Kein Science-Fiction (UA) - Nora Schlocker inszeniert Tine Rahel Völcker am Düsseldorfer Schauspielhaus
Kassandra in der Investmentfirma
von Regine Müller
Düsseldorf, 11. Februar 2012. Intendant Staffan Valdemar Holm hat in Düsseldorf das Schauspieler-Theater ausgerufen und bislang eine schnörkellose, gemäßigt moderne und eben nicht modische Ästhetik etabliert. Das hat ihm Applaus, aber auch die Kritik eingebracht, das Haus allzu konservativ auszurichten. Möglich, dass nun deshalb die Ansage an die Hausregisseurin Nora Schlocker lautete, formal diesmal doch bitte etwas beherzter zu Werke zu gehen und bloß nicht braves Guckkastentheater zu liefern?
Jedenfalls gibt es keine Platzkarten und schon an der Garderobe wird man angewiesen, doch bitteschön auch die Taschen abzugeben, da es eng werden könne. Das wird es tatsächlich in dem seltsamen Tunnel, durch den man via Backstage-Eingang den Ort des Geschehens betritt und schon mal gleich den Eingangsmonolog von Aleksandar Radenkovic verpasst, da den nur die unmittelbar Umstehenden hören können, während der Rest im Tunnel wartet. Dann darf man auf die Bühne und dortselbst lange herumstehen, bevor Sitzkissen verteilt werden, während die ersten Abtrünnigen sich bereits in die Sitzreihen verkrümelt haben.
Zugbrücke Richtung Aufstand
Unter den Kissenhockern herrscht derweil drangvolle Enge, zudem muss diensteifrig hin- und hergerutscht werden, denn das Spiel findet mitten im Publikum statt, wo man wie immer bei solchen Maßnahmen der theatralen Verdringlichung den Text schlecht hört und noch schlechter sieht. Das alles hat statt zum Zeichen, dass der Gegenstand der Verhandlung inmitten unserer Gesellschaft stattfindet. Denn, jaja, es geht um die Finanzkrise, um Integration, um den Rechtsruck, ums Prekariat, um die Vereinzelung des postmodernen Subjekts und, was noch? Ach ja, um die kommenden Aufstände und nichts Geringeres als die drohende Apokalypse.
Tine Rahel Völckers Textbuch will viel und nimmt den Mund sehr voll. Daher reicht es nicht, heutige Menschen auf die Bühne zu stellen. Für die gehörige Fallhöhe müssen die alten Atriden her, es raunt sich besser mit den mythischen Namen Agamemnon, Kassandra und Aerope. Sogar die Investment-Firma heißt Atreus und als Brücke in die Neuzeit fungiert eine Dame namens Kafka, ein Serbe namens Mihajlo und ein "Kampfbund für Europa", der sich aus dem chorisch auftretenden, nur vierköpfigen Ensemble rekrutiert.
Tweed-Anzug und Lohengrin-Schwert
Nach etwa einer Stunde werden die Kissenhocker in die Sitzreihen befohlen, von denen aus man dann Steffi Wursters Bühnenbild bestaunen kann, das eine Art havarierten ICE zeigt. Später wird eine Burg mit Zugbrücke daraus, wenn Agamemnon endlich im Kettenhemd über dem Tweed-Zweiteiler auftritt und ein Lohengrin-Schwert schwingt.
Denn Kassandra hat es mit dem Schwarzsehen übertrieben und nun springen die Zwangs-Angestellten des nicht näher definierten Unternehmens reihenweise von der Firmen-Burg in den Tod, es folgt der unvermeidliche Aufstand, in dem Agamemnon und die Errungenschaften der Zivilisation fallen. Die Rechtsnationalen tragen den Sieg davon, Ausländer, darunter die mittlerweile schwarz angemalte Kassandra werden liquidiert. In der nun eingekehrten Ruhe vegetiert Kafka im Unkraut dahin.
Klettern, brüllen, mahnen
Tine Rahel Völckers Text ächzt unter seiner Theorie-Last und salbadert im hohen Ton des großen Dramas, ohne klar umrissene Figuren oder gar glaubhafte Charaktere zu entwickeln. Das Ensemble wird so gezwungenermaßen zur Aufsage-Maschine, ohne aber im Jelinek'schen Sinne konsequentes Textflächentheater zu präsentieren.
Regisseurin Nora Schlocker, die den Abend in enger Zusammenarbeit mit der Autorin entwickelte, behilft sich mit wildem Aktionismus. Auch im Zuschauerraum wird weiter interveniert, unablässig über Stuhlreihen geklettert, gebrüllt und gemahnt. Das Ensemble müht sich redlich, die im Text vorgeschriebenen Redepausen werden ignoriert, es muss schnell gehen, um die dramaturgischen Durchhänger zu füllen. Die heillose Verquastheit des Textes wird dadurch leider nicht lebendiger. So ziehen sich die etwas über zwei Stunden zur Bußübung. Ein schlaumeiernder Rohrkrepierer.
Kein Science-Fiction (UA)
von Tine Rahel Völcker
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Steffi Wurster Kostüme: Caroline Rössle Harper, Musik: Gregor Kerkmann, Licht: Jean-Mario Bessière, Dramaturgie: Katrin Michaels.
Mit: Xenia Noetzelmann, Ingo Tomi, Elena Schmidt, Aleksandar Radenovic.
