altRan an die Schmerzgrenzen

von Harald Raab

Mannheim, 26. Februar 2012. Das Kleist-Jubiläum zum 200. Todestag haben wir hinter uns. Das Ergründen des vielschichtigen Kleistschen Vermächtnisses aber wohl immer noch vor uns, trotz diverser Käthchen von Heilbronn, Arm in Arm mit einer Schwadron Prinzen von Homburg in vielen Hermannsschlachten auf deutschsprachigen Bühnen im vergangenen Jahr. Das Mannheimer Nationaltheater setzt die Kleist-Exegese fort mit Michael Kohlhaas. Der Text ist  vom Dichter nicht als Bühnenwerk geschrieben, sondern als Erzählung. Deren Dramatisierung ist fraglos eine Herausforderung für die junge deutsche Regie-Hoffnung Simon Solberg. Er hat sie mit sinnlich prallen Bildern und Action bis an die Schmerzgrenze bravourös komödiantisch und doch hochsensibel und intelligent gemeistert.

Wie geht man mit diese schwerfüßigen Sprache, mit ihren verschachtelten Satzgebilden um? Wie mit der Story, halb Räuberpistole, halb Aufklärungsepistel und obendrein verkappte Kritik an der Unfähigkeit Preußens, den Volksheeren Napoleons und seiner modernen Staats- und Justizorganisation etwas entgegenstellen zu können? Kleist, dem verabschiedeten Leutnant und gescheitertem Beamten ging es um nichts weniger als um die Frage des staatlichen Gewaltmonopols und der offenkundigen Schwächen von Regierung und Administration Friedrich Wilhelms III. Darf in finsteren Zeiten der einzelne die Durchsetzung seines guten Rechts selbst in die Hand nehmen, in die Fehde des Mittelalter à la Sachsenspiegel zurückfallen?

Rächer der Enterbten

Noch immer oder schon wieder eine hochaktuelle Fragestellung: Tugendterror von Islamisten und anderen Heilsbringern weltweit, Neonazi-Mörder bei uns, die Rigidität der Wutbürger, der egozentrische Freiheitsbegriff der globalen Netzaktivisten. Auch wir sind in einer Wendezeit. Die Karten werden neu gemischt: Wie viel Gewalt darf/muss dem Staat zugebilligt werden? Wie viel Freiheit dem einzelnen, seine Interessen durchzusetzen? Wo endet sie?

In einer Zeit des Generalverdachts und der totalen Skandalisierung in allen öffentlichen Belangen wird bis zum letzten Komma Recht gefordkohlhaas1 560 hans joerg michel hKohlhaas © Hans Jörg Michel ert, ist dort, wo zweifellos Unrecht geschehen ist, Vergebung aus unserem Wortschatz gestrichen. Vergessen ist das Bibelwort, das die Kohlhaasin ihrem Gatten als Lösung des Unrechtsknotens vergebens rät: "Vergib deinen Feinden, tue wohl auch denen, die dich hassen!"

Kohlhaas, dem ein übermütiger Junker zwei Rappen konfisziert, sie im Felddienst zuschanden macht und dem bei der Obrigkeit nicht Gerechtigkeit widerfährt, stilisiert sich zum Rächer der Enterbten, zum Sendboten des Erzengels Michael gar. Der Tugendterrorist bereitet sich und allen, die in seine Selbstjustiz geraten die Hölle auf Erden. Robespierre, Lenin, Pol Pot, die RAF-Truppe, Bin Laden lassen grüßen.

Abstand, Subtext, Video

Es beginnt bei der Mannheimer Uraufführung als Comedy und endet als Tragödie. Solberg moduliert den Kleist-Text auf ein Bühnenspektakel, für das er sein Team alle Register ziehen lässt. So macht er die Dia- und Monologe frei von allem historischen Ballast. Jeder der Akteure übernimmt auch die Erzählerrolle. Der so erzeugte Abstand gibt der Sprache und der Ideenwelt der Kleistschen Figuren ihr sprachliches und gedankliches Gewicht zurück.

Ein weiterer Subtext läuft über Video: Erst das Ritterspiel mit Junker Wenzel und dem Rosshändler Kohlhaas in seiner Popeligkeit, dargestellt von Playmobil-Figuren. Dann ein Zusammenschnitt von Straßentumulten, Polizeieinsatz, Feuer, Gewalt, Inferno. Dazu das Tagesschauformat als Vernebelungsmaschinerie. Video ist hier wirklich einmal ein adäquates künstlerisches Mittel mit großer Suggestionskraft.

