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Nuancen der Ohnmacht

von Christian Rakow

Dresden, 14. Januar 2011. Das könnte eine Einöde an der amerikanisch-kanadischen Grenze sein. Man trägt Holzfällerhemden unter den Steppjacken und eine Flinte im Hosenbein. Wenn der Sohn nicht spurt, wird er vertrimmt, bis das Blut fließt. Die Sitten sind rau wie das Land. Es wird kaum hell. Durch die Jalousien des trostlosen Gerichtsraums sieht man unablässig Schneeflocken rieseln. Nur der Kachelofen in der Ecke, den Bühnenbildnerin Magda Willi in die Szenerie geschmuggelt hat, verströmt von Weitem die Wärme des Rokoko-Genrebildes, nach dem Heinrich von Kleist "Der zerbrochne Krug" gearbeitet hat, seine große Posse um den nächtlichen Fehltritt des menschlich mickerigen Dorfrichters Adam aus Huisum bei Utrecht.

Und einen Adam haben sie in Dresden! Burghart Klaußner ist ein Schauspieler, der nie nur Härte kennt, der Macht stets mit zarten Nuancen von Ohnmacht ausstattet. Noch als gestrenger Regent (wie König Philipp in Schillers Don Carlos, ebenfalls in der Regie von Roger Vontobel, oder als Pastor in Michael Hanekes Film "Das weiße Band") lässt er erkennen, wie sehr das Räderwerk des Faktischen einen Herrscher innerlich zermürbt.

Der zerschundene Adam

Ein solcher Mann gibt Kleists Richter Adam nicht als jovialen Hallodri. Vielmehr entdeckt Klaußner die Tragik dieses umgekrempelten König Ödipus, der sich selbst einen Prozess machen muss, an dessen Ende er als Sünder vor Marthe Rull mit ihren Bierkrugscherben, vor ihrer sittsamen Tochter Eve und vor der ganzen Dorfgemeinschaft entlarvt ist. Zerschunden hockt dieser Adam in seinem Sessel, mit blankem, frisch verwundetem Schädel. Er ist ein Dinosaurier aus alter Zeit, als man Probleme noch mit Gemauschel, Kumpanei oder rohem Geblaffe aus der Welt schaffen konnte. Dafür, dass diese Zeit vorüber ist, soll der Gerichtsrat Walter bürgen. Was dieser – darin liegt die Kleist'sche Dialektik – selbstredend nur bedingt tut.

Gerichtsrat Walter ist bei Regisseur Roger Vontobel eine Frau: Sonja Beißwenger im schicken Karrieristinnenkostüm – frisch aus dem Jura-Referendariat, darf man annehmen. Nichts liegt ihr ferner als das Launige und Altersmilde, das Walter sonst gern anhaftet.

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Trostloser Gerichtsraum mit Karrieristin im Hintergrund (neben der Tür links)   © Matthias Horn

 

Doch so sehr man Vontobels Gabe, durch Besetzungscoups und kühne dramaturgische Volten alte Stücke neu lesbar zu machen, auch sonst schätzt, hier will die Idee nicht fruchten. Beißwengers Gerichtsrätin Walter umtrippelt den stämmigen Adam eher, als dass sie mit ihm genüsslich spielt, sie maßregelt ihn wie eine Grundschullehrerin und schießt öfter mal voll spitzer Verblüffung Einsichten hervor, die im Prozess schon längst gewonnen wurden.

Kommentar zu heutiger Verfilzung?

Kurz vor den Enthüllungen der Frau Brigitte (Annedore Bauer) nutzt sie eine kleine Weinpause zum unvermuteten Tête-à-tête mit Adam. Sie öffnet sich die Haare und die oberen Knöpfe der Bluse, lehnt sich zurück. Ein Flirt? An Adam perlt diese Vertraulichkeit ab. Der Schwerenöter, der immerhin die Rull-Tochter Eve (Karina Plachetka) nachts zuvor ins Bett zwingen wollte, ehe er flüchtend den Krug zerbrach, wird zum frommen Lamm. Danach verfolgt er zunehmend gleichmütig seine Überführung, ganz der alte Haudegen, der den überengagierten Frischling Walter ruhig mal ein wenig machen lässt.

