Das Ganze des Denkens

von Dirk Pilz

März 2012. Dieses Buch ist das gehalt- und geistvollste, lehrreichste, wichtigste, scharf- und feinsinnigste, vor allem aber wagemutigste zur Tragödie seit Friedrich Nietzsches "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik". Das erschien vor 140 Jahren; es hat das Nachdenken über die Tragödie geprägt wie keines zuvor seit Aristoteles' "Poetik". Die wurde, vermutlich, um 335 vor Christus verfasst.

Aristoteles, Nietzsche – damit man weiß, mit wem sich der Literaturwissenschaftler Wolfram Ette hier anlegt.

Aristoteles? Unhaltbar!

Er hat seine Großstudie "Kritik der Tragödie" genannt und in sieben Kapitel aufgeteilt; sie beschäftigen sich mit Tragödien von Aischylos, Sophokles, Euripides, Shakespeare, Hofmannsthal, Richard Strauss, Jean Giraudoux und Heiner Müller. Keineswegs aber geht es dabei einzig um Tragödien und Tragödientheorie. Vielmehr ist es ein Buch über Schuld und Schicksal, Theologie und Religion, Kunst und Geschichte, über Theater und die frappierende Wirkmacht von Missverständnissen. Eines über das "Ganze des Denkens", wie es einmal in Bezug auf die griechische Tragödie heißt. Eines, an dem künftig kein Vorbeikommen mehr sein wird.

ettetragoedie 168Das ist groß gesprochen, hochtrabend behauptet, ich weiß. Wenigstens fünf Punkte zur Begründung seien genannt.

Erstens: Was ist eine Tragödie?, fragt Ette. Tragödien, sagt er, sind "Prozesse kollektiver Selbstzerstörung". Und "Kritik der Tragödie" bedeutet demnach, Kritik solcher Prozesse; sie wird von den Tragödien selbst betrieben.

Mit dem Begriff des Prozesses wendet sich Ette ausdrücklich gegen Aristoteles. Denn Prozess meint Geschichte, denkt die Möglichkeit eines Andersseins und also den "gesellschaftlichen Zusammenhang" mit. Aristoteles hat sich dagegen, so Ette, die "philosophische Dignität der Tragödie" mit der "Preisgabe der Geschichte an die Natur" erkauft. Natur ist jedoch immer unkritisierbar – man kann einem Baum nicht vorwerfen, dass er Blätter treibt. Und indem "das Tragische" bei Aristoteles auf Seiten der Natur geschlagen wird, macht er es zum Unverfügbaren, zum Schicksal, zum Unabänderlichen. Ette zeigt, dass man damit gleichsam das Wesen der Tragödie verfehlt. Ihr Wesen ist Kritik an solchen (mythischen) Vorstellungen eines Unveränderlichen, ist Kritik des Schicksalsbegriffes selbst. Heißt: Als Theorie der Tragödie ist Aristoteles' "Poetik" schlicht "unhaltbar".

Der große Knall

Fragt sich allerdings zweitens, warum eben diese Theorie so erfolgreich war und bis heute ist. Ettes Antwort: "Man entlastet sich namens der Tragödie von der Verantwortung, über Chancen, die gegebene Wirklichkeit zu verändern, auch nur nachzudenken." Denn wo ein Schicksal waltet, bleibt nichts mehr zu tun – die Unausweichlichkeit wird als Befreiung von Verantwortung und Verbindlichkeit erfahren. Das Schicksal wird damit zur "Maske unserer eigenen Katastrophensehnsucht". Das bürgerliche Zeitalter kokettiere mit dem "großen Knall", schreibt Ette, "den gibt es im Theater verkleinert und für wenig Geld. Danach kann man wieder zu seinen Alltagsgeschäften zurückkehren."

