Schnappschüsse der Multioptionsgesellschaft

von Petra Kohse 

Berlin, 10. November 2007. Als Lessings "Miss Sara Sampson" 1755 in Frankfurt/Oder uraufgeführt wurde, flossen im Publikum ebensolche Ströme von Tränen wie auf der Bühne. Das Stück war das erste, das die bürgerliche Selbstverpflichtung zur Sittlichkeit ernst nahm und zum ideellen Hintergrund einer Tragödie machte. 

Sara Sampson flieht aus ihrem Elternhaus, weil sie annimmt, dass ihr Geliebter dem Vater aus moralischen Gründen nicht als angemessener Bräutigam erscheinen wird. Tatsächlich verzögert Mellefont, finanzielle Gründe vorschützend, die Eheschließung. In einem Gasthaus an der Landesgrenze festsitzend, schmort Sara im Fegefeuer von nicht eingestandenen Zweifeln an Mellefonts Liebe und ihren Schuldgefühlen gegenüber dem Vater. Dieser naht zwar und verzeiht, aber auch Mellefonts vorige Geliebte samt Tochter naht und vergiftet Sara schließlich. Darauf ersticht sich Mellefont, weil er zur heilsamen, die Verhältnisse ordnenden Ehe nicht bereit war – und die Träne, die tropfte, tat dies im Dienste der Systemstabilisierung, nicht der Katharsis.

Im Geiste des sich selbst parodierenden Post-...
Dieses Sich-nicht-Entschließen-Können ist heute, 250 Jahre später, mangels bürgerlicher Tugenden, die es bedrohen könnte, selbst zu einer Tugend geworden. Zur Tugend der Intellektuellen und Kulturniks, die nichts zu verteidigen haben außer dem Luxus, alles in Frage zu stellen. Zur Selbstblockade-Tugend von Post-Bürgern.

Barbara Weber, die 32-jährige Schweizerin, die sich mit ihren schnellen und aufwandlosen "unplugged"-Produktionen zu Themen aus Pop und Politik eine Marke geschaffen hat und ab der nächsten Spielzeit gemeinsam mit Rafael Sanchez die Leitung des Zürcher Neumarkt-Theaters übernehmen wird, hat Lessings Erstling im Studio des Berliner Gorki Theaters im Geiste des sich selbst parodierenden Post-... neu buchstabiert. Nichts muss, alles kann.

"Bist du fit, Petra?" ruft Ronald Kukulies, der alle dienenden Rollen auf einmal spielt, am Anfang dem Musiker Ingo Günther zu, der im Smoking und mit hockhackigen Sandaletten am Keyboard sitzt. "Ich bin fit", nölt "Petra", und dann geht es los.

Ein Slacker, der den Max mimt

Alexander Wolf hat einen schmuddeligen Hotelflur mit drei Türen entworfen, ein paar ramponierte ausgestopfte Tiere liegen herum, "Beau Rivage" steht in Leuchtschrift über dem Ausgang, und eine Reihe von Bildschirmen zeigt das Innere der Zimmer, wo aber kaum etwas stattfindet. Peter Moltzen (Mellefont) und Anja Schneider (Sara) tragen schwarz umrandete Brillen und schwarze Rollkragenpullover. Sie ist die bodenständig-aufgeklärte, dabei trotzdem schmollmündige und exzessfreudige Studentin, er scheinbar ganz der akademisch Nervöse, der aber bloß ein Slacker ist, der den dicken Max mimt.

Wenn sie zusammen sind, euphorisieren sie sich an den Worten, schmiegen zärtlich ihre Schreibmaschinen aneinander, teilen sich eine Zigarette und lieben es, wenn der andere beim Tippen halb nackt ist. Wenn sie nicht zusammen sind, sinkt Moltzen vor dem Begehren seiner früheren Geliebten Marwood wie ein nasses Handtuch zur Erde.

