14. Februar 2012
nachtkritik-Theatertreffen 2012: Das Ergebnis
Sie haben gewählt! Aus 43 Inszenierungen des letzten Jahres, die von den nachtkritik-AutorInnen nominiert wurden. Zehn Tage lang waren die Wahlurnen geöffnet. Bis zu zehn Stimmen konnte jeder Wähler abgegeben. Für die zehn wichtigsten Inszenierungen des vergangenen Jahres. Nun sind die Stimmen gezählt.
– 2404 Wähler gaben insgesamt
– 4960 Stimmen ab, also jeder Wähler durchschnittlich
– 2,06 Stimmen, und zum virtuellen nachtkritik-Theatertreffen 2012 sind eingeladen:
(alphabetisch geordnet)
Die hinreißenden Kids im Spiegelkabinett von Gob Squad spielen uns ganz unverfänglich vor, was es heißen könnte, heranzuwachsen und alt zu werden. In ihren unschuldigen Wahrheiten wird sich aber jeder verfangen, der zuweilen Zweifel hegt. Und sehen, dass man zwar schon viele Kompromisse eingegangen ist, es aber trotzdem nie zu spät ist, sich treu zu bleiben.
Das ist ein grandioser Stoff – Erinnerung an die britisch-amerikanischen Bomben auf Dresden und zugleich an den Umgang der DDR mit eben dieser Erinnerung, und das auf dem Fundament der zu Teilen jüdischen Biographie eines Holländers von immensem poetischen Horizont und mit dem Blick der späten 50er Jahre ... In Dresden ist daraus eine in jeder Hinsicht intelligent konstruierte und aufregend gespielte Inszenierung geworden. Niemand, der danach das (ebenso grandiose) Buch nicht lesen wollte; aber zugleich auch niemand, der nicht sehr zufrieden sein dürfte mit dieser meisterlichen Arbeit des Teams um Stefan Bachmann.
Stephan Rottkamp inszeniert mit Barlachs "Der blaue Boll" effektvoll und farbsatt die scheiternde Suche nach dem Ich – ohne dem dunkel raunenden expressionistischen Pathos dieses selten gespielten Textes anheim zu fallen. Der Regisseur riskiert viel, setzt konsequent auf die Wirkung der unheimlichen Sprachmagie Barlachs – und gewinnt alles: auch weil er ein sehr gutes Ensemble mit einer großartigen Ute Hannig in der Rolle der Martha zur Verfügung hat.
Ein neuer Dostojewskij von Frank Castorf mit heimkehrenden Spielberserkern und einer Hauptfigur, die Alexander Scheer zwischen spitzbübischer Dreistig- und fiebriger Maßlosigkeit wie auf den Leib geschrieben scheint! Der "Spieler" feiert inhaltlich wie spielerisch eine Orgie der Verschwendung und versteigt sich bei Slapsticks, Hineinsteigerungsarien und Assoziationsfeuerwerken nicht etwa zur simplen Anklage der zockenden Banker. Stattdessen führt er die Verlockungen des Kasinokapitalismus als solche vor, in deren Strudel wir alle geraten können.
Eine Aufführung mit musikantischem Drive und durchwegs überdurchschnittlichen Leistungen des Schauspielensembles. Besonders bemerkenswert dabei: Margit Maria Bauer als anrührende Polly mit Sex-Appeal, Barbara Grimm als witzig karikierende Frau Peachum, Günter Baumann als ein Macheath, der seine schwarze Seele wundervoll in einer übersteigerten bürgerlichen Allüre verbirgt. Was insgesamt geglückt ist: den sozialen Sprengstoff der Vorlage sichtbar zu machen und dennoch einen liederseligen Unterhaltungsabend zu präsentieren, der aber immer wieder das Lachen in der Kehle stocken lässt. Eine Regieleistung, die um so erstaunlicher ist, als die Mittel des Theaters höchst beschränkt sind und das Bühnenbild so einfach gehalten sein muss, dass es in den zwei Städten problemlos auf die verschieden großen Bühnen passt.
