altDer mit dem Wulff tanzt

von Eva Biringer

Lübeck, 27. Januar 2012. Eine graue Kugel auf einem grasgrünen Wohnzimmerteppich wirft Fragen auf. Aus Stein kann sie nicht sein, dafür kullert sie den Akteuren zu leicht um die Füße. Leicht genug ist sie, um sie im Schoß zu wiegen, sich daran festzuhalten oder sie hin und her zu tragen. Daneben besteht die behutsam modernisierte Bühne (Thomas Heick) aus einem Sofa, Plastikstühlen im 70er-Look und variablen Wandelementen. Wie variabel diese Wandelemente sind, führen die Darsteller zu Genüge vor. Warum auch durch die Tür kommen, wenn man gleich mit dem Wandelement ins Haus fallen kann? Warum um das Sofa herumgehen, wenn man sich auch darüber schmeißen kann?

Niklaus Helblings Umgang mit dem Bühnenbild und den Requisiten seines Tartuffes erschließt sich ebenso wenig wie dessen unbedingter Imperativ zur Übertreibung. Dabei könnte die Stunde für den Auftritt eines Tartuffes nicht günstiger sein zu einer Zeit, in der ein ganzes Land über Schein und Sein politischer Akteure debattiert.

Enorme Körperenergie

Ein Politiker ist der Protagonist (Matthias Hermann) zwar nicht, aber ein Aufschneider wie aus dem kabarettistischen Bilderbuch. So tugendhaft tritt er auf, dass Hausherr Orgon ihn nicht nur bei sich aufnimmt, sondern bereit ist, die ganze Familie für den vermeintlich Mittellosen aufzugeben. Alle mit Ausnahme des grantelnden Hausdrachen Madame Pernelle (in Travestie: Sven Simon) misstrauen Tartuffes Bigotterie, doch weder Gattin Elmire (weit entfernt von der Besonnenheit der Vorlage: Sara Wortmann), noch seine Kinder können Orgon die Augen öffnen.

Tartuffe4a ThorstenWulff 560 uFoto: Thorsten WulffZu Beginn des Stückes spielt ihn Götz van Ooyen als aalglatten Guttenbergdoppelgänger, an dessen Coolness jeder Annäherungsversuch abperlt wie Regentropfen an seiner Brille, Modell zeitlos-dezent. Mariane, im Signalfarben-Kostüm (Lisa Charlotte Friederich), rattert, was Gestik und Mimik betrifft, das ganze schauspielerisch-verfügbare Repertoire herunter. Zornig haut sie ihre knallroten Hacken in den Bühnenboden, rudert mit den Armen, boxt imaginäre Gegner mit energischen Kinnhaken nieder und bleibt dabei doch seltsam ausdruckslos. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Bruder Damis (Patrick Heppt): Wo hat man schon jemand gesehen, der in einem solch bizarren Winkel das Bein abstellt wie er das unentwegt tut und dabei immer wenigstens mit einem Arm seine enorme Körperenergie auspendeln muss?

Marianes schrilles Kleinmädchen-Gehabe findet sein adäquates, nicht weniger enervierendes Gegenstück in dem Dienstmädchen Dorine (Katrin Aebischer). Schon deren Fingeknibbeln, geschweige denn ihre roboterhaften Ausfallschritte sind so grotesk überzeichnet, dass dem schon fast wieder ein brecht'scher Verfremdungseffekt innewohnt. All diese unnatürlichen und zugleich blutleeren Übertreibungsgesten halten die Figuren auf Abstand zu den Zuschauern und schließen jede Art Mitfühlen aus. Einzig ihre Tonlage unterscheidet sie von hysterischen Mickey-Mäusen.

Permanenter Eskalations-Imperativ

Wohin die Reise hätte gehen können, belegt der Vergleich mit Herbert Fritsch. Dessen von der Berliner Volksbühne geprägte Theatersprache ist mindestens so grell überzeichnet wie die von Helbling und dennoch nie platt. Leider tut Helblings Tartuffe auch die Übersetzung von Wolfgang Wiens nicht gut: Zwar nimmt sie Rücksicht auf ein zeitgenössisches Verständnis, was dann aber an mancher Stelle so komische Blüten treibt wie "Über alles müsst ihr spotten / da geht es zu wie bei den Hottentotten."

