altBei uns auf dem Vulkan

von Georg Kasch

Hannover, 7. Januar 2012. Es hat schon was Surreales, wenn man irgendwo hin verreist und dort alles dem ähnelt, was man von zu Hause her kennt. Wie am Staatsschauspiel Hannover: Viereinhalb Stunden (inklusive Pause) dauert Milan Peschels Inszenierung "Aus dem bürgerlichen Heldenleben", neben den Ausmaßen sind auch die meisten Gags original Frank Castorf, mit Hendrik Arnst steht obendrein ein waschechter Volksbühnenschauspieler auf der Bühne. Dazu der Dreiklang aus Klappern, Trampeln, Brüllen – fertig ist die Hauptstadtkopie. Oder doch nicht?

Abkladderadatsch

Zunächst wirkt das, was Peschel mit den Stücken der Maske-Trilogie aus Carl Sternheims siebenteiligen Zyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" (1908 bis 1913) macht, wie ein fader Volksbühnen-Aufguss: In "Die Hose", wo die Spießbürgerlichkeit der Maskes triumphiert, gerade weil der vermeintliche Skandal – die Frau des Beamten verliert öffentlich ihre Unterwäsche und gewinnt so etliche Verehrer – die Familie finanziell saniert, stolpert der Boulevard eher mühsam vor sich hin. Vier Holztüren knallen auf dem schmalen Nudelbrett, hinter dem die Fototapete mit Biedermeier-Interieur wackelt, während sich vorne die Hysteriker und Neurastheniker überschreien, gewaltsam aufeinanderprallen, zu großen Augen fisteln, flöten, kreischen oder an der Rampe monologisieren. Sir Henry heißt hier Juri Kudlatsch und seift die Geschichte durchaus wirkungsvoll am Klavier ein mit Gassenhauern, Schubert und Wagners "Abendstern".

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Mathias Max Herrmann, Juri Kudlatsch, Juliane Fisch: Monologisieren, einseifen, kreischen im hannoverschen Heldenleben. © Katrin Ribbe

"Die Hose" ist Sternheim bekanntestes Stück: Hochnotkomische Szenen mit blitzenden Doppeldeutigkeiten und bürgerlichen Abgründen treffen auf plastische Charaktere. Hier bleiben sie Plapperpuppen in Reif- und Gehrock, weil Peschel oft Details und Pointen verschlampt, dafür neue, nicht unbedingt witzigere erfindet und immer noch einen Slapstick draufpackt: Stolper, oder ich fress dich!

Passgenaues Interesse

Je höher die Maskes im Sternheim'schen Zyklus aber steigen, je konsequenter sie auch ihre privaten Beziehungen durchökonomisieren, je stärker die Situation der unseren gleicht, mit skrupellosen Waffengeschäften und ungedeckten Aktientransfers in abenteuerlichen Ausmaßen, desto stärker scheint sich Peschel für die Geschichte zu interessieren. Statt sie sich amüsiert vom Leib zu halten, ziehen sich die Schauspieler ihre Rollen jetzt über. Und siehe da: Sie passen. Aljoscha Stadelmann etwa entwickelt als alter Theobald Maske eine umwerfende Körperlichkeit, als er sich in einem Anfall von Luftknappheit erst die Kleider vom Leib reißt, sich dann auf dem Teppich wälzt, bis Henning Hartmanns alerter Christian ruft: "Du schwitzt den Perser voll!"

Auch Moritz Müllers Bühne hat sich ins Mehrdimensionale gewandelt: Auf einem kaskadisch-schrägen Podest sind die Insignien der Großbürgerlichkeit angeordnet, Teppiche, ein Chippendale-Sessel, ein Flügel, rechts zucken surreal dunkle Flügeltüren vor der wallenden Tapetenwand. Hier wird Christians Ex Sybil, die ihm den Weg zum Erfolg ebnete und danach wie seine Eltern abgeräumt wird, als untoter Vamp zu Strawinskys "Frühlingsopfer" im von Bühnenarbeitern aufgerissenen Bühnenspalt entsorgt, weil die Gräfin als Heiratskandidatin schon feststeht.

Modisch im Heute, politisch im Abgrund

In "1913" stellt Christian als greiser Familienvater fest, dass seine Tochter Sofie seine Erfolgsgrundsätze moralfrei ins Unendliche dreht: Während er plötzlich die (klein-)bürgerlichen Wertevorstellungen wiederentdeckt, steuert sie als Waffenproduzentin geradewegs auf den Weltkrieg zu, weil der entfesselte Kapitalismus keine Grenzen kennt.

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Brekerianisches statt Dekadenz: Davon geht die Welt ncht unter, nur ein paar Millionen. Henning Hartmann und Rebecca Klingenberg. © Katrin Ribbe

Jetzt dreht auch die Bühne frei, teilt sich, zeigt ihre Rückseite und später, wenn Mathias Max Hermanns deutschnationalrevolutionärer Sekretär Krey irgendwo zwischen Nazi-Schreckgespenst und brennendem Gegenentwurf zu den dekadenten Maske-Sprössen gruselige Thesen vorlegt, einen martialischen Metallfries im Arno-Breker-Stil. Schließlich tanzt die ganze Gesellschaft, modisch längst im Heute angekommen, zu Ragtime und Bombeneinschlägen. "Davon geht die Welt nicht unter", wusste Zarah Leander schon zuvor, nur ein paar Millionen Menschen gehen halt drauf.

