Aber lieb, aber lieb sin se doch

von Ralf-Carl Langhals

Mannheim, 11. November 2007. Das Ungleichgewicht von Materie und Antimaterie ist eine der Voraussetzungen für die Stabilität unseres Universums, und somit auch für das Leben auf der Erde. Soweit die Teilchen- und Elementarteilchenphysik. Doch just die Antimaterie hat es Paul angetan. Ein ungewöhnliches Steckenpferd für einen 20-jährigen Autoverkäufer.

Schon im ersten Satz von Marcus Brauns "Bilder von Männern und Frauen", dessen Uraufführung Simon Solberg im Studio Werkhaus des Nationaltheaters Mannheim inszenierte, spricht er davon, dass man die Antimaterie in einer Kapsel aufbewahren müsse, wenn sie nicht in Gebrauch sei. Später begreifen wir allmählich, dass Braun mit der Antimaterie schlicht das unfassbarste Ding des Lebens, die Liebe, meint.

Bäumchen-Wechse-Dich-Spiel im Frustrativ
Seinem flotten wie knochig verstiegenen Vierpersonenstück hat Braun ein tröstliches Zitat von Carl Sternheim vorangestellt: "Keine Angst vor zu erwartenden Sätzen." Wir sind also beruhigt und merken, dass es gar nicht so metaintellektuell gemeint ist, das Ganze, und begreifen den Beziehungsreigen je zweier Damen und Herren titelgemäß als "Bilder von Männern und Frauen".

Ein Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel im Frustrativ, aber Gott sei Dank nicht im Vorabendformat. "Die Handlungen werden als Geheimnis stilisiert" ein schöner Satz, der sich mühelos auf das ganze Stück anwenden lässt, denn über die konkreten Personen und ihre Beziehungsprobleme erfahren wir wenig.

Die Grundfrage des Abends lässt sich dennoch deutlich formulieren: Was rettet unsere Zweierbeziehungen über den zweijährigen Hormonrausch hinaus? Warum können Männer nicht mit Frauen und Frauen nicht mit Männern? "Aber lieb, aber lieb sin se doch", summiert ein alter Schlager... Und so ähnlich endet das Ganze auch, ganz weit hinten und buchstäblich bei Adam und Eva.

Vom Fräuleinwunder bis zum Burgfräulein
Simon Solberg jagt Paul, Mila, Carus und Inga 75 trickreiche Minuten durch Flurin Borg Madsens schneeweiße und grobmaschig umspannte Matratzengruft und die Zivilisationsgeschichte. Futuristisch bis steinzeitlich, erst in Schritten von Jahrzehnten, dann Jahrhunderten und Jahrtausenden erleben wir im Rückwärtsgang von Fräuleinwunder bis Burgfräulein gefährliche Liebschaften und hohe Minne auf Bärenfell und Ottomane: "Kein Geschlechterkampf mit menschlichem Antlitz".

So ideenreich und verspielt wie es aus Simon Solberg, der in Frankfurt und Mannheim zu Recht von sich reden macht, erneut sprudelt, kommt man um kurzweiliges Vergnügen nicht herum. Meridian Winterberg, Michael Fuchs, vor allem aber Silja von Kriegstein und Stefko Hanushevsky bilden ein Ensemble, das Spielort und Inszenierung als Spielwiese für überbordende Phantasie und einen energetischen Parforceritt zu nutzen weiß.

Federballschläger und Banane, Matratzen und Kissen werden derart multifunktional eingesetzt, dass einem um die Zukunft von Requisiteuren bange werden muss. Ein Übriges leisten stilisierende Accessoires des Kostümfundus (Kostüme: Janine Werthmann) sowie rekordverdächtige Blitzumzüge.

Philosophisch angehauchtes Tohuwabohu
So witzig und entlarvend der spaßige Aktionismus die immer gleichen Geschichten von Duell bis Disco abdreht, so brillant Solberg immer neue Bilder entwickelt, so wenig kann er darüber hinwegtäuschen, dass Brauns Stück gehörig klappert, weil ihm das Fleisch an den gelenkigen Knochen fehlt.