Eine der pikantesten Szenen des Stücks ist die, in welcher Tartuffe Elmire mit solch umwerfenden Sätzen wie "Wer im Geheimen sündigt, sündigt nicht" rumzukriegen versucht, nicht ahnend, dass ihr Ehemann sich unter dem Tisch versteckt. Bei Helbling wird aus dem Tisch, man ahnt es schon, das Sofa. Unter dieses manövriert sich Orgon unter plakativen Verrenkungen und als er wiederauftaucht, zeigt schon sein alles andere als akkurat sitzendes Haupthaar, dass hier etwas gehörig durcheinander geraten ist. Nur Tartuffe gelingt es, mit so beiläufig-lässigem Handgriff das Sofa zum Bettsofa umzuwandeln, wie er auch sein verrutschtes Toupet so nonchalant zurechtzurücken vermag.

Am Ende geht dem Regisseur jeder Maßstab verloren: Wo schon Molière etwas zu arg den sprechenden Namen bemühte, ist Monsieur Loyal hier ein aufgeblasener Wicht im Trash-Rokoko Kostüm mit rosafarbenen Ludwig-XIV.-Löckchen, der seine letzten Worte unerklärlicherweise singt. Die Übrigen nutzen diese musikalische Einlage für eine Art Menuett, drehen Schwanensee-artige Pirouetten und vollführen Sprünge, Marke Ballettparodie. Derweil setzt Elmire die Blumenvase zum Trinken an den erdbeerroten Mund, was Mariane gerade noch verhindern kann, indem sie ihr stattdessen die graue Kugel in die Hand drückt.

Ach, diese Kugel! Es ist diese unerklärliche Anwesenheit der Dinge und der permanente Eskalations-Imperativ an die Schauspieler, die einen ratlos zurück lassen.

 

Tartuffe
von Molière
Deutsch von Wolfgang Wiens
Regie: Niklaus Helbling, Ausstattung: Anja Hertkorn, Petra Winterer, Musik: Felix Huber, Dramaturgie: Peter Helling.
Mit: Sven Simon, Götz van Ooyen, Sara Wortmann, Patrick Heppt, Lisa Charlotte Friederich, Thomas Schreyer, Matthias Hermann, Katrin Aebischer, Jörn Kolpe.

www.theaterluebeck.de

 

zeitstiftung ermoeglichtDer Nord-Schwerpunkt auf nachtkritik.de berichtet in dieser Spielzeit über die Theater in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, wo sich die Kunst, so sie nicht unmittelbar ökonomischen Interessen zugute kommt, kaum noch gegen die Zwänge der Haushaltskrisen behaupten kann.  

 

Kritikenrundschau

Die große Molière-Komödie entfalte auch ohne den klerikalen Zeitbezug unverändert ihren Witz, so ein mit "Güz" kürzelnder Kritiker in der Lübecker Stadtzeitung (31.1.2012). Helbling drücke kräftig auf die Tube, "Komödie nach außen gestülpt, wird zur Groteske – was hier Absicht ist." Wer es schrill möge, komme hier voll auf seine Kosten. "Weniger bedient wird, wer in Dialogen und Charakteren Zwischentöne sucht."

Von grandiosen Schauspielern spricht Michael Berger in den Lübecker Nachrichten (30.1.2012), der auch sonst viel Freude mit diesem Abend hat. Niklaus Helbling lasse die Figuren des Stücks wie in einer Screwball-Komödie rotieren, "mit rasanten Dialogen, Tür-auf-Tür-zu-Slapstick". Das ist für den Kritiker ein probates Mittel, dem um sich greifenden Wahnsinn zum Ausdruck zu verhelfen. Besonders Sven Simon als Madame Pernelle jedoch zeigt für Berger die Fallhöhe der Komödie auf: die herzzerreißende Nachbarschaft von Tragik und Groteske.

Zum Brüllen komisch findet Karin Lubowski in der Zeitung Schleswig-Holstein am Sonntag (29.1.2012) die Inszenierung, bei der der französische Komiker Louis de Funès aus ihrer Sicht Pate gestanden haben könnte. Aber sie hört in Niklaus Helbling Molière-Lesart auch dessen Ewigkeitswert heraus. Seine immerwährende Aktualität also, die bei ihr angesichts gegenwärtiger Heuchler in hohen Staatsämtern für heftige Übelkeitsgefühle sorgt.

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