Guerilla-Gärtnern gegen Globales

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 14. November 2007. Plötzlich sitzt einem da eine ältere Dame so halb auf dem Schoß. Der Drehhocker ächzt. Man richtet sich ein, ruckt ein wenig. Zierliche Figur, gepflegter Teint, veilchenblaue Augen. Sie hält einen am Ellbogen fest. Etwas zitternd, aufgeregt. Und während man sich noch mit gesträubtem Nackenhaar fragt, wie intim Theater in diesen sich allmählich dem Ende neigenden RAF-Staatstheaterwochen überhaupt sein darf, beginnt die unwiderstehliche Klette mit der Agitation.

"Besetzen Sie doch ein schwäbisches Einfamilienhaus!", säuselt sie mit einem liebevollen Blick. Ein kurzer Schnaufer. Und weiter im Text. Diese schwäbische Trotzkistin im allerersten Lehrjahr murmelt und flüstert weiter ohne Satzzeichen, weiter und so fort, zwei, vielleicht drei Minuten lang, enthemmt wie ein linkspsychotischer Lemur, obwohl ihr altstuttgarterischer Akzent eher von einer gediegenen, behaglicheren Wohnecke in der Landeshauptstadt zeugt.

Experten eines fremden Lebens
Wahrscheinlich, so grübelt man bei ihrem freundlichen "Noch-einen-schönen-Abend"-Abschied, ist sie selbst Besitzerin einer wertbeständigen Immobilie, die sich für eine willkürliche Besetzung eignen würde. Das hat was. Man weiß ja nicht, wie es den anderen Besuchern auf ihren doppelbesetzten Drehhockern ergeht, aber in solchen Augenblicken spürt man im Mitmach-Theater von Volker Lösch so etwas wie eine rührende Poesie des Naiven. Leider sind diese zärtlichen Momente marktwirtschaftlich ausgedrückt: Mangelware.

Denn die erwähnte Nebensitzerin wie auch 54 weitere Bürgerinnen und Bürger sowie 18 Schüler eines städtischen Gymnasiums sprechen ihre Anti-Globalisierungs-Texte wie auswendig gelernt, hochmotiviert zwar, aber doch als wäre es ein Idiom ohne Sinn. Rimini Protokoll als Bastelsatz. Mit Experten eines meist fremden Lebens. Die Fallhöhe ist deshalb gewaltig. Weder Wut noch Herzenssolidarität will sich einstellen, da helfen auch nicht die vier Ensemblemitglieder, Zeremonienmeister und mit Mikrofonen ausgestatteten Rhythmusgeber Ursula Renneke, Lisa Wildmann, Zvonimir Ankovic und Dino Scandariato.

Immerhin geht es um jene rustikalen, dogmatisch durchstrukturierten und oft pseudomarxistisch aufgepimpten Sprachfetzen von radikalisierten Kapitalismuskritikern. Es geht um Pamphlete von Aktivisten oder Gefängnisprotokolle von Attac-Anhängern. Die Feindbilder sind hier stets klar definiert, Links und Rechts, Oben, Unten.

Tanzendes, trommelndes Theaterwesen
Löschs Theater will anpeitschen, will Position besitzen. Ohne Rücksicht auf intellektuelle Verluste. Was am Ende bleibt, ist ein Löschtypisches Energie- und Erregungstheater, das die kühle Analyse der gesellschaftlichen Zustände zugunsten eines erhitzt zuckenden, tanzenden und trommelnden Theaterwesens opfert. Die sehr präsente Lisa Wildmann darf es in der Rolle einer zornigen Straßenkämpferin gefühlsmäßig so ausdrücken: "Es war mein Körper, der die Führung übernahm."

Auf der kleinen Bühne hinter der großen Spielstätte sitzen die Zuschauer auf einem quadratischen Feld und können das Geschehen gewissermaßen aus der Mitte heraus am eigenen Leib erfahren: skandierende Kinder, die auf einem silbernen Mittelklasse-Benz umherhüpfen und fordern, man soll statt Waffensysteme "lieber Nachttöpfe" produzieren; eine wild gewordene menschliche Karotte, die einem das Guerilla-Gärtnern anempfiehlt; und ein von der ekstatischen Menge angebeteter DJ, der wie ein irrer Baptistenprediger die Jahresgehälter deutscher Vorstandvorsitzender hinauskrächzt.

