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Familienbande als Menschheitsdrama

von Harald Raab

Mannheim, 21. Januar 2012.  In Zeiten der Krise und der Retromania in der Kunst ist er wieder da, Charlie Marx. Wir stellen erstaunt fest, wie recht er doch hat: Geschichte ereignet sich zweimal, einmal als Tragödie und danach als Farce. Aber man muss die Farce gar nicht auf Teufel komm raus auf die Bühne bringen. Der amerikanische Autor Tony Kushner zeigt es. Sein  Diskussionstheater im Stil von "Tod eines Handlungsreisenden" und "Wer hat Angst vor Virginia Woolf", immer hart am Rande des Realen, schließt Surreales ein. Das Leben spielt die beste Farce inmitten der Alltagsdramen unserer Zeit.

"Ratgeber für den intelligenten Homosexuellen zu Kapitalismus und Sozialismus mit Schlüssel zur Heiligen Schrift" ist der sperrige  Titel, unter dem sein Stück deutsche Erstaufführung am Mannheimer Nationaltheater hat. Schauspieldirektor Burkhard C. Kosminski setzt in dieser Spielzeit auf Import aus den USA und Großbritannien. Es gibt gleich fünf Erstaufführungen aus dem Englischen. Antwortet Kosminski damit auf das Unbehagen des Publikums gegenüber dem Mannheimer Mut zu Uraufführungen junger deutscher Autoren, die nicht immer was zu erzählen haben?

Ob Kushner Marxist ist, sei dahingestellt. Der schwule Autor macht Ideentheater, verhandelt im Disput seiner Protagonisten individuelle und gesellschaftliche Moral und deren immerwährendes Scheitern. Vielleicht versteht er sich als Nachfolger George Bernard Shaws, dessen Schrift "Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus" ihm Folie für sein aktuelles Stück ist, plus christlich-esoterische Heilslehre Mary Baker Eddys, "Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zu Heiligen Schrift". Große Ideologien, von Kushner heruntergebrochen aufs Menschlich-allzu-Menschliche im Mustopf aller Gemeinschaften, der Familie.

Kosminski geht in seinem Regiekonzept ganz auf Kushners Umgang mit ideengeschichtlichem Menschheitsgepäck ein: Klar, konsequent setzt er auf die Faszination der Sprache, macht keinen Firlefanz auf der kargen Drehbühne mit abstrakt-wuchtigem Balkenelement als Raumstruktur (Florian Etti). Sprache lebendig zu machen, ihr Resonanzkörper in den Rollen zu geben, macht die Geschichte, die Kushner und der Regisseur erzählen, so beeindruckend. Alle Schauspielerinnen und Schauspieler haben diese Herausforderung begriffen und liefern Großartiges ab.

Kushner exemplifiziert Familienbande im bitteren Wortsinn. Boss ist Gus (Edgar M. Böhlke), in die Jahre gekommener, kommunistischer Ex-Gewerkschafter der Hafenarbeiter. Er schwadroniert von seinem größten, erstreikten Erfolg, einer Tarifregelung, die allerdings nur ihm und wenigen eine Freistellung mit voller Bezahlung bis zur Verrentung gebracht hat. Der existentiellen Sorgen ledig, übersetzt er Horaz, leistet sich den Luxus, Lebensbilanz zu ziehen. Unterm Strich: Es lohnt sich nicht mehr. Ganz Demokrat, lädt er seine Mischpoke ein, über seinen Suizid mitzuentscheiden.