Martin Luther liest als Buddha die Leviten

Kongenial zum wüsten Geschehen die Bühne und Kostüme von Maren Greinke und Claudia Irro. Eine graue Stellwand mit Aufnahmestudio-Charakter, zwei Türen ein Regiefenster, ein Kühlschrank, der auch als Sarg eingesetzt wird, zwei breit ausladende Sessel mit getigerte Felldecken als Pferde, Plüschhündchen als Bluthunde: Ironisierung bis zum Abwinken. Infernalischer Krach und lodernder Feuerschein. Gewalt-Rap peitscht die Stimmung hoch. Motto: Macht kaputt, was euch kaputtmacht. An Zuschauer werden Protestplakate verteilt. Mitten drin die taktierende Obrigkeit, mal hilflos, mal verschlagen - mit einer Merkel-Karikatur als Bedenkenträgerin. Martin Luther liest in fünffacher Gestalt buddhistischer Mönche dem Mordbrenner Kohlhaas die Leviten. Dem Aufrührer wider die Obrigkeit wird die ewige Verdammnis prophezeit. In einer magisch-bizarren Voodoo-Szene wird dem frivolen Junker Wenzel ein böses Ende geweissagt.

Auf dem Höhepunkt seines heiligen Krieges: Kohlhaas als Inkarnation der Revolutionsführer aller Zeiten, besoffen von seiner agitatorischen Sprachgewalt. Vom Leben zum Tode befördert wird er schließlich nicht mit dem Richtschwert wie bei Kleist. Er zittert seine rechthaberische Existenz am elektrischen Stuhl aus – jedoch versöhnt mit der Staatsgewalt, die ihm vorher seine Pferde wohlgenährt zurückgegeben und den Junker Wenzel für zwei Jahre in den Kerker geworfen hat.

Exzeptioneller, denkwürdiger Einsatz

Gespielt wird mit rasantem Tempo, großen burlesken Gesten und akrobatischen Anforderungen. Dascha Trautwein, Thorsten Danner, Michael Fuchs, Matthias Thömmes und Johannes Schäfer bewältigen im fliegenden Wechsel die Vielzahl der benötigten Rollen. Nur Reinhard Mahlberg darf sich als Kohlhaas in einer Rolle entwickeln. Sie alle garantieren mit ihrem exzeptionellen Einsatz, dass dieser Kleist ein denkwürdiges Theaterereignis werden konnte. Hier ist einer der raren Beweise, dass der Umgang mit einem Text und seiner Umsetzung für die Bühne in Gemeinschaft aller Mitwirkenden Theater auf hohem Niveau zeitigen kann.


Michael Kohlhaas
von Heinrich von Kleist
Regie: Simon Solberg, Bühne: Maren Greinke, Kostüme: Claudia Irro, Sound: Kriton Klingler-Ioannides, Video: Serafin Bill, Dramaturgie: Stefanie Gottfried.
Mit: Thorsten Danner, Michael Fuchs, Reinhard Mahlberg, Johannes Schäfer, Matthias Thömmes, Dascha Trautwein.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Simon Solberg habe "die Ereignisse aus der Zeit der Bauernkriege des 16. Jahrhunderts mit viel Rap-Musik, Politiker-Geschwafel und turbulenten Action-Szenen auf modernen Terrorismus übertragen", schreibt Alfred Huber im Mannheimer Morgen (27.2.2012). "Das blutige Märchen Kleists wird so (...) zu einer bedrückenden Aktualisierung gezwungen, die den Zuschauer begreifen lässt, dass im Theater Schrecken nicht nur aufgeführt werden, sondern auch hautnah und lautstark erlebbar sind." Die Darsteller leisteten "physisch Großartiges". Ihr Spiel zehre "von der Kraft einer Vorstellung, die existenziell auch dann noch trägt, wenn die Freistilmischung der Regie mehr den Affekten als der Menschenkenntnis und dem Sprachsinn Kleists vertraut." Je länger die Aufführung dauere, desto deutlicher werde aber auch, "dass sich Solberg in ein reines Vernichtungsspiel verrennt, dessen Sogwirkung den Text Kleists, allemal schon durch Kommentare, Ergänzungen und Albernheiten bedenklich zerfasert, zusätzlich ausdünnt." Das sei schade.