Mit den Texten der Tragödien hat das freilich kaum etwas zu tun; vielmehr äußert sich für Ette in dieser Katastrophensehnsucht ein "metaphysisches Bedürfnis", gerade auch in unserer vermeintlich nachmetaphysischen Gegenwart. Es gehört ja zum Konsens, fast schon zum Selbstverständnis der Moderne, dass sie die Tragödie abgeschafft, überwunden hat. Was einst Überlebenskampf war, sei heute allenfalls Konflikt und Kontingenz; der Moderne seien Tragödien wesensfremd, so die berühmte, verheerend einflussreiche These in George Steiners Essay "Der Tod der Tragödie" von 1961.

Das könne man allerdings nur glauben, argumentiert Ette, wenn man – in der Nachfolge Nietzsches – den "geschichtlichen Sinn" der Tragödie unterschlägt. Und es gibt wenige, die in diesem Sinne keine Nietzscheaner sind; zu diesen Wenigen gehört Hölderlin, für Ette der wichtigste Gewährsmann, weil er, zum Beispiel in seinen "Anmerkungen zur Antigone", auf den Prozess- und Geschichtscharakter der Tragödie verweist.

Die Geschichte der Götter

Diesen geschichtlichen Sinn der Tragödie herausgeabeitet zu haben, ist, drittens, Ettes eigentliche Großtat. Und er tut dies nicht aufgrund irgendwelcher philosophisch nebulöser, frei schwebender Vermutungen, sondern anhand genauester Lektüren (mitunter hängt alles an einer Partizipialkonstruktion), die den gesunden Menschenverstand statt schicker Theorieversatzstücke benutzen. Ette liest die Tragödien Vers für Vers, immer auch mit Blick auf das "gegentragische Moment" in jeder Tragödie, das sich im "Modus der Verzögerung" kundtue. Das umfangreichste und für mich auch überzeugendste Kapitel ist dabei jenes zur "Orestie".

Deshalb sei viertens aus diesem ein Beispiel herausgegriffen, das verdeutlichen soll, wie weit sich Ettes neue Lesart der Tragödie von den hergebrachten Vorstellungen entfernt. Anhand der "Orestie" demonstriert er nämlich, dass Aischylos mit ihr "gegen die scheinbare Ausweglosigkeit des Mythos aufbegehrt". Die "Orestie" folge keiner Logik der Natur- und Schicksalsnotwendigkeit, sondern entwerfe eine "Theologie des werdenden Gottes", eine Theologie, die Gott, Geschichte und Gesellschaft in einen dialektischen Prozess verwickelt.

Das die Handlung vorantreibende Prinzip der Vergeltung, von dem die Figuren immerfort sprechen, entspreche demnach nicht ihrer Glaubensüberzeugung, es sei lediglich Ideologie: Die "Orestie" betreibt Ideologiekritik, indem sie das Rachegesetz als bloße Propaganda entlarvt. Mit dieser Ideologiekritik komme die "Orestie" dem "jüdischen Monotheismus sehr nahe", der Idee, dass Gott und Mensch "wechselseitig voneinander abhängig" sind. Das ist für Ette der entscheidende Punkt: Auch die Götter haben Geschichte. Sie sind nicht nur Teil des tragischen Geschehens, sondern dessen Dynamik ausgesetzt.

Was wäre, wenn nichts wäre?

Dieses Tragödien- und Götterverständnis steht in diametralem Gegensatz zum heimlichen Konsens des Gegenwartstheaters, das die Götter deshalb von der Bühne zu vertreiben pflegt, weil es diese als vermeintlich veraltete Instanzen jenseits der Geschichte verortet. Solche Götter aber kennt die Tragödie nicht. Sie stehen nicht im Text, sondern sind aus dem Bedürfnis nach Schicksalsergebenheit geboren, aus dem Verlangen nach Entlastung von Geschichte: Wo das Schicksal waltet, bleibt nur stummes Dulden. Das ist die tröstende Kraft des Fatalismus.

