Was für G'schichten

Es gibt Charaktere, die sich erst auf den zweiten Blick für eine umfangreiche Biographie eignen. Johann Nestroy (1801-1862), der große Mann des Alt-Wiener Volkstheaters, ist so einer. Derart voluminös ist die Liste seiner Stücke und allabendlichen Bühnenauftritte, dass es scheint, als habe er schlicht keine Zeit gehabt für ein Privatleben. Wie weit gefehlt diese Annahme ist, zeigt Renate Wagner in ihrem Buch "Der Störenfried", in dem sie das Theaterleben des Österreichers gründlich und konzis zugleich nachzeichnet.

rwagner nestroyDerart geflissentlich reiht die promovierte Theaterwissenschaftlerin von Beginn an Anekdoten aneinander und zählt penibel ein Stück nach dem anderen auf, dass sich das Werk stellenweise liest wie ein ausgedehnter Wikipedia-Artikel. Was zu stilistischer Eintönigkeit führt, kann aber aufgrund der dichten Beschreibung zahlreicher Begebenheiten, die auch ohne blumige Ausschmückung unterhaltsam sind, ebenso als beabsichtigte Zurückhaltung der Autorin gelesen werden. Neben der berühmten Geschichte, wie Nestroy mit Semmeln als Hemdknöpfen auftrat, um gegen die Brötchenpreise zu protestieren, faszinieren auch die Passagen über seine Hassliebe zum Theaterdirektor Karl Carl und das gespaltene Verhältnis zum eigenen Publikum, das ihn – wie beim "Lumpazivagabundus" oder dem "Talisman" – mal frenetisch bejubelt, mal – wie bei "Judith und Holofernes" oder seinem "Zauberer Sulphur" – aggressiv ausbuht.

Gleichwohl findet Wagner erst in der zweiten Hälfte jenen Ton, der Nestroy angemessen erscheint. Chirurgisch genau seziert sie den Lebenslauf dieses Getriebenen im permanenten Spagat zwischen Schauspielerei, Autorenschaft, Liebesleben und später als Theaterdirektor, der in seiner künstlerischen Arbeit stets so bitterböse anmutete, im Inneren jedoch ein hochsensibler Mann war. So sind es vor allem die persönlichen "Gʼschichten", die zum steten Weiterlesen animieren. Wenn Wagner etwa über die schwer eifersüchtige Marie Weiler schreibt, die Salatschüsseln nach ihm warf, oder Nestroys abstruse Todesangst und seine Geldsorgen thematisiert, so wirft das ein neues Licht auf dieses ganz und gar eigentümliche Leben. Mit deftiger und doch behutsamer Sprache gelingt es der selbst aus Wien stammenden Kulturjournalistin, ihren Helden als wichtigen Protagonisten inmitten der adäquat eingefangenen Stimmung gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zu platzieren, in welcher ein provokanter Satiriker wie Nestroy der "polizeilich geknebelten Zeit" seinen theatralen Trotz konsequent entgegensetzte. (Christian Baron)

 

Renate Wagner:
Der Störenfried. Johann Nestroy – Ein Theaterleben.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2012, 256 S., 24 Euro.

 

Keine Ruhe

Angenommen, dieses Buch ist tatsächlich, was es dem Untertitel nach sein will, nämlich der "Roman meiner fabelhaften Familie". Als Roman erhebt es literarische Ansprüche, zum Beispiel an die Sprache. Sprachlich ist es aber nicht nur äußerst naiv (kein Problem, könnte ja Stilmittel sein), sondern schlampig. Die Sätze wirken hastig hingeschrieben, die Bilder stimmen oft nicht. Gleichzeitig kommt einem alles äußerst bemüht vor. Nie werden Namen genannt (auch kein Problem, könnte ja genauso gut Stilmittel sein), das aber kostet so viel umständliche Mühe, dass der Roman, wenn es denn einer ist, unter regelrechten Erzählkrämpfen leidet.

marionbraschWenn man, zum Beispiel, liest, dass "mein ältester Bruder" ein Buch geschrieben habe, das "von seinem Land" handelt, das er liebte, doch das Land "ihm diese Liebe und das Leben schwer" gemacht habe, wird man als Leser ermuntert, an kein konkretes Land zu denken, was man gern tut, weil es der Phantasie und den eigenen Erfahrungen Raum lässt. Nur eine halbe Seite später ist dann aber von einem Sänger die Rede, den der Bruder "kannte und der bei ihm um die Ecke wohnte". Dieser Sänger, heißt es weiter, "trug einen Schnauzbart", und die "Lieder des Sängers waren in der DDR verboten". Konkreter geht es nicht, und hier nicht gleich den Namen Wolf Biermann hinzuschreiben, ist schierer Manierismus. Der nimmt diesem Roman den Atem; als Leser fühlt man sich zudem verschaukelt, rasch auch gelangweilt.

