altÜber Bleiben und Gehen

von Guido Rademachers

Moers, 2. Februar 2012. Das Programmheft steckt zusammen mit Werbepostkarten, Veranstaltungshinweisen und -broschüren in einem kleinen braunen Pappkarton. "ÜBERGEHEN" steht in roter Stempelfarbe darauf. Es ist der Titel einer Projektreihe mit Inszenierungen, Ausstellungen, Vorträgen und Workshops, die das Schlosstheater Moers in Kooperation mit Wohlfahrtsverbänden und Kliniken ausrichtet. Ein Titel, der gleich mehrere Bedeutungsmöglichkeiten zulässt: Übergehen – als Übergang vom Leben in den Tod nämlich – sowie: etwas übergehen. Und, so versetzt, wie die Silben aufgestempelt sind, auch: Über das Gehen. Was, da Bewegung relativ ist, nicht nur jemanden voraussetzt, der geht, sondern auch einen, der bleibt.

Elefant FotosNielinger hoch u Foto: Christian Nielinger

Verschwende niemals Zeit

"Hallo Leute. Sagt mal, was ist los bei euch? Habt ihr nicht schon genug Scheiße erlebt?" Per Skype hat sich der 22-jährige Thao eingeschaltet und blickt freundlich vom Flachbildschirm auf das Bühnengeschehen. Der Name ist vietnamesisch und bedeutet "freudige Wolke". Soeben hatten sich zwei Schauspieler gestritten. "Ich kann nachfühlen, wie es euch geht. Ich kenne viele Eltern wie euch." Thao hat Lymphdrüsenkrebs und greift zur Gitarre: "Ich lebe hier und jetzt für alles bereit / Verschwende niemals meine Zeit."

Regisseurin Barbara Wachendorff und Dramaturg Felix Mannheim lassen Jugendliche zu Wort kommen, die als Kinder lebensbedrohlich erkrankt waren und es zum Teil noch sind. Bei allen zu spüren ist eine ungeheure Lebensbejahung und ein vollkommen pragmatisch-unsentimentaler Umgang mit der Krankheit. In einer Schlüsselszene betreten zwei an Krebs erkrankte (und inzwischen geheilte) junge Frauen die Bühne und schieben sich vor die beiden Schauspieler ans Mikrofon. Was bis jetzt eher trotzig (Katja Stockhausen) oder sanft (Matthias Heße) klang, auf einen Schlag fällt von den Krankheitsschilderungen alles emotional Aufgeladene ab. Es sind nüchterne Analysen.

Die Schauspieler versuchen noch eine Zeitlang mitzuhalten, drängen sich wieder an die Mikrofone, geben schließlich auf und verziehen sich nach hinten, um sich mit Benefiz-Red-Noses und Gazevorhang die Krankheit vom Leib zu halten. Schließlich inszenieren sie eine perfide Kindershow: "Toc Toc Toc, der kleine Doc! Hast du Schnupfen oder Husten, der kleine Doc kann dir was pusten!"

Elefant FotosNielinger 280 uFoto: Christian Nielinger

Kommunikationsunfähigkeit

Wachendorff stellt nicht Krankheiten aus, es geht ihr um das Entskandalisieren, um eine Normalität. Die beiden Frauen haben ihren beeindruckend klar-souveränen und relativ kurzen Auftritt. Die anderen Erkrankten werden (abgesehen von der Skype-Kurzintervention) zu O-Tönen mit dezenten Video-Porträteinstellungen zwischen Fingerblatt-Topfpflanzen und weißen Funktionsmöbeln im kühlen Wartezimmerchic auf die Bühne projiziert.

Ausgestellt wird mittels der Schauspieler allerdings der Umgang anderer mit der Krankheit. Der der Eltern, Ärzte, Medien. Und nicht zuletzt auch der des Theaters und der Schauspieler selbst. Anstelle sie ohne weitere Umstände als emotionalen Rohstoff auszubeuten, reflektiert das Theater sich in seiner Kommunikations(un)fähigkeit mit den Schauspiel-Laien und deren Geschichten selbst. "Elefant im Raum", der Titel des 90 Minuten langen Abends geht auf die Schilderung eines Leukämie-Kranken zurück. Während seiner Behandlungsphase wurde nie das Wort "Krebs" in den Mund genommen, obwohl allen klar war, worum es ging. Darauf zielt die Aufführung ab: Bevor man den Krebs betrachten kann, muss erst einmal der Elefant gesehen werden.

 

Elefant im Raum (UA)
Textzusammenstellung und Regie: Barbara Wachendorff, Bühne und Kostüme: Christoph Rasche, Dramaturgie: Felix Mannheim.
Es spielten: Matthias Heße, Katja Stockhausen, zusammen mit Janise Ebbertz, Lisa Gräf, Moritz Müller, Marcel Wald.
Per Skype: Thao Pham, Franziska Wolf.
Auf Video: Martin Betz, Mahmoud Bouassida, Tina Friede, Egzon Osmani, Alina Valhaus, Manuel.

www.schlosstheater-moers.de

 

 Kritikenrundschau

Auf WDR 2 (2.2.2012) berichtet Stefan Keim, dass bei der Beschäftigung mit dem Thema Tod und Gesellschaft ein "überraschend witziger Abend" heraus gekommen sei. "Die Schauspieler und zwei junge Frauen, die vor einigen Jahren schwer krank waren, setzen satirische Spitzen." Immer wieder halte man dann aber doch inne, zum Beispiel wenn die ehemals todkranke Lisa Gräf unsentimental von ihrem Schicksal berichte. "Sie will kein Mitleid." Eben das sei eindrucksvoll. Gräf nutze die Möglichkeit, ganz anders auf ihre Erkrankung zu schauen, die nun schon länger vorbei ist. "Und nimmt dabei die Zuschauer mit." Man spüre eine große Klarheit, ein anderes Bewusstsein dem Leben gegenüber. "Krank sein, das wird an diesem beeindruckenden Abend deutlich, ist eine Chance, Leben zu lernen."

In der Neuen Ruhr Zeitung (4.2.2012) schreibt Karen Kliem: Eine "Atmosphäre der Demut" entfalte sich im Zuschauerraum angesichts der unterschiedlichen Schicksale. Barbara Wachendorff habe es "streng vermieden", ein "Rührstück" zu machen. In drei "fast klamaukigen Episoden" nehme sie den Berichten der jungen Leute "die Schwere". Doch überlagere das kurze Lachen "für zwischendurch" nicht das Thema. Szenenapplaus gebe es für den Rap ,,Ich bin Arzt" mit Pillendöschen als Rasseln und OP-Besteck als Perkussionsinstrument. Die Videos und "unverfälschten Texten" betroffener junger Leute zeigten, "wie ein Stück zum Tod geht": Indem das Leben Thema ist und die Krankheit und ihre Folgen nicht würden.

In der Rheinischen Post aus Düsseldorf (4.2.2012) schreibt Anja Katzke: Barbara Wachendorff wage eine "mutige Inszenierung". Niemand befasse sich gerne mit Krankheit und Angst vor dem Tod. Die Regisseurin dokumentiere die Fakten, um sie dann "spielerisch aus dem realen Raum herauszuholen". "Mitleid und Betroffenheit" blieben "außen vor". Wachendorff inszeniere unangestrengt, sie gebe dem Stück eine "wohltuende Leichtigkeit", indem sie Späße wage. Gleichzeitg gelänge es, berührende Momente zu schaffen.



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