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Burkhart Klaußner als Dorfrichter, das Corpus Delicti in der Hand     © Matthias Horn

Mit den dramaturgischen Ideen von Robert Koall, der in diesem Kleist laut Programmheft einen hochaktuellen Kommentar auf die Verfilzung der heutigen Politik entdeckt, hat all das furchtbar wenig zu tun. Dafür hätten Walter und Adam denn wohl doch näher zusammenrücken müssen, nicht erotisch, sondern intellektuell. Weil Vontobel das Lustspiel nichtsdestotrotz ziemlich ernst nehmen will, geht's ihm haargenau wie Goethe, der die Uraufführung 1808 vergeigte: Es mangelt überall an Tempo. Einzig Klaußner variiert, sitzt die Bestandsaufnahme seelenruhig aus, verteilt dann wieder verbale Handkantenschläge oder lässt blitzschnell die nächste Lügengeschichte aufploppen, dass seinem ewig zu kurz gekommenen Schreiber Licht (Ahmad Mesgarha) die müden Augen aufspringen. Und all das, ohne sich auch nur einen Anflug von Solistenallüre zu genehmigen (das kennt man, etwa von Klaus Maria Brandauers Adam im Berliner "Krug" von Peter Stein, auch anders).

Pause, durchschnaufen, weiter

Die anderen Akteure aber sprechen die – für Kleistsche Verhältnisse – ungemein direkten, fast schon leichten Verse, als handele es sich um Hölderlinsche Antikenübertragungen, von endlosen Zäsuren durchsetzt. Holzfällerarbeiten der Rhythmik erleben wir. Drei Worte und ein Axtschlag. Pause, durchschnaufen, weiter geht's. "Welch ein gewaltsames Verfahren."

Um Langeweile zu vermeiden, werden die langen Zeugenaussagen der Marthe Rull (Hannelore Koch) oder von Ruprecht (Sebastian Wendelin) durch Kleinholzeinlagen aufgepeppt, wenn hier einer auf seinem Sitz zusammenkracht oder dort Ruprecht mit Karacho durch das Fenster hinaus stürmt. Im beherzten Sprung entsteht das Bild der Tatnacht, nicht im wohlgesetzten Wort. Und Kleists Lustspiel ist für Momente zum echten Holzfällerstadl geworden.

 

Der zerbrochne Krug
von Heinrich von Kleist
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Dagmar Fabisch, Video und Musik: Immanuel Heidrich, Dramaturgie: Robert Koall, Licht: Björn Gerum
Mit: Sonja Beißwenger, Burghart Klaußner, Ahmad Mesgarha, Hannelore Koch, Karina Plachetka, Lars Jung, Sebastian Wendelin, Annedore Bauer.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Andere zerbrochne Krüge?  Am Berliner Ensemble lehrte 2008 Peter Stein einen alten Kupferstich das Laufen, mit Klaus Maria Brandauer als Dorfrichter. Sven-Eric Bechtholf verkörperte diesen Adam in Andrea Breths Kleist-Inszenierung, die 2009 für die Ruhrtriennale entstand. In Matthias Hartmanns Inszenierung, im September 2011 am Burgtheater in Wien, spielte Michael Maertens den Dorfrichter.


Kritikenrundschau

Eine "spielerisch ungemein unterhaltsame und dramaturgisch intelligente, nur zweistündige Version der Geschichte vom Dorfrichter Adam" hat Hartmut Krug für die Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (14.1.2012) erlebt. Klaußner als Adam füge sich "virtuos in ein bewegtes Ensemblespiel ein". Beißwenger als Walter, die in die "intakte Gemeinschaft mit klaren Rollen und Regeln" einbreche, erscheine "schon durch Aussehen und Geschlecht wie die personifizierte Moderne". Auch von den Nebenrollen zeigt sich der Kritiker überzeugt: "Jeder bekommt in dieser körpersprachlich kräftigen Inszenierung seinen aktionsreichen Auftritt (...)". Einzige Einschränkung: "Die Behauptung des Dramaturgen im Programmheft, diese Inszenierung ziele auch auf aktuelle politische Vertuschungen in Sachsen wie im ganzen Lande, löst die Inszenierung allerdings nicht ein."

"Eins der besten Stücke der laufenden Spielzeit" und freiweg "großes Theater" sei dieser "Krug", befindet Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (16.1.2012). Eine Gesellschaft im Kriegszustand schildere Vontobel. Weitaus schlimmer als die Tat des Richters sei hier: "Adam hat sich zum Handlanger der großen Politik machen lassen, die aus Wirtschaftsinteressen ihre Söhne in den Krieg schickt. Der eigentlich beklemmende Moment findet daher statt, wenn Gerichtsrat Walter einen dicken Stapel Geldscheine auf den Tisch legt, um die Gemüter zu besänftigen." Bis in die Nebenrollen hinein sei diese Inszenierung "akribisch erarbeitet".

