altDreier mit Lämmchen

von Christian Rakow

Berlin, 27. Januar 2012. Etwas muss an Mellefont dran sein. Etwas, das wir diesem leicht wohlstandsbeleibten Geschäftsmann in seinem feinen Nadelstreifenanzug nicht ansehen. Vielleicht umweht ein zarter Hauch von Helium sein dreitagebärtiges Kinn? Oder wie anders wäre es zu erklären, dass Frauen sogleich in einen kindlich quiekenden Ton verfallen, wenn sie sich ihm nähern? Und zwar Frauen jedweden Alters, egal ob jung wie Miss Sara oder schon etwas reifer wie Lady Marwood.

MissSara SonjaRothweiler hoch xLebemann und Wölfin: Michael Abendroth und Corinna Kirchhoff in "Miss Sara Sampson"
© Sonja Rothweiler
Vielleicht täuschen wir uns aber auch, und das ganze Geziere und Gekicher geht aufs Konto von Regiealtmeister Günter Krämer (Jahrgang 1940). Zumindest hat Krämer in seinem Versuch, Lessings Trauerspiel "Miss Sara Sampson" (1755) als zeitlose Dreiecksbeziehung einzurichten, den Frauen die tönenden Partien zugedacht, während sein alternder Mellefont (Michael Abendroth), der mit Miss Sara seinen x-ten Frühling als Edelverführer erlebt, vornehmlich den schweigsamen Genießer gibt. Die Ménage à trois ist auf eine Schräge, in ein violett möbliertes Hotel verlegt worden, mal an die Bar, mal in ein stilisiertes Zimmer (Bühne: Herbert Schäfer). Doch so abstrakt und modern alles durchgestylt ausschaut, es wirkt doch wie im Hollywood-Melodram der 1950er Jahre.

Von Wölfen, Schäfern und Schafen

Retro ist an sich chic. Heute, am Premierentag, bringt Lana Del Rey ihr Debütalbum heraus, eine Sängerin, die es einigermaßen kunstvoll versteht, als verruchte Heilige mit Brigitte-Bardot-Touch Tonträger an den Mann (!) zu bringen. Fast eine Miss-Sara-Sampson-Travestie: Man ist wieder ein bisschen tugendhaft antiquiert und doch verheißungsvoll verderbt. Aber Krämers Interpretation geht nicht einmal bis in diese ja auch nicht eben klischeefreien Schattierungen der Figur. Saras gesamter Vaterkonflikt samt der großen, dunkel rebellischen Briefszene, in der ihr Engelsimage angekränkelt wird, ist gestrichen. Übrig bleibt dann die Titelheldin als harmloses, durch und durch naives Lämmchen.

Krämer hat drei Fabeln von Lessing in seine rigorose Strichfassung eingelassen: Sara (eingangs nackt in der Badewanne, dann in weißem Hochzeitskleid: Anna Graenzer) preist in zweien die selige Duldsamkeit der Schafe. Marwood (in schwarzem Trenchcoat mit Lederstiefeln: Corinna Kirchhoff) erzählt die Geschichte vom Wolf, der sich den Schäfern zugesellen will und von ihnen mit tragischen Folgen abgewiesen wird. Mit dieser Zuteilung ist inhaltlich alles, wirklich alles gesagt.

Wo ist die Partitur?

Fraglos könnte auch aus solch einer kolportagehaften Figurenkonstellation noch ein passables Kammerspiel entstehen, weil im wölfisch gefährlichen Temperament der Marwood, in ihrem Leiden am Altern, ihrer Sehnsucht nach ihrem Verflossenen Mellefont und ihrem Wunsch nach Revanche allemal eine schillernde Figurenentwicklung möglich ist. Krämers Fassung widmet sich Marwood mit aller Entschiedenheit, ja sie kennt eigentlich nur diese gewaltige, oft theatralisch überkandidelte Rachefurie. Und wenn es in diesem Lessing-Abend überhaupt Mitleid gibt, dann für sie. Das Giftglas, das sich Marwood bei Krämer am Schluss selbst zudenkt, gerät eher zufällig in Saras Hand.

Doch die große Corinna Kirchhoff, die so oft Abende funkeln ließ, spielt die Theatralikerin Marwood, als wolle sie nicht nur das vorgesehene Solo ausfüllen, sondern sogleich ein komplettes Orchesterwerk hinlegen. Endlos dehnt sie ihre Partien und wechselt nach Belieben und undurchschaubar Tonfälle und Tonhöhen. Von einer Partitur ist nichts zu spüren. Mit Mellefont kommen auch visuelle Spreizungen hinzu: Marwood räkelt sich an der Bar, umklammert den alten Lover, weicht zurück, wirft sich ihm an den Hals, stupst ihn an, greift ihm in den Schritt, lässt sich die Brust befühlen. Alles so aufdringlich wie sprunghaft bebildert. Und der Entwurf einer Theatralik der Figur gerinnt zur bloßen Theatermechanik; Sinn erlischt im frei rotierenden Virtuosentum.

