altFäulnis auf Raten

von Martin Pesl

Wien, 22. Februar 2012. Ein wenig hat man in der Garage X ja immer das Gefühl, auf einer WG-Party gelandet zu sein, wo nebenbei zufällig auch noch Theater stattfindet. Wenn Co-Hausherr Ali M. Abdullah selbst inszeniert, ist diese Anmutung noch stärker: Illusionen behaupten wir hier keine, sorry, die Wände haben wir jetzt auch nicht extra neu gestrichen, da drin läuft die Mucke, nehmt euch ein Bier, viel Spaß.

Knalliger Retro-Pop

Die für die heutige Party engagierte Band hat sich knallig aufgeputzt – etwas Retro: Perlentop, Glitzerkleidchen, rosa Rock. Auf ihrem Tisch stehen Laptop und Mikros, goldenes Lametta glitzert an der sonst kalkweißen Wand. Verena Dürr und Ulla Rauter geben als Duo mit dem Namen "Wir haben uns lieb bis eine heult" passiv-lasziv selbst komponierte und getextete, hier vom Kosmos der Elfriede Jelinek inspirierte, Elektrochanson-trifft-Spoken-Word-Music zum Besten.

Dazu eine Gammelcouch, eine bunt bestückte Kleiderstange, vier spielfreudige Textakrobaten und Text – mehr braucht Abdullah nicht für die richtige Mischung aus Partystimmung und Zeitgeist. Für ökonomisch karge Zeiten macht er eh schon das passende Theater. Nach Romanadaptionen (zweimal Faldbakken) hat er diesmal ein Drama inszeniert, dessen Regieanweisungen so genau sind, dass er sie einfach als rote Laufschrift an die Bühnenrückwand gebannt hat: "Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften", Elfriede Jelineks allererstes Theaterstück von 1979.

Kapitalismus und Sexismus

Diesem Text einer Autorin, die schon damals statt psychologisch runder Figuren lieber analytisch-reflexive Sätze hinstellte wie "Sie tanzen zu ungeil" oder "Ich dagegen fühle mich zu ganzheitlicher Betrachtung fähig", kommt der Regisseur mit teils ebenfalls etwas retro-angehauchten Mitteln bei: Viel wird frontal deklamiert, in Mikros geschossen. Anhand eines großen Monologs übt das Ensemble gemeinsam Sich-nicht-versprechen. Und Zettel mit Eddingschrift an der Wand dienen in den einzelnen Szenen der Rollenzuteilung. Wer sich "Nora" irgendwohin klebt, ist Nora. Auch das ein schulterzuckendes Bekenntnis zum Schmutzigen, Billigen, möglichst Simplen. Dazwischen immer wieder Elektrochanson-trifft-Spoken-Words-Music. Coole Party.

nora3 uMarkus Heinicke, Dennis Cubis, Verena Dürr, Ulla Rauter, Anita Gramser und Julia Jelinek.
© Marc Lins

Aber da muss doch noch mehr sein: In "Was geschah ..." steckt nicht nur jede Menge Intertextualität mit Verweisen auf Ibsen, Wedekind oder Philemon und Baucis, sondern auch Kapitalismus- und Feminismuskritik: Nora, die ihren Mann verlassen hat, beginnt, in einer Fabrik zu arbeiten, feministisch zu denken und zu sprechen. Dabei gibt sie sich jedoch unterwürfig dem reichen Konsul Weygang hin, der sie für seine Spekulationsgeschäfte benutzt und dadurch Noras Ex-Mann Helmer ausbootet. Als sie beginnt, eine Orangenhaut auszubilden, wird sie wieder Helmer zugeschanzt. Jelinek macht Noras mutigen Schritt in die Freiheit also zunichte. Schuld sind der männlich dominierte Kapitalismus und der Fokus auf die Frau als Sexualobjekt.