Genau dagegen aber wenden sich die Tragödien. Sie haben ihren Ursprung nicht in einem namenlosen Schicksal, sondern in der Sprache: "Als Sprache ist jedes Drama Verzögerung, Aufschub." Das ist das kritische Moment der Tragödie. Tragödie heißt darum, fünftens, auch: "Todgeweihte reden um ihr Leben."

Es gibt in diesem Reden, wie unvorstellbar auch immer, stets die Möglichkeit, sich zu verständigen, den Konflikt diskursiv aufzulösen, das Geschehen zu entschleunigen – das ist für Ette das utopische Moment, das die Tragödien selbst entwerfen. Seit "Hamlet" hat es sich zu der Frage radikalisiert, ob das "Nichthandeln einen Möglichkeitsraum" eröffnet: "Liegt im Aufschub ein Potential des Widerstands?"

Diese Frage hat noch Heiner Müller beschäftigt – und er hat die Tragödie mit der "Hamletmaschine" an einen "Grenzpunkt" getrieben. Müller habe dabei das aufgegeben, was mit Aischylos durch die Tragödie gewonnen wurde: den Glauben an die Veränderbarkeit der Geschichte. Die "Hamletmaschine" bewege sich gleichsam aus der Geschichte heraus. Bei ihm heißt Kritik der Tragödie weit mehr als Kritik einer literarischen Gattung: Es ist die Kritik des "historisch-anthropologischen Fundaments" der Menschheit selbst, der Sinnproduktion. Damit werde der "tragische Zusammenhang" verlassen: Das Drama will bei Müller keine bestehende Ordnung mehr korrigieren, sondern jede Ordnung auflösen.

Das Gefühl einer neuen Zeit

Damit endet für Ette die Geschichte der Tragödie tatsächlich. Vorerst allerdings, so möchte man hinzufügen, denn Ette weiß auch, dass Tragödien nicht aufgrund "der subjektiven Entscheidung der Dramatiker" entstehen, sondern in historischen Konstellationen, im "Gefühl einer neuen Zeit, eines mitreißenden Fortschritts und eine Revolutionierung im Denken und im Handeln". Es ist noch nicht ausgemacht, ob dies auf unsere Zeit zutrifft. Das kritische Geschäft der Tragödie ist jedenfalls keinesfalls am Ende.

Das sind fünf Punkte, die diesem Buch seine Größe verleihen. Es ließen sich weit mehr nennen. Man muss es selbst studieren, unbedingt. Es liest sich übrigens trotz der teilweise äußerst detailreichen Erörterungen sehr gut; hier hat einer mit großer Leidenschaft geschrieben.

Dennoch, darf man auch etwas vermissen? Dass Ette so gut wie kein Wort über die Theaterpraxis verliert, also nicht auf gegenwärtige Inszenierungen eingeht, muss man ihm nicht vorwerfen; Aufführungsanalyse ist nicht sein Beritt. Aber es scheint mir doch bezeichnend zu sein. Denn die geschichtsphilosophische, theologische, philologische Wucht seiner Studie lässt fast ganz aus dem Blick verlieren, was Tragödien auch sind: Spiele. "Die Gegenwart der Tragödie" heißt das vor sieben Jahren erschienene Buch des Philosophen Christoph Menke; es ist eines über jene Dimension, die bei Ette fast vollständig zum Verschwinden gebracht wird: die ästhetische, die theaterspielerische. Sie könnte für Ette das Thema einer Fortführung seiner "Kritik der Tragödie" sein. Bis dahin liefern diese 700 Seiten reichlich Denk-, Irritations- und Lesestoff. Vielen Dank.

 

Wolfram Ette:
Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2011, 726 S., 68 Euro

 

Mehr Buchrezensionen gibt es hier, zum Beispiel auch zu einem Band, der sich mit George Steiners These vom Tod der Tragödie beschäftigt.

Und die Tragödie auf der Bühne? Dirk Pilz reiste durch die Lande, um zu erfahren, was die Theater mit der Antike zu schaffen haben.

Noch mehr Antike im Gegenwartstheater? Bitteschön.

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