Auch für Stefan Petraschewsky vom MDR Figaro (16.1.2012) hat Vontobel ein "Stück über unsere Zeit" geschaffen, in dem es "um den Verlust von Gemeinschaft durch Globalisierung geht". Wobei die "kleine dörfliche Welt", die hier untergehe, auch ihre "Macken und Tücken" besitze (ausführlicher zu dieser Lesart Kommentar Nr. 1 im Thread unten). Adam sei dabei "der lebenserfahrene Dorfrichter, der den verstaubten Talar eher beiseite legt – und die Dinge archaisch, in Familie, regelt". Die Gerichtsrätin Walter wirke wie dagegen wie "frisch von der Akademie". Eine Konstellation "fast wie im Tatort". Klaußner gebe seinen Part "sehr originell und mit viel Witz", und Beißwenger agiere "auf Augenhöhe mit dem Dorfrichter".

Ganz anders Bistra Klunker in den Dresdner Neusten Nachrichten (16.1.2012): Zwar böte in Kleists Drama Walters abschließender Versuch, die "Sache mit dem Militärdienst elegant zu klären", ein Bild für "zeitlose Machtmanipulation". Jedoch: "Von den Abgründen die sich in dieser Komödie auftun" und die Dramaturg Koall im Programmheft "treffend" benenne, "findet sich in der Inszenierung keine Spur". Auch kann die Rezensentin dem Schauspiel, mit Ausnahme von Hannelore Kochs Darbietung als Marthe Rull, wenig abgewinnen. Klaußners "Mimik hat ohne Zweifel Klasse, doch er ist teilweise schwer zu verstehen oder spricht Textpassagen als würde er sie zum ersten Mal aufsagen." Und Beißwengers "schicke Gerichtsrätin ermüdet bald mit ihrer undifferenzierten Omnipräsenz".

In Sonja Beißwengers "eleganter Erscheinung" werde die "ungeschlachte Männlichkeit" ganz anders als gewohnt beeinflusst und zeige verschiedene "Überwältigungsstrategien aus den ewigen Jagdgründen des Geschlechterkampfs", "von anschmiegsamer Unterwürfigkeit" bis zu "Potenzgezappel", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (19.1.2012). Leider sei die Besetzung des Walters allerdings "das einzig Originelle an dieser überraschend biederen 'Krug'-Inszenierung, die ansonsten der leichten Verständlichkeit eines Volksschwanks nachgiert". Die Bühne bediene "ganz unverfroren den Geschmack von Zuschauern, die gerne anständiges Theater sehen möchten", und "alle Charaktere in diesem störungsfreien Rüpelidyll" entsprächen den Landei-Klischees eines Stadtbürgers. Das sei "weniger komödiantische Übertreibung als langweilige grobe Schnitzarbeit".