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
"Kein Science-Fiction" Stück sei ein "sehr gut gemeinter Versuch, die Dinge auf dem Theater zu behandeln, die im Moment die Welt in Atem halten. Nur leider kein gut gemachter", zu diesem Schluß kommt Dina Netz in der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandfunk (12.2.2012) Aus ihrer Sicht nämlich hat Tine Rahel Völcker zu viel gewollt: den Kassandramythos, das Ende der Weimarer Republik und die Krise der heutigen Finanzwelt gleichsetzen, von Hunger in Afrika, unzufriedenen und sich radikalisierenden Europäern erzählen." Nora Schlockers aktionistische Regie mache dieses Thesentheater nur noch konfuser. Nach einer Stunde kapituliere die Inszenierung "vor ihren eigenen Mitteln und schickt das Publikum in den Zuschauerraum. Bis dahin hat man sich abgemüht, etwas zu verstehen, zu sehen und eine erträgliche Körperhaltung einzunehmen - und vom Stück wenig mitbekommen. Und das bei einem so komplizierten Text."
Hausregisseurin Nora Schlocker schaffe es, "mit einigen Regietricks und mit Hilfe der Schauspieler, das kopflastige Stück sehenswert zu machen", ist auf Welt-online (12.2.2012) zu lesen. So richtig betroffen macht die Idee eines zusammenbrechenden Geld-Europas den Kritiker trotzdem nicht. "Viel wird über Afrika, Europa, Geld, Markt, Rosa Luxemburg und die Frage geredet, warum sich die Angestellten vom Dach der Burg stürzen. Der Kampfbund zischt fremdenfeindliche Hassmonologe. Schließlich stürzt Europa in einen Kapitalismus-Krieg, den Agamemnon mit Schwert und Kettenhemd führt." Dass der Abend doch noch unterhaltsam werde, sei den Leistungen der Schauspieler zu verdanken.
Von einer unausgegorenen Inszenierung mit Längen spricht die in Düsseldorf erscheinende Rheinische Post (13.2.2012) Es fehle der rote Faden. "Die sperrigen Dialoge, der Prolog und der Epilog, wollen keine Sprengkraft entfalten. Gelesen ist der Text aussagekräftiger."
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Sie regen sich darüber auf, dass man seine Tasche und Jacke an der Garderobe abgeben soll? Und, dass sie keine Platzkarte bekommen? Wo sind wir denn hier? Freie Platzwahl steht auf der Eintrittskarte. Können Sie ja noch mal nachgucken. Und die haben sie ja nun wirklich gehabt.
Seit wann muss man denn ins Theater gehen, sich auf seinen Hintern setzen, in Reihe 2, 3 oder 4 und sich berieseln lassen? (...).
Der Abend von Schlocker und Völcker hat eine unglaubliche Kraft. Das 4-köpfige Ensemble tritt aus der Masse des Publikums und verschwindet eben so gut wieder darin. Und dann werden die Ebenen eben mal vermischt. Man ist Teil der Inszenierung und da muss man sich denn auch drauf einlassen.
Man wird hineingezogen in die Thematik- über den Verlauf der jetzigen Situation, Occupy, Bankenkrise, bis hin zur Apokalypse. Die wie man merkt nicht ihre sein wird.
Ich stimme bambi vollkommen zu. Der Abend ist kraftvoll, das Ensemble stark, ebenso wie die Texte. Natürlich wird viel verhandelt. Fragen werfen sich auf. Nicht unbedingt Antworten. Das macht das Ganze umso spannender.
Zurücklehnen können Sie sich zuhause auf der Couch.
(Werter Ronald Schmidt,
wie bei allen Kommentatoren, die unter prominenten Klarnamen posten, haben wir auch in diesem Fall die Authentizität der Autorin geprüft.
MfG, Georg Kasch für die Redaktion)
"Regine M" ist offenkundig die Autorin dieser Rezension hier.
Was Frau Völcker hier sagen will, finde ich auch nicht so schwer festzustellen. Sie beantwortet eine unsachliche Kritik mit einem unsachlichen Aufschrei - das ist doch erstmal völlig legitim (und inhaltlich aus ihrer Position natürlich auch recht verständlich).
Ich finde durchaus auch, dass die Argumentation von Frau Müller an der Inszenierung etwas vorbeigeht und viel zu sehr auf die Tatsache fußt, dass es keinen anständigen Sitzplatz gab. Und das ist m.E. nun allerdings ein wenig armselig, zumal dieser Abend ja nun jede Menge Material dafür bot, Hohn, Spott und Abfälligkeiten über ihm auszugießen. Es fängt bei dem unsäglich banalen Text an, der allerlei Oberflächlichkeiten ohne jeden Tiefgang und ohne Analyse aneinander reiht und besserwisserisch behauptet, alles Böse dieser Welt zu erkennen und zu verstehen. Es geht weiter bei einer Inszenierung ohne Mitte, ohne Konzentration auf einen wesentlichen Punkt und auch ohne starke, einfallsreiche Bilder und endet bei einem vierköpfigen Ensemble, von dem bestenfalls zwei Leute gut und glaubwürdig spielen.
Die exzessiven Hochleistungen und Verkleidungskünste der Schauspieler, die Maske, der Sound und vor allem die Inszenierung der direkten Einbindung des Besuchers ind die Dramatik fand ich überzeugend.
Als aufmerksamer Mensch freue ich mich doch über dieses Werk, das in seiner Tiefe nicht höhnisch, spöttisch oder defatistisch daherkommt, sondern ungeschminkt eine Wahrheit inszeniert, der zu stellen sich ja schon keiner mehr gewagt hat, was im Gesellschaftsbewußtsein wiederum auf ein anderes als das deprimierte Ende des Stücks hoffen läßt.