Fritsch oder der tolle Tag: So springlebendig, überkandidelt, koloraturenhaft kurios und enthemmt, dass dies die launigsten, kurzweiligsten, spielverrücktesten, phantasievollsten zwei Theaterstunden des Jahres sind.
Stemann pflügt die gewaltigen Stoffmassen derart unorthodox, spielfreudig, unterhaltsam und bilderstark um, dass einem bei achteinhalb Stunden Brutto-Dauer so gut wie nie langweilig wird. Vor allem die intelligent aufgemischte Vielfalt der Spielformen macht diesen großangelegten Extremversuch spannend: Monolog, Mummenschanz, Rockoper, Zombie-Tanz, Parodie, Wortstrenge, Tragik, Zeitkritik, Science-Fiction, Kasperltheater. Ein grandioses, heiteres, feinsinniges, anrührendes, schräges, pathetisches und kitschiges Gesamtkunstwerk.
Die Inszenierung überzeugt durch ihr äußerst facettenreiches Spiel, das sich nicht darauf beschränkt, "Erinnerung" zu thematisieren. Zugleich löst die Aufführung durch ihre surrealistisch-assoziative Anlage auch ganz individuelle Erinnerungssplitter bei jedem Zuschauer aus.
Ein atemraubendes Stück politischen Theaters über den ruandischen Völkermord von 1994. Die Theaterperformance spielt auf einer historischen Bruchstelle, die eine ganze Gesellschaft zu cooler Popmusik und flotten Sprüchen in den Abgrund stürzen lässt.
Nein nein nein nein nein, ich will nicht arrrbeiten, nein, ich will nicht arrrbeiten! Ich will Glück Glück Glück Glück Glück Glück Glück Glück Glück Glück Glück Peng Bumm Krach Zonk. Hände hoch!
Wir gratulieren den Gewinnern und bedanken uns bei allen, die mitgemacht haben!
Und das Ergebnis?
Sie haben gewählt, und auch wenn es auf den Relegationsplätzen 8 bis 13 eng zuging, so stellt sich die Frage: Was besagt das Ergebnis?
Neben all den Erkenntnissen, wer gut vernetzt ist, wer die sozialen Netzwerke beherrscht und wer sein Umfeld mobilisieren kann, so scheint die dreifache Kürung der Berliner Volksbühne jedenfalls erwähnenswert: In den letzten Jahren regelmäßig kritisiert, lässt das Haus im zwanzigsten Jahr unter Frank Castorf die anderen großen Berliner Häuser hinter sich!
Dagegen kommt nur eine freie Spielstätte an – das Hebbel am Ufer (HAU), die freie Spielstätte unter Matthias Lilienthal, mit zwei Gewinnerstücken; im letzten Jahr übrigens bereits mit She She Pop unter die ersten Zehn gewählt.
Außerdem dabei: Dresden, Stuttgart, Bielefeld und Biel-Solothurn. Letzteres Theater inzwischen ein alter Bekannter des nachtkritik-Theatertreffens. Wien und München verpassen den Sprung in die oberen Zehn knapp. Ein anderer großer Name hat es dafür geschafft: der monumentale Faust-Marathon von Nicolas Stemann, derzeit im Hamburger Thalia-Theater zu sehen.
Alles in allem also ein fast schon gewohnt disparates Ergebnis. Überregional Bekanntes neben regional Vernetztem. Ein Blick zurück aufs Theater des vergangenen Jahres, bevor es heißt: Auf ein weiteres, disparates Theaterjahr.
Zu den Gewinnern der letzten Jahre: Ergebnis 2011, Ergebnis 2010 und Ergebnis 2009. Und hier die Nominierungen, aus denen in diesem Jahr gewählt werden konnte.
Nicht auf die nächsten 20, aber doch auf gute 5 Jahre.
In der Volksbühne fühle ich mich einfach wohl.
Schön, dass das hier ähnlich gesehen wird.
Und schön ist auch, dass sich anachronistische Unsäglichkeiten wie Breth und Hermanis hier nicht durchgesetzt haben. Hoffentlich sieht die Jury des echten Theatertreffens das auch so, ich hab da ja ein bisschen Angst ...