Aber wahrscheinlich ist der Untertitel lediglich eine Schutzbehauptung. Denn Marion Brasch hat hier eine Lebensbeichte abgelegt, ein als Literatur getarntes Selbstoffenbarungsbuch. Jede Kritik daran wäre pietät- und respektlos.

Also liest man es mit leichter Beschämung, als würde man durchs Schlüsselloch einer seelsorgerischen Sitzung beiwohnen. Marion Brasch ist die Schwester der beiden Schriftsteller Thomas und Peter sowie des Schauspielers Klaus Brasch; sie alle sind bereits gestorben. Die Erinnerung an sie erzählt Marion Brasch aus der Perspektive der kleinen Schwester, wichtigster Bezugspunkt ist dabei ihr ältester Bruder (Thomas Brasch, dessen Leben jüngst bereits Klaus Pohl zum Romanstoff gemacht hat). Sie schildert berührende Szenen, beklemmende Situationen, seltsam ungefilterte Gefühle. Man erfährt sehr viel, vor allem über Marion Brasch selbst, ihr Leben, ihre DDR und ihre Geschichte, die ihre keine Ruhe lässt. Fabelhaft ist daran nichts. (Dirk Pilz)

 

Marion Brasch:
Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2012, 399 S., 19,99 Euro.

 

Was zu tun ist

Immerhin gibt es einstweilen ein Bewusstsein dafür: Nach über 60 Jahren Migrationsgeschichte sind Postmigranten auf Künstler- wie auf Publikumsseite im deutschsprachigen Theater kaum vertreten. Und immerhin wird die Frage danach, was es für das Theater der Zukunft bedeutet, dass in vielen Großstädten Deutschlands (und auch Österreichs und der Schweiz) gut ein Viertel der Bevölkerung der zweiten und dritten Migrantengeneration entstammt, wenigstens gestellt. Es wird in den letzten Jahren ja auch zunehmend darüber diskutiert, nicht zuletzt auf nachtkritik.de (hier zum Beispiel, oder auch hier; und auch die Blackfacing-Debatte hat damit zu tun). Dennoch ist der Befund von Azadeh Sharifi noch immer gültig: "Eine Umstrukturierung deutscher Kulturbetriebe dahingehend, dass dort mehr Postmigranten (...) beteiligt sind, hat bislang nicht stattgefunden."

sharifitheaterSharifi hat mit ihrer jetzt erschienenen Dissertation aber keine Klageschrift vorgelegt, sondern am Beispiel der Stadt Köln exemplarisch untersucht, wie es um die Partizipation von Postmigranten an der deutschen Kultur bestellt ist. Das Beispiel ist gut gewählt: Jeder dritte Kölner hat einen Migrationshintergrund und mehrere Bühnen in Köln, nicht nur das Schauspiel, versuchen sich an interkulturellen Konzepten. Zudem hat Sharifi auf der Grundlage von (lediglich) fünfzehn Interviews drei Typen von Postmigranten erarbeitet, "denen ähnliche Vorstellungen sowie Interessen über Theater zugeordnet werden können". Diese Typen sind "der postmigrantische Intellektuelle", der "postmigrantische Bildungsaufsteiger" und der "postmigrantische Unterhaltungsliebhaber".

Alles, um zu "kulturpolitischen Handlungsempfehlungen" zu gelangen. Sharifi empfiehlt (wie auch bereits in einem Text für nachtkritik.de) den Blick nach Großbritannien. Und sie sieht den dringenden Bedarf, die eurozentristische Ausrichtung der Theater aufzugeben. Postmigrantische Künstler müssten gezielt gefördert werden, die Pressearbeit dürfe sich nicht nur an "das 'rein deutsche Publikum" wenden, die Theater müssen Kooperationen mit postmigrantischen Verbänden eingehen und sich "interkulturelle Kompetenz" erwerben. Diese Empfehlungen sind denkbar schlicht, aber gerade daran lässt sich wohl ablesen, wie schlecht es um die Partizipation von Postmigranten an der deutschen Kultur bestellt ist. (Dirk Pilz)

 

Azadeh Sharifi:
Theater für Alle? Partizipation von Postmigranten am Beispiel der Bühnen der Stadt Köln. Peter Lang, Frankfurt am Main 2011, 285 S., 44,80 Euro

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