Prophetische Modernität

Wie Peschel hier den Zynismus der Elite seziert, ist zwar noch immer reine Volksbühne, aber es funktioniert. Weil die Zersplitterungen, Sprünge und Einschübe die Tanz-auf-dem-Vulkan-Stimmung treffen. Weil plötzlich Sätze aufleuchten, die sonst Gefahr gelaufen wären, im Geschwätz unterzugehen. Weil Peschel uns die prophetische Modernität Sternheims nicht um die Ohren haut, sondern sie erzählt. Am Ende wird aus spießbürgerlicher Verlogenheit und Wohlstandsstreben ein Kapitalmarktbeben und Krieg. Das mal eben so chronologisch hinzublättern, ist schon bemerkenswert. Es am Ende schillernd lebendig werden zu lassen auch.

 

Aus dem bürgerlichen Heldenleben (Die Hose, Der Snob, 1913)
von Carl Sternheim
Regie: Milan Peschel, Bühne und Kostüme: Moritz Müller, Dramaturgie: Christian Tschirner. Mit: Aljoscha Stadelmann, Wiebke Frost, Henning Hartmann, Mathias Max Herrmann, Sebastian Kaufmane, Rebecca Klingenberg, Juri Kudlatsch, Hendrik Arnst, Juliane Fisch.

www.schauspielhannover.de

 

Kritikenrundschau

In Fazit, der nächtlichen Kultursendung auf Deutschlandradio (7.1.2012) sprach Michael Laages (hier auch zum Nachhören): Der ehedem so hellsichtige Sternheim sei schon lange vergessen, "insofern" habe "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" "beinahe" das Zeug zur Wiederentdeckung. Doch eigentlich nur im letzten Viertel von Milan Peschels Inszenierung, im Stück "1913", funkele und donnere und blitze es vor Aktualität. Indes sei der Beginn der stärkste Part der Inszenierung, da feuere Peschel für den erotischen Grabenkampf um "Die Hose" "Salve um Salve an Energie auf die Bühne wie ins Publikum"; das hannoversche Ensemble überschlage sich da "schier im deliranten Tempo". Schwerer täten sich Bühnenbauer Müller und Peschel mit dem zweiten Teil, das Denken müsse "raus dem kleinen Karo zuvor". Prompt verliere die Inszenierung "massiv" an Tempo und Energie. Im dritten Teil breche "wenigstens blanker Expressionismus aus", in den Bildern wie im Spiel - und jetzt werde auch Sternheims eigenwillig abgehackt bruchstückhafte Sprache "existenziell". Insgesamt trotz Schwächen: eine "Sternheim-Beschwörung, die sicher nicht alle, aber sehr viele Erwartungen erfüllt hat".

Die Kombination aus drei Sternheim-Stücken gerate Milan Peschel "in den tragenden Passagen nicht langweilig", meint Siegfried Barth in der Neuen Presse (9.1.2012). Das Auftaktstück "Die Hose" sei "als Komödie ein Fliegengewicht, aber Peschel macht was draus", das Spiel reiße "mit hohem Tempo in den Abend hinein, slapstickend wie Dick und Doof, lustig, einfallsreich, scharf." Am stärksten sei die Inszenierung beim "Snob", dem "Herzstück des Abends", in dem Henning Hartmann die zwielichtige Hauptfigur konsequent von der "Charakterlosigkeit zum Charakter" entwickle. Darstellung, Szenenbild und Musik fänden hier "zu einer süffigen Theatralik zusammen". Das dritte Stück, "1913", halte diese Spannung nicht und wirke "eher wie steifes Thesen-Verkündigungs-Theater".

Peschels Sternheim-Abend sei eine "längliche Wanderung durch einen Textsteinbruch" geworden – "mit kleinen Abstechern ins Reich der Theatermoden, Unterabteilung Abgetragenes aus der Berliner Volksbühnen-Schneiderei", meint Rainer Wagner in der Hannoverschen Allgemeinen (9.1.2012). Mit der "Hose" könne die Inszenierung nichts anfangen, im zweiten Teil spiele Henning Hartmann immerhin "mit überzeugender Verbissenheit", während man in "1913" in "selbstreferenzieller Genügsamkeit mit sich und dem Publikum spiele". Wagner schließt mit Fragen: "Hat Carl Sternheim (…) nicht ein bisschen mehr Nachdenken verdient? Braucht ein Teil des Ensembles nicht doch einen Logopäden?"

"Es ist ein Abend in Castorfs Manier, von den Schauspielern darauf angelegt, dass aus permanenter, willentlich schlechter Verstellung höhere Wahrhaftigkeit aufsteigt", befindet Peter Kümmel in der Zeit (12.1.2012). Man erlebe "possierliche Bestien in Masken", es werde "breit, triumphal, wenn auch mit beeindruckender darstellerischer Energie gespielt", man sehe ein "dauerndes Wechselspiel zwischen Lüge und Wahrhaftigkeit, nämlich der Verstellung der bürgerlichen Theaterfigur und ihrer Entlarvung durch den nicht bürgerlichen Schauspieler". Das allerdings werde "auf die Dauer, zumal dann, wenn man es mit einer so grandios die Verhältnisse offenbarenden Sprache wie der von Sternheim zu tun hat, ein wenig mechanisch."

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