns "Vom-Blatt-Inszenierung" komme ohne jedes erkennbare Motiv aus, so Michael Laages im Deutschlandfunk (4.1.2012). Die Spielweise, die Peymann dem Ensemble verordnet habe, stehe jeder Zeitgenossenschaft dezidiert im Wege. "So sehen wir eine zugleich recht schlicht und sehr angestrengt einhertappende Inszenierung eines Textes, der halt mal wieder 'dran' war." Das Ensemble bleibe durchweg schwach an Profil, selbst die großen Wortgefechte seien hier "nichts als nur laut".

Es habe schon schlimmere Peymann-Inszenierungen gegeben, "noch lautere, noch selbstgerechtere, noch pappigere, noch naivere", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.1.2012). Büchners geschichtsdramatischem Monstrum begegne Peymann wenig überraschend mit "gestrigen und tattrigen" Theatermitteln. "Es gibt keinen einzigen glaubwürdigen Ton zu hören, der nicht irgendwie ausgedacht, angefertigt und abgespielt klingen würde." Aber, siehe oben.

Claus Peymann habe ja das Verdienst, weiterhin große Stücke in weitgehend unverhauenen, nicht schneidig oder dümmlich "dekonstruierten" Fragment-Versionen zu spielen und seinen Akteuren statt der schieren Moderation von Rollen noch deren Charaktere anzuvertrauen, schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel (5.1.2012). Obwohl er auch mit Dantons Tod so verfahren sei, sei "ein ziemliches Trauerspiel" dabei herausgekommen. "Die Aufführung hat keinen Danton. Und es gibt hier kein Berliner Ensemble. Es gibt ein Ensemble, schlecht und recht, mit ein paar solistischen Größen. Das schon. Und es gibt viel erkennbar gut Gemeintes. Aber daraus wird noch nicht Büchners Feuer. Nur ein milder Abglanz."

Für Matthias Heine sah es in der Welt (5.1.2012) aus, "als hätte man die Ausstattung einer alten Robert-Wilson-Inszenierung in diesem Theater am Berliner Schiffbauerdamm vom Sperrmüll zurückgeholt." Während man die drei Stunden absitze, vergolde sich die Erinnerung an Wilsons BE-"Danton", der mittlerweile 13 Jahre zurückliegt. "Am schlimmsten wird es, wenn Peymann das Publikum mit Einfällen behelligt. Die haben bei ihm ja schon seit Langem eine Tendenz zur Putzigkeit." Da würden Frankreich-Fähnchen geschwenkt und Klopapierrollen geworfen, und "so dengelt der Abend dahin. Keine Katastrophe, nur Mittelmaß, das im krassen Gegensatz zu den Ansprüchen des Regisseurs und zur Größe des Stücks steht."

Ein Lob bekommt Karl-Ernst Herrmanns Bühne von Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung (5.1.2012). Dieser "nachtschwarzen Bühne" gewinne Claus Peymanns Regie einige Schatteneffekte und schöne Bilder ab. Aber im Zentrum, "dort wo Wort und Tat, rhetorische Emphase und mechanische Exekution ineinandergreifen", bleibe der Abend unter dem Niveau der Bühne. "Der Aufgabe, alle Töne, die Georg Büchner in 'Dantons Tod' anschlägt, in einer großen, widerspruchsvollen Sprachbewegung auf die Bühne zu bringen, stellt sich diese Inszenierung nicht."

Der "sich gern nicht ohne Selbstironie zum gescheiterten Apo-Opa stilisierende Peymann" sei gegenüber diesem Stück "in eine schlimme künstlerische Schockstarre" verfallen, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.1.2012). Herausgekommen sei "ein Trauerspiel der besonders muffigen und uninspirierten Sorte". "Alles sieht aus, als hätte Robert Wilson kurz bei dieser Aufführung mitgemischt, dann die Lust verloren und zum Abschied als Trost ein paar noble Arrangements und schicke Lichteffekte hergeschenkt." Die Figuren blieben flache Behauptungen, die sich zwar redlich, doch eher erfolglos an der politischen Rhetorik abrackerten, so Bazinger, "weshalb auch die Konflikte eher wie private Dispute wirken und nicht wie revolutionäre Entscheidungsschlachten."


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