Auf gerader Linie ins Klassiker-Abseits

Das Berliner Ensemble gilt unter Lehrern als dasjenige hauptstädtische Theater, in dem man mit Schulklassen geradlinige, sperenzchenfreie Klassikerumsetzungen anschauen kann. Was diesen Abend mit dem Abiturstoffklassiker Lessing anbelangt, an dem ein Stück-Torso mit viel Theater-Trällerei hinter den Mond katapultiert wird, muss man sagen: Bewahre!

 

Miss Sara Sampson
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: Günter Krämer, Bühne: Herbert Schäfer, Kostüme: Falk Bauer, Dramaturgie: Hermann Wündrich.
Mit: Michael Abendroth, Anna Graenzer, Corinna Kirchhoff und in der Kinderrolle Arabellas: Anna Birkner, Wilhelmina Mischorr.

www.berliner-ensemble.de


Kritikenrundschau

Schon über den Anfang dieser "so kunstvollen wie bravourösen Aufführung", wenn Corinna Kirchhoff eine Lessing-Fabel zum Besten gibt, gerät Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.1.2012) ins Schwärmen. "Obwohl der Abend keine zwei Stunden dauert, entwickelt er einen gewaltigen, bis heute reichenden Kosmos aus Liebe und Abhängigkeit, Wahrheit und Verrat, Betrug und Erniedrigung." Eine kluge, geschmeidige Sprechweise hole die Geschichte über die zwischen Konvention und Emanzipation zerrissene Marwood in die Gegenwart.

"Edelboulevard mit surrealistischen Tupfern" sah Doris Meierheinrich für die Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau (30.1.2012). "Nicht das bürgerliche Trauerspiel 'Miss Sara Sampson' wird hier aufgeführt, sondern die große, tragische 'Lady Marwood'-Oper", bemerkt auch sie. Der einzige Gedanke des Abends, dass das Böse nicht ist, sondern gemacht wird, sei zwar sympathisch, simplifiziere das Ganze aber sehr.

Eigentlich hätte dieser Abend "Marwood" heißen müssen, schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (29.1.2012). Denn Krämer habe in seiner Fassung alles auf diese Rachefigur konzentriert. Mit der Streichung von Saras Vater fielen sowohl die "Vergebung" wie auch "die Gefahr der Rührseligkeit" weg. Sara sei eher "Stichwortgeberin" und auch Melefont bleibe "zu blass". Der Abend gehöre "einzig und allein" Corinna Kirchhoff als Marwood. Sie "spielt nicht eine rachsüchtige Frau, sie zelebriert die Verzweiflung einer alt werdenden Schönheit mit einem Furor, als zeige sie den Archetyp der verbitterten Frau." Marwoods Aufbäumen gegen die eigene "Niedertracht und Verschlagenheit" sei – "der überzeichneten Mimik zum Trotz" – "anrührend".

Ein – "trotz Schwächen in der Darstellung" – "überraschend zeitgemäßes Beziehungsdrama" hat Katrin Pauly für die Berliner Morgenpost (29.1.2012) im BE gesehen: "Ganz ohne Tränen, aber mit viel Gift und Galle." Statt "Empfindsamkeit" biete Krämers gekürzte Fassung "Platz für zickige Emphase". Diesen fülle vor allem Corinna Kirchhoff als Marwood: Sie "zickt und zetert und umschmeichelt, sie ist gemeingefährlich in ihrer Verletztheit und probt, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, die passende Miene zum bösartigen Spiel. Jedoch, sie legt ihre Figur streckenweise zu ausladend an, Marwoods emotionale Versehrtheit und ihre Wut wirken dadurch bisweilen überspreizt". Sara besitze gegen diesen Auftritt "wenig Chancen", Mellefont habe "noch etwas mehr Format, allerdings eher das eines alternden Schwerenöters, was aber durchaus ins Gesamtkonzept passt."

Überall platte Symbolik, die durchaus mögliche Tiefe deckelt, schreibt Leander Steinkopf in der FAZ Sonntagszeitung (29.1.2012). Manchmal flackere in Corinna Kirchhoff das Können auf, den Charakter der Marwood auszuleuchten, doch leider habe man ihr ein Übermaß an Hysterie in die Rolle gezwirbelt. "Statisches Spiel und Hysterie, Langeweile und Penetranz wechseln sich ab in dieser Inszenierung", die ohne Sinn für die Wirkung sei: "Wurde es liebevoll, war es lächerlich. Leidenschaft rief nur Ekel hervor. Das Ende war eine Erleichterung."

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