Auch Anne Ratte-Polle als Ex-Geliebte hat ihre Facetten. In aller blutarmen Schmalheit performt sie die Sinnlichkeit eines ganzen Harems und bleibt dabei immer selbstkritisch. Und schließlich Hanna Eichel als hier pubertierendes Töchterchen Bella: die unsentimental Naive, der die Verstrickungen der Erwachsenen zunehmend auf die Nerven gehen, und die am Ende einfach alle drei vergiftet und dann mit den Wertsachen und einem ausgestopften Hasen das Lokal verlässt.

Mundtotmachen mit Foucault
Weber lässt im boulevardhaften Alltagston sprechen. Sie jagt die Darsteller in den Slapstick und treibt sie rigoros in das Ich-schmeiß-mich-jetzt-mal-richtig-in-den-Dreck-Ding. Von Anfang an machen sich alle gegenseitig mit Foucault mundtot ("Ich wollte dir das jetzt nicht erklären, sondern nur sagen!"), treten jeder mal ans Mikrofon und singen etwa "I was made for loving you, baby" (Mellefont) oder "My heart belongs to Daddy" (Sara). Manches klingt läppisch, aber das meiste gut, ehrlich auch, und geschlaumeiert wird gar nicht.

Apropos Daddy – der ist als Figur gar nicht vorhanden und bloß eine Projektion: auch so eine Post-Zeitgemäßheit. Und die Szene, in der Sara und die Marwood, Anja Schneider und Anne Ratte-Polle gegenseitig ihre Frauenrollen dekonstruieren und nachher ohne Perücken, Wange an Wange mit hängenden Schultern dasitzen und solidarisch sind, ist in ihrer ganzen falschen Zwangsläufigkeit nicht der einzige prima Schnappschuss der Multioptionsgesellschaft.

Auch der veränderte Schluss, wie die Nachwachsende der Sache ungerührt ein gründliches Ende macht, ist zwingend. Die Post- und Post-Post-Existenzen sind wirtschaftlich ja längst implodiert, mit Haltungen oder Kritik von Haltungen kommt man nirgendwo mehr hin, ein Maskottchen und Kleingeld sind vermutlich das, was wirklich nutzt im Leben. "Komm Petra", sagt denn auch Kukulies und küsst Ingo Günther ganz am Ende auf den rot geschminkten Mund. "Wir gehen, bevor wir hier noch aufräumen müssen." Und Cut.

 

Miss Sara Sampson
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Barbara Weber, Bühne: Alexander Wolf, Kostüme: Ines Burisch, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Anja Schneider, Peter Moltzen, Anne Ratte-Polle, Hanna Eichel, Ronald Kukulies, Ingo Günther.

www.gorki.de

Kritikenrundschau

Im Berliner Tagesspiegel (12.11.2007) bespricht Andreas Schäfer "Miss Sara Sampson" nur knapp, weil gemeinsam mit Hauptmanns "Biberpelz", der – in der Übernahmeregie von Armin Petras – einen Tag zuvor im Maxim Gorki Theater Premiere hatte. Die Inszenierung gefiel. "Anspruchsvoller, aber nicht weniger amüsant (...)", lautet die Überleitung. "Bei Weber findet die Handlung in einer Hotelbar statt, gefühlte Uhrzeit drei Uhr morgens, und die unwirkliche Atmosphäre passt perfekt zur Unentschlossenheit der Figuren, die nicht in den anderen, sondern in ihre gepflegte Ambivalenz verliebt sind." Auch den geänderten Schluss findet Schäfer "konsequent".

In der Berliner Zeitung (12.11.2007) wird ebenfalls doppelt (und dadurch nur halb) besprochen, dort aber leuchtete Barbara Webers Arbeit nicht ein. "Der Angebetete ist gar kein richtiger Mann, sondern bloß ein intellektueller Zappelphilipp", wundert sich Katja Oskamp. "Um das zu zeigen, findet das Stück auf einem langen Hotelflur (Bühne Alexander Wolf) statt. Hier vollführen die Beteiligten allerlei gymnastische Übungen oder geraten in philosophische Exkurse. Nur Anne Ratte-Polle gelingt es, die zunehmende Verbitterung Marwoods überzeugend zu spielen."

 

 

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