Keinen Kleist, "nur einen Kleist-Schmarren", "einen dröhnenden Comic-Strip" hat Dietrich Wappler von der in Ludwigshafen erscheinenden Tageszeitung Die Rheinpfalz (27.2.2012) gesehen. Es gebe "jede Menge Action, aber keine Auseinandersetzung mit Kleists durchaus gegenwartstauglichem Stoff," bemängelt der Kritiker. Bei Kleist gehe es um Fragen von Recht und Gerechtigkeit, "in der Mannheimer Inszenierung nur um schnelle Effekte." Jedes Stichwort im "mit viel spontanem Gegenwartsgeblödel aufgemotzten Bühnenscript" sei einen Regieeinfall wert. Solberg lasse "einen wahren Assoziations-Tsunami" auf die Zuschauer los, "Gags und Einfälle gibt es im Minutentakt, selten anderes als das Nächstbeste. Für die Entwicklung von Figuren ist da logischerweise keine Zeit."

"Hätte Solberg mehr auf Kleist als auf Rabatz gesetzt, es wäre wahrscheinlich ein grandioser Abend geworden," schreibt Martin Eich in der Rüsselsheimer Rhein-Main-Spitze (28.2.2012). So bleibt ihm am Ende der Eindruck "einer bisweilen holpernden, aber an keiner Stelle gänzlich misslungenen Inszenierung." Für die Zuschauer sei der Abend ein Kampf, dass kein Krampf daraus werde, sei der intelligenten Setzung von Regie und Dramaturgie zu danken, "denen es häufig gelingt, den Aussagen des Klassikers aktuelle Bezüge abzuringen". Wesentliches verdanke der Abend aber auch dem Mannheimer Ensemble, das nach Ansicht des Kritikers zu den besten dieses Landes zählt. Allein die plötzliche Verwandlung von der biederen Kohlhaas-Ehefrau in Mausgrau zur kurzberockten Femme fatal, sei "höchste Schauspielkunst" und verleihe der Produktion ihre Daseinsberechtigung. Wie "die sperrige Vorlage auch sprachlich in die Gegenwart transformiert wurde, findet Eich ebenfalls mustergültig und "Maßstäbe für nachfolgende Dramatisierungen" setzend.

Von einer "bravourös gemeisterte Riesenaufgabe" spricht Monika Frank in der Rhein-Neckar-Zeitung (28.2.2012. Dennoch dominiert aus ihrer Sicht "zuviel Klamauk der gröbsten Art über den darunter kaum noch auszumachenden politischen Aspekt der Inszenierung." So sei die Figur des Michael Kohlhaas in Solbergs Inszenierung "der einzige durchgängig näher beleuchtete Charakter unter lauter mehr oder weniger grotesk überspitzten Karikaturen." Doch bei Zeichnung der Titelfigur vermisst die Kritikerin einen tiefergehenden Blick.

Jan Küveler schreibt auf Welt Online (28.2.2012): Es sei eine (typische) "Regie-Idee", Kleists ausufernde Story einzudampfen und die verbleibenden Figuren auf sechs Schauspieler zu verteilen. Kollateralschäden blieben dabei nicht aus. Eine Erklärung für den Wandel Kohlhaas' vom "bräsigen Bierbauch" zum "Amok-Terroristen" etwa bleibe aus. Immer wenn sich die "Plausibilität in die Kurve" lege, schalte Solberg "einen Gang hoch". In diesem "Blödel-Getöse" verkomme "Mannheim zu Mallorca, Kohlhaas zum Ballermann". "Kohlhaas" erweise sich so als "ideale Blaupause für Aufstände aller Arten: Che Guevara? Immer her damit! Stuttgart 21? Aber bitte! RAF? Aber hallo! Autonome Autozündler? Richtige Adresse! "Occupy"? Yes, Sir! Wulffs Sylt-Reisen? Bingo!". Simon Solberg behaupte Gewalt und verharmlose doch nur zum großen Jux. "Er steigert die Inszenierung ins Kakofonische, worüber Kleists leise, dunkle Melodie verhallt."

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