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Gretchen von Amstetten

von Andreas Klaeui

Zürich, 8. März 2012. 24 Jahre in Amstetten: Hinter Eisenbetontüren hält Josef Fritzl seine Tochter gefangen, zeugt mit ihr sieben Kinder, von