Eine Chaostruppe versammelt sich im Haus des Patriarchen. Sohn Pill (Klaus Rodewald) erscheint mit Homoehemann Paul (Thomas Meinhardt) und hat noch den Stricher Eli (Martin Aselmann) an der Backe. Zudem trägt er das Geld seiner Schwester Empty (Irene Kugler), das eigentlich für die künstliche Befruchtung ihrer lesbischen Freundin Maeve (Ragna Pitkoll) vorgesehen war. Der Samenspender musste aber nicht mehr bezahlt werden. Den notwendigen Akt besorgte Vic (Tim Eglhoff), der Bruder von Empty, ganz konventionell. Darüber ist sein Weib Sooze (Michaela Klamminger) nur noch amüsiert. Mit von der Partie ist Emptys Ex Adam (Jacques Malan), der es zur Enttäuschung von Maeve immer noch gelegentlich mit Empty treibt. Außerdem geistert Tante Clio (Elke Twiesselmann), dereinst Nonne und Maoistin, mit starken Sprüchen durch die bizarre Familienszenerie, nebst der Suizid-Helferin Michelle (Anke Schubert). Alle sind auf Selbstverwirklichungstrip, bleiben  aber Gefangene ihrer Ängste, ihrer Egoismen, Lüste und ihres Sehnens nach Liebe.

Selbstentfremdung und Isolation pur. Kleinbürgerlich jammert Gus: "Ich bin allein in meinem Gefängnis." Da lässt auch Lenin keine Morgenröte mehr für die Arbeiterklasse aufgehen. Empty zitiert ihn vergeblich: "Fang wieder beim Anfang an. Denke neu." Der Tod als letzter Akt der Befreiung. Die Revolution frisst ihre Kinder. Im Zerrspiegel der Ideologien ein nur noch groteskes Bild.

Pills Offenbarungseid gilt für alle: "Ich wusste nie, wie man lebt, ohne etwas kaputt zu machen." Noch in der Kapitulation stilisiert sich Gus als Held, schafft es aber nicht zu mehr als einem Don Quijote seiner aus der Zeit gefallenen Ideale: "Nicht mein Tod ist meine Verzweiflung, sondern mein Leben."

So einen Ideologiemix von Thesen und Antithesen im Illusionstheater hält man heute für nicht mehr spielbar. Kosminski beweist das Gegenteil. Er kommt auch ohne Anleihen bei Brechts epischem Theater mit seinen Verfremdungsmanien aus. Auch in der realitätsnahen Dramatik führen sich hehre Grundsätze selbst ad absurdum, entlarven sich als leere Phrasen. Das Drama des Menschseins bewegt das Publikum. Das Respekt abnötigende Mannheimer Bühnenteam findet dafür die schwierige Balance. Man lacht über die Kleinkariertheit der Figuren. Man hat Mitleid angesichts ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, der Tragödie also, die Bestandteil jeder Existenz ist.  

 

Ratgeber für den intelligenten Homosexuellen zu Kapitalismus und Sozialismus mit Schlüssel zu Heiligen Schrift (DEA)
von Tony Kushner
Übersetzung: Frank Heibert
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer, Dramaturgie: Ingoh Brux.
Mit: Edgar M. Böhlke, Klaus Rodewald, Martin Aselmann, Thomas Meinhardt, Irene Kulgler, Tim Egloff, Elke Twiesselmann, Ragna Pitoll, Michaela Klamminger, Jacques Malan, Anke Schubert.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

"Ein Ostküsten-Opus-Summum" sei es geworden, Tony Kushners "Faust", meint Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (23.1.2012). Und einen "starken Plot" könne das Familienstück denn ja auch aufweisen. Ob darin die Zentralfigur Gus "ein Heiliger oder eben doch nur ein 'manipulativer Drecksack' ist, wissen wir nicht. Edgar M. Böhlke gelingt es, ihm grimmige Schläue und joviale Größe für beide Möglichkeiten einzuschreiben. Und so sehen wir auf der dialektikschwangeren Bühne nichts Geringeres als 'den ganzen revolutionären subversiven hirnverbiegenden lebensverschlingenden Quark dieser wahnsinnigen Familie'. Kushners Wortwitz funktioniert." Doch "auch an diesem Abend hätte durchaus praktisch gedacht werden dürfen: Strich!" Kräftemäßig werde "von Ensemble und Regieteam hier freilich Großes geleistet. Trotz üppiger Aufgabenstellung, kreisender Bühnenplastik und Karussell fahrender Ideologien kann dieser Abend eines nie vergessen machen: Alles nur Theater."