Das Textmaterial haben der Regisseur, die Laiendarsteller und die Dramaturgin Beate Seidel im Internet recherchiert, so etwa eine Broschüre zum G8-Gipfel mit dem bildungsbürgerlichen Untertitel "Politische Militanz gestern und heute". Oder es werden jene Passagen aus Naomi Kleins berühmtem Buch "No Logo" lautstark zu Gehör gebracht, in welchen zur karnevalesken Rückeroberung unserer verhasst-geliebten Einkaufsmeilen ermuntert wird.

Home-Style-Rezepte fürs Hyperkorrekte
Vieles kommt hippiesk-sympathisch daher, gewiss, aber nicht selten steigt aus diesem bunten Parolenstrauß ein moralinsaures Aroma in die Nase. Allzu oft wirken die Sätze wie putzige Home-Style-Rezepte für ein politisch hyperkorrektes Leben. Aphoristische Verkürzungen, die rasch ermüden, obwohl der Abend nicht einmal eine Stunde dauert. Es hilft eben nicht, wenn sich die ständig verwandelnden Lösch-Chöre wie auch die toll eingestimmten Schüler des Mörike-Gymnasiums tapfer durch "Notes from Nowhere – Manifeste des Widerstands" kreischen, zappen, rappen, raven und gospeln – die hinausgepressten Wortkaskaden besitzen keinen literarischen Mehrwert.

Das weiß die Regie. Und hofft insgeheim, die Kunst der spektakulären Inszenierung von Gebrauchstexten könnte die Sehnsucht nach dem fehlenden Sprachkunstwerk überspielen. Im pathetischen Schlussbild trommelt eine Schar entfesselter Stuttgarter Bürgerfäuste gegen eine Stahlwand. In besserer Erinnerung bleibt das verführerische Säuseln einer feinen schwäbischen Dame und Hausbesetzerin im Geiste, die sich traute, einmal Theater zu spielen. Eine ganz persönliche Revolte.

 

Notes from Nowhere – Manifeste des Widerstands
Antiglobalisierungstexte ab 1994
Regie: Volker Lösch, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Zvonimir Ankovic, Ursula Renneke, Dino Scandariato, Lisa Wildmann und BürgerInnen und SchülerInnen aus Stuttgart

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Trotz des "gutgemeinten Touchs: irgendwo zwischen Sponti-Workshop und sozialkritischem Kindergeburtstag für die ganze Familie" – Otto Paul Burkhardt hat sich in der Südwest Presse (16.11.2007) positiv überraschen lassen von Volker Löschs "Manifesten des Widerstands". Keine "dröge Ökosoziallehrstunde" war da zu sehen, "keine Lesung mit Gähn-Nebenwirkungen. Sondern ein 45-minütiger Protest-Chor, eine rasante, kunterbunte Sprech-Choreographie." Subversiven Charme habe diese "kurze, laute, lebensfrohe Performance", und sei auch nicht nur harmlos: "Protokolle von Polizeiübergriffen, knappe Analysen weltwirtschaftlicher Kollateralschäden setzen wuchtige Gegengewichte."

"Was haben kunstsinnige Stuttgarter Bürger mit dieser antikapitalistischen Blütenlese zu tun?" fragt sich Jan-Arne Sohns in der Esslinger Zeitung (16.11.2007). Und findet die Antwort: "Ziemlich viel, wenn man in die leuchtenden Augen fast aller Akteure schaut". Zwar wolle die Inszenierung auch dem Publikum etwas bewusst machen, vor allem aber "politisiert sie in der Tradition der Brechtschen Lehrstücke die Schauspieler selbst". Die "Ironisierung des Widerstands ..., die sich in der Textauswahl durchaus noch angelegt" finde, gehe so zwar unter, dafür aber bekomme man "inhaltliche Relevanz, Ortsbezug, spannende Spielformen und ansteckende Theaterbegeisterung" geboten.

 

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