nora2 uAnita Gramser und Dennis Cubic.
© Yasmina Haddad

Gesichter der Korruption

"Der Mann ist ein Toter auf Kredit, die Frau Fäulnis auf Raten", sagt Weygang. Diese radikale Sicht kommentieren Abdullah und seine Dramaturgin Hannah Egenolf mehrfach ironisch, etwa durch eine in ein Mikro geratterte Inhaltsangabe des Buches "Das F-Wort: Feminismus ist sexy" (2007). Zudem führen sie Jelineks feministisches Worst-Case-Szenario mit Witzen ad absurdum, die so sexistisch und dumm sind, dass ihre Gesellschaftsfähigkeit garantiert nicht mehr zur Debatte steht. Dann wieder Live-Musik, dann Dialogszenen von Whiskey schwenkenden Männern und ihnen hoffnungslos verfallenen Frauen. Die Frage drängt sich auf: Ganz so ein sexuelles Unterdrückungs- und Ausnützungsdesaster wie damals 1979 bei Jelinek haben wir doch heute nicht mehr, oder? Oder?!

Das permanent anwesende Ensemble jongliert souverän mit Texten aller Art. Dabei entstehen auch unerwartet dramatische und physisch nahe gehende Szenen, etwa wenn Anita Gramser als Nora in Dominafunktion Dennis Cubic als Helmer mit Klebeband an einen Mikrofonständer fesselt und auspeitscht, während er nicht aufhört zu reden.

Indem man beim Einlass an einer Galerie aus Artikeln über derzeit in Österreich aktuell viel diskutierte Korruptionsfälle vorbeigeleitet wird, soll über die Figur des Spekulanten Weygang Aktualitätsbezug hergestellt werden. Bei diesem Stück, das unüberdeckbar einen Gender-Diskurs im Zentrum hat, geht der Trick nicht auf. Der andere Trick, der mit dem Retro und der Party, der gelingt dem Theater von Ali Abdullah an diesem Abend deutlich besser.


Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften
von Elfriede Jelinek
Regie: Ali M. Abdullah, Bühne/Kostüme: Renato Uz, Dramaturgie: Hannah Lioba Egenolf
Mit: Dennis Cubic, Anita Gramser, Markus Heinicke, Julia Jelinek und "Wir haben uns lieb bis eine heult" (Verena Dürr & Ulla Rauter)

www.garage-x.at


Kritikenrundschau

Der mit "Ideologie" aufgeladene und für Norbert Mayer von der Presse (online 23.2.2012) nicht mehr taufrische Text von Elfriede Jelinek erhalte in Ali M. Abdullahs Inszenierung eine gelungene "Wiederentdeckung" voll "Charme und Witz". Die Spiellust der Darsteller wird ebenso positiv hervorgehoben wie die (Sprech-)Gesangseinlagen des Duos "Wir haben uns lieb, bis eine heult". Die Texte wechselten rasch zwischen den Akteuren hin und her, wobei die Frauen "mit einem Tick mehr Ernst" agierten als die Männer, "deren Komik beinahe schon aufdringlich wird. Aber sie wollen ja nur spielen! Das machen sie alle ziemlich gut."

Auch für Margarete Affenzeller vom Standard (24.2.2012) wirkt Jelineks Text "in seinen viel strapazierten Mann-Frau-Oppositionen in die Jahre gekommen". Allerdings nehme er auch "in der sprachlichen Knalligkeit und antiidentifikatorischen Haltung schon jenes Theorie-Stakkato vorweg, mit dem eine Generation später René Pollesch erst so richtig Furore machte". Regisseur Ali M. Abdullah habe "dieses Prinzip in einer schnellen, an Castorf-Ästhetik orientierten Inszenierung zugespitzt". Das Theater baue "seine Requisiten zurück und wird mehr und mehr zum bloßen Diskursraum". Das verfremdende Spiel mit den Rollen und die Musik machten den Abend "geschmeidig"; in ihm "steckt auch viel Vehemenz". Allerdings "bleibt das Spiel im Vergleich zu anderen postfatalen Deutungen dieser Art lau. Und mit ihm auch die angestiftete Debatte."

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