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Die Seele? Unauffindbar

von Esther Slevogt

19. Januar 2012. Am Anfang war das Fleisch. Endlose Gedärme, die ein sezierender Gelehrter in seiner düsteren Kammer einem grauen, toten Leib entnimmt. Dessen Haut ist ledern, auf beiden Seiten eines Schnitts auseinander geklappt und die Abgründe des menschlichen Innern offenlegend: Blut, Dreck, verwesendes Fleisch. Doch das, wonach der Renaissancegelehrte Heinrich Faust in diesem Leib sucht, bleibt unauffindbar: die Seele nämlich. Und so weiß dieser Mann, dass er betrügt, wenn er später für das Versprechen einer Liebesnacht mit einer jungen Frau namens Margarethe einem dubiosen Pfandleiher seine Seele verkauft. Es gibt keine Seele. Alles ist nur Fleisch, tote Materie, kaltes Geld, Dreck, worauf der Mensch seine Begierden richtet. Seine Unterschrift unter dem Dokument mit dem er Mephisto seine Seele verkauft, ist nicht gedeckt. Eine Spekulationsblase der Metaphysik sozusagen, die schließlich auch platzt.

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Hanna Schygulla als die Gattin des Teufels
© MFA+ Filmdistribution

Die spektakulär bildmächtige wie verwegene Faustdeutung, mit der Alexander Sokurow beim Filmfest in Venedig vergangenes Jahr den Goldenen Löwen gewann, beschließt nach zwölf Jahren eine Tetralogie, in der der russische Regisseur sich an Fragen der Macht abgearbeitet hat. So standen Männer wie Hitler und Lenin im Mittelpunkt früherer Sokurow-Filme. Vor allem jedoch hat sich der 1951 geborene Regisseur und studierte Historiker an dem materialistisch strukturierten Weltbild abgearbeitet, mit dem er als Sohn eines Offiziers in der Sowjetunion aufgewachsen ist und dessen Hybris er in seinem Werk immer wieder dekonstruiert: ein Weltbild, das den Lauf der Geschichte von naturgesetzlichen Mächten in Richtung Erlösung und Freiheit angetrieben sieht, die der Mensch wissenschaftlich erkennen und auf der Basis dieser Erkenntnisse dann auch steuern kann. Koste es, was es wolle.

Weil die Konstrukteure des materialistischen Weltbildes Friedrich Hegel und Karl Marx Meister aus Deutschland waren, ist es nur folgerichtig, dass Sokurow nun eine deutsche Figur seziert, die am Anfang der Neuzeit sozusagen Ikone und Zukunftsvision des neuen Menschen auf einmal war: der Wissenschaftler Heinrich Faust, der sich bei Goethe mühsam aus den Fesseln der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien versucht und einen Pakt mit dem Teufel schließt, als Akt der Selbstbehauptung sozusagen. Eine Figur, mit der irgendwie auch eine Art exemplarischer Startschuss für die letzte Runde im dialektisch verlaufenden historischen Entwicklungsprozess fällt.

faust mfa film distributionAnton Addassinsky ist Mephisto
© MFA+Filmdistribution
Enge, Tod, Gier
Doch in der Welt, wie Alexander Sokurow sie uns in seinem Faust-Film am Anfang der Neuzeit präsentiert, steckt kein Kern des Fortschritts, kein Saatgut für eine bessere Welt. Überall Enge, Elend, Hunger. Und zwar nach schierem Brot, nicht nach Erkenntnis. Aus der Todesangst wächst schließlich die Gier: nach Sex, Besitz, Macht. Schon damals. Und heute immer noch. Die berühmte russische Szenenbildnerin Elena Schukowa hat für diese fatale Faust-Welt ein Szenario zwischen Golem und Gotham City entworfen, von verstörten, historisch-korrekt bis zur Grenze des Überwirklichen kostümierten Gestalten bevölkert (Kostüme Lidia Krukowa). Tumbe Gesichter, finstere Zimmer, in deren Ecken Hundertschaften von Ratten hausen, enge verdreckte Gassen, trostlose Friedhöfe, wo man mitunter Menschen wie Abfall entsorgt. Nur in der Natur stellt sich manchmal ein Eindruck von Weite und Freiheit her, die den Menschen in ihren gefängnishaften Garderoben allerdings nichts nützt. Das Innere dieser Welt und zugleich ihr lichtester Ort scheint ein gewölbehaftes Waschhaus zu sein, von halbbekleideten Frauen bevölkert, die dort kichernd Wäsche und auch sich selber waschen. Und wo Faust zuerst auf Gretchen trifft.

faust1 280 mfa film distribution e k x... Johannes Zeiler in der Titelrolle
© MFA+Filmdistribution
Der von Johannes Zeiler gespielte Faust fügt sich nahtlos in diese fatale Welt: ein hungernder, mitteloser Nihilist ohne Perspektive, der als Gipfel des Widerstandes der Welt einen misslungenen Selbstmord entgegenzusetzen hat. Doch in letzter Minute rettet ihn ein Pfandleiher, als den Sokurow Goethes Mephistofigur radikal ausdeutet – und den der deutsch-russische Schauspieler, Schriftsteller, Tänzer und Musiker Anton Adassinski als biedermeierliche Mischung aus Gremlin, E.T. und Nosferatu anlegt. Er ist der einzige, der noch an so etwas wie die Seele glaubt. An einen Überschuss aller Materie sozusagen, einen göttlichen Funken. Seinen Deal mit Faust fädelt dieser Mephisto ein, als gelte es den Nachweis zu erbringen, dass der Mensch doch mehr als ein unglückseliges Stück Fleisch mit niederen Begierden ist. Dies gespenstische wie kindliche naive Wesen handelt sonst mit den Konkursmassen missglückter Lebensentwürfe, versetztem Schmuck, Hausrat und anderem irdischen Gut. Jetzt hofft er auf das Geschäft seines Lebens: eine menschliche Seele. Und verliert. Am Ende, als Mephisto den mehrfachen Mörder Faust wieder einmal retten muss, fällt er selbst Faust zum Opfer, der ihn in einer surrealen Felslandschaft mit brodelnden Geysiren unter Steinen begräbt. Und weil ein Teufel wie Mephisto nicht sterben kann, wird dieser lebendig Begrabene erst recht zum Sinnbild des ewigen Stillstandes, der Unmöglichkeit von Rettung und Erlösung. Faust flieht derweil ins ewige Eis.

Keine Hoffnung, nirgendwo?
Der Film orientiert sich am Stoff der Tragödie erster Teil. Seinem Faust, den er immer wieder in aus dem Off eingespielte Goethe-Textwolken taucht, legt Sokurow manchmal auch prominente Lutherworte in den Mund, einer anderen Renaissancefigur mit hoher Symbolkraft.

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...und Isolda Dychauk ist das Gretchen.
© MFA+ Filmdistribution

Und es gibt wirklich keine Hoffnung? Doch, gibt es. Denn dieser Regisseur ist offenbar trotz aller Seelendüsternis ein großer Romantiker, der noch an die Macht der Liebe glaubt. Da wäre nämlich noch das Gretchen, von der 18jährigen Berliner Gymnasiastin und Schauspielerin Isolda Dychauk gespielt: eine madonnenhafte blonde Schönheit mit Kussmund und einer Aura, die offenbar von keinem noch so niederen Begehren versehrt werden kann. Für eine Nacht mit ihr betrügt Faust sogar den Teufel. Doch hat ihn vorher die Liebe getroffen. In ein Organ, das er bei seinen von schmatzenden Nebengeräuschen begleiteten Grabungen in den menschlichen Innereien offenbar übersah. Sokurow inszeniert das Erblühen dieser Liebe in Doktor Faustens ärmlichem Kabuff wie eine himmlische Heimsuchung. Die Gesichter beginnen zu leuchten. Sonst geschieht nichts. Und auch die erkaufte Liebesnacht bleibt seltsam keusch. Weder wird das Begehren Fausts sichtbar erfüllt, noch das des Zuschauers, dem Sokurow nur einen intensiven Blick auf den Bauchnabel Gretchens gönnt. Und auf Faust, der sein Gesicht ehrfürchtig in ihre Scham sinken lässt.

 

Faust
Regie: Alexander Sokurow, Buch: Juri Arabow, Drehbuch: Alexander Sokurow, Marina Korenewa, Kamera: Bruno Delbonnel, Szenenbild: Elena Schukowa, Kostümbild: Lidia Krukowa.
Mit: Johannes Zeiler, Anton Adassinsky, Isolda Dychauk, Georg Friedrich, Hanna Schygulla, Antje Lewald, Florian Brückner, Sigurdur Skulasson, Maxim Mehmet, Andreas Schmidt.
Deutscher Kinostart: 19. Januar


Im Theater faustisch wurde es zuletzt unter anderem in Jena, Bremerhaven und bei den Salzburger Festspielen mit Nicolas Stemann (dessen Acht-Stunden-Faust mittlerweile weitergezogen ist ans Hamburger Thalia-Theater).