Kommentare  
Der zerbrochne Krug, Dresden: Parabel auf die Globalisierung
Bin anderer Meinung als der Rezensent: Roger Vontobel liest aus dem Text von Kleist ein Stück über unsere Zeit heraus, in der es um den Verlust von Gemeinschaft durch Globalisierung geht. Wir sehen auf der Bühne eine bäuerlich geprägte holländische Dorfgemeinschaft von heute. Und wir sehen, wie ihr eingeübtes, regional verankertes Leben zerstört wird. Am Ende ist die kleine dörfliche Welt kaputt. Diese Welt hat zwar auch ihre Macken und Tücken - ihre Streitereien, denn da geht mal was zu Bruch - wie eben der Krug. Aber diese alte Welt funktioniert menschlicher als das, was sich am Horizont abzeichnet: eine neue Welt, wo es um Handel und Profit geht. Die Wahrheit um den zerbrochen Krug ist nämlich - und das zeigt Vontobel prägnant und deutlich, und damit gelingt ihm eine aktuelle Inszenierung des Stoffes - die Wahrheit ist, daß Ruprecht, der Bauernsohn als Soldat die fernöstlichen Handelwege der holländischen Kaufleute schützen soll. Von diesen Soldaten weiß man aber - Zitat Kleist: „Von dort, ihr wißt, kehrt von drei Männern Einer nur zurück!“ Eve, die Verlobte von Ruprecht, sagt das. Und wendet sich in ihrer Not an den Dorfrichter Adam. Der will Ruprecht ein Attest schreiben, das er für den Militärdienst untauglich ist. Als Gegenleistung verlangt er allerdings ein bisschen Liebe von Eve. Die will das natürlich nicht. Es kommt zum Streit zwischen Eve und Adam. Dabei zerbricht der Krug. Vontobel zeigt diese angebliche Hauptgeschichte als quasi Nebenhandlung. Iran und USA , die Straße von Hormus sind ihm wichtiger. Wenn man so will: auch Geld-Hin-und-Her-Geschiebe ohne Transaktionssteuer. Freie Handelswege sind Grundlage für eine globalisierte Welt. Und Grundlage für die Handelsleute, die in diesem System dann leben wie die Made im Speck. Die Wahrheit in dem Prozess um den zerbrochenen Krug ist, daß es eigentlich um die Kaufleute in Holland geht. Am Ende hat die jungdynamische Rechtsaufseherin Walter zwar geklärt, wer den Krug zerbrochen hat, aber die Dorfgemeinschaft hat auch mitbekommen, was hier eigentlich gespielt wird: das ihr bisheriges funktionierendes Landleben nämlich
für die Wirtschaft Hollands geopfert werden soll. Das wissen die jetzt. Und die finden das natürlich nicht gut. Und da legt Walter viel Geld auf den Tisch. Schweigegeld. Bestechungsgeld. Und die Dorfleute geben es zurück. Sie wissen nun, was die Stunde geschlagen hat. Und sitzen des-illusioniert am Ende herum. Am Anfang saßen sie übrigens auch alle rum. Und machten Musik. Folkmusik, was bekanntermaßen eine harmonische Veranstaltung ist. Die Harmonie, und Utopie bleibt am Ende auf der Strecke. Mir hat diese Lesart gut gefallen.
Der zerbrochne Krug, Dresden: "Don Carlos" war auch bieder
weiß gar nicht, warum briegleb heute in der süddeutschen so überrascht ist von der "biederen" veranstaltung. selten hier, was? vontobels "carlos" war ja nun auch nicht gerade aufregend. wie vieles in dresden. nur schulz ist halt gut vernetzt in theaterdeutschland. (...)
Zerbrochne Krug, Dresden: Bezug, häh?
Das verquaste Programmheft war das Peinlichste. In den Endproben mal wieder geschlafen? Wo ist denn der aktuelle Bezug zu Vertuschungen in Sachsen? Häh? Hallo, aufwachen und die Intendanzträumereien mal kurz hinten anstellen.
Der zerbrochne Krug, Dresden: im Ungefähren
Roger Vontobel gilt als Spezialist für Machtmechanismen, als scharfer Analytiker dessen, was Macht mit Menschen anstellt – jenen, die sie haben, jenen, die anstreben, aber auch denen, die unter ihr leiden. Da passt Heinrich von Kleists Lustspiel eigentlich wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Vontobel deutet einige Themen an, etwa den im Stück angelegten Widerspruch zwischen Tradition und Moderne, jedoch es bleibt bei Andeutungen. Interpretatorische Ideen werden nicht konsequent durchgezogen, stattdessen spielt Vontobel über weite Strecken das Stück einfach runter und das ohne jeglichen Zug. Die komödiantischen Pferde hat er gezügelt und setzt dann doch, aber ohne jedes Timing, auf Lacher - und einen glänzend aufgelegten, aber ebenso wie der ganze Abend im Ungefähren verleibenden Burghart Klaußner. Das kann nicht gut gehen und tut es auch nicht. So müde kam Kleists schwungvoll-saturische Komödie lange nicht mehr rüber.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com
Der zerbrochene Krug, Dresden: Klamotte
Ein schönes, lehrreiches Stück über Korruption, Verschleierung und Machtmißbrauch ist hier verkommen zur Klamotte. Das Stück biedert sich dem Volkstheatergeschmach des (ost-)deutschen Publikums an. Eigentlich bedarf es dieser "modernistischen Interpretation" des Stückes nicht um die Sünden in unserer Gesellschaft aufzuzeigen, jedenfalls nicht so, da der Klamauk in diesem Stück genau das eher verschleiert. Bin zum ersten Mal während einer Auführung gegangen.
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