Kosminski begegne Kushners Stück "mit inszenatorischer Ehrfurcht. Er lässt den so weitschweifigen wie schwatzhaften Bösartigkeiten viel Zeit und breiten Raum", meint Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (23.1.2012). Edgar M. Böhlke in der Hauptrolle sei "phantastisch". Und so sei es ein "großer Abend, gewiss. Konzentriert gespielt und mit dem nötigen Assoziationsfreiraum veredelt. Auch lange beklatscht und anschließend ausführlich diskutiert. Aber stellenweise doch arg redselig und klischeebeladen. Die vielen Anspielungen kommen oft bildungsdünkelnd forciert über die Rampe."

Kushner verknüpfe "das Geld mit dem Sex, Blut mit Begehren, Besitz mit Samen, Kinder mit Kalkül", schreibt Peter Michalzik (23.1.2012) in der Frankfurter Rundschau. "Diese Familie, sozusagen Amerika am Ende seiner großen Zeit, wiedergespiegelt in Brooklyns altem Backstein, ist ein hochgradig verwickeltes Netz des Wollens, des unbedingt Wollens, der Gier." Das Stück sei großartig gedacht und gebaut; Kushner wolle wirklich etwas über die Realität und die Menschen seiner Zeit wissen, sie verstehen; dabei vertraue er auf ihre Sätze. Im Film sei das normal, im Theater "Hyperrealismus". Zwar bewältige das Mannheimer Ensemble dieses High-Brow-Stück. Weil sich aber Burkhard C. Kosminski  nicht um Realismus schere, fehle es dem Stück an Boden: "Man spürt zu wenig vom drohenden Tod und der Geilheit der Figuren."

Für den "dreistündigen Kaffeeklatsch" hätten eigentlich die Zuschauer den Kaffee zum Wachbleiben gebraucht, meint Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (24.1.2012). Bei Stücken wie diesen offenbare sich nur "der Stillstand der US-Theaterkultur. Immer noch wandelt sie auf den ausgetretenen freudianischen Pfaden der Gründungsväter und will nicht wahr haben, dass Schauspiel mehr ist, als am Küchentisch die rhetorischen Klingen zu kreuzen." Obwohl die Schauspieler zwar gut trainiert und präzise spielten, hätten sie sich ins falsche Stück verirrt. So sehe man eher "deutsche Sprechbeamten" als das verlangte multiethnische Ensemble.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.1.2012) schreibt Martin Halter: Das Stück sei eigentlich "Ein Ratgeber zur Erlösung, mit Schlüssel zu den Heiligen Schriften von Marx und Lenin, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle homosexueller Intellektueller und der Tradition des Familiendramas von Tschechow bis Eugene O'Neill und Arthur Miller." Ein "Familiendrama auf Ecstasy, groß gedacht und technisch virtuos gemacht, rasend überdreht und theorielastig". Die Familie sei Spiegel und Gegenmodell zur kapitalistischen Konkurrenz. Aber die Jungen verspielten "Solidarität und Stolz, Wohl- und Vorruhestand". Gus, der pensionierte Hafenarbeiter und alte Kommunist, sei zwar "keine sehr glaubwürdige Figur", aber Edgar M. Böhlke gebe ihm "die Würde eines König Lear". Kosminski kühle das Werk in Mannheim "zum Karussell der verlorenen Illusionen herunter" und schraube es "realistisch-gediegen zu einer Art 'Drei Schwestern'-Travestie empor". Aber drei Stunden dirty talk seien doch ziemlich anstrengend. Kushner wolle "das Beste aus Schwulen- und Arbeiterbewegung retten", wirke dabei aber "so streberhaft wie ein notorischer Arbeiterklassenbester."

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