Mark enthalten sie indes durchaus, doch dies philosophisch angehauchte Tohuwabohu wirkt wie eine geistig rege zusammengetragene Zitatensammlung aus Zeitgeistbetrachtungen und ganzheitlich verbrämter Psychologie. "Wo eine Diagnose ist, ist auch ein Problem", doch welches? Der Biochemie traut der Autor auf der Suche nach der weichen Seelenphysik ebenfalls nicht. Und ist ein "barometrisches Minimum über dem Atlantik" wirklich ein Trennungsgrund?

Hilfreich könnte ihm hier die harte Elementarteilchenphysik sein: "Die Kurzlebigkeit von Antimaterie in der von uns beobachtbaren Welt erklärt sich daraus, dass beim Aufeinandertreffen eines Teilchen-Antiteilchen-Paares sich beide gegenseitig annihilieren, das heißt, es kommt zur Paarvernichtung. Hierbei wird Energie freigesetzt." Die meisten nutzen diese für die erneute Balz .... wo ist also das Drama?

Dem zarten Ansatz einer anerzogenen und über Jahrtausende mystifizierten Liebeserwartung widmet Marcus Braun nur einen Satz, Simon Solberg einen ganzen Abend. Dem Autor stehe dieser Satz zum Trost: "Werteurteile hängen im Einzelfall stark vom Wertesystem einer Gesellschaft ab." Das ist ernüchternd schlicht, gilt aber auch für Kritiker.

 

Bilder von Männern und Frauen (UA)
von Marcus Braun
Regie: Simon Solberg, Bühne: Flurin Borg Madsen, Kostüme: Janine Werthmann.
Mit: Silja von Kriegstein (Inga), Meridian Winterberg (Mila), Stefko Hanushevsky (Paul), Michael Fuchs (Carus).

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.11.2007) nennt Martin Halter Brauns Stück einen "kryptischen Sekret- und Sentenzenaustausch", den man als "Oscar-Wilde-Farce oder Botho-Strauß-Tragödie, als Screwball-Komödie oder strindbergschen Geschlechterkrieg inszenieren" könnte. Simon Solberg jedoch habe bei der Uraufführung im Mannheimer Werkhaus "eine intergalaktische Kissenschlacht" daraus gemacht, "die den Text allenfalls als Bildunterschrift braucht". Ein "Parodieren von Beziehungsmustern aus der Geschichte der Menschheit ist ein heiteres Filme- und Epochenraten, aber ohne Entwicklung und echte Berührung".

Gabriele Weingartner in der Rheinpfalz (13.11.2007) hingegen ist begeistert. "Kein kleines Wunder", habe sich ereignet, denn "Simon Solberg hat in seiner fetzigen, unglaublich fantasievollen Inszenierung ein ganz ohne Regieanweisungen auskommendes Stück handfest interpretiert". Und sowieso werde Braun "im deutschen Feuilleton oftmals als tändelnder Hedonist missverstanden". Substanz also und Tiefe. Beides offenbare sich ab dem Moment, in dem Solberg beginnt, die Paarbeziehungen mit wechselnden Kostümierungen durch die Geschichte rückwärts durchzudeklinieren bis zu Adam und Eva, "in einer Art von theatralischer Relativitätstheorie." "Ovationen für alle."

Auch Monika Frank findet in der Rhein-Neckar-Zeitung (13.11.2007), dass Braun Glück hatte mit seinem Regisseur. "Dank einer höchst inspirierten Inszenierung (...) gelang in der Umsetzung des Stoffes genau jene beglückend ganzheitliche Verbindung unterschiedlicher Hälften, die Brauns Figuren vergeblich erstreben." Die Komik ergebe sich unter anderem aus der "wachsenden Diskrepanz zwischen heutigem Sprachgebrauch und antiquierten Umgangsformen". – "Unterhaltung auf hohem Niveau, spannend von der ersten bis zu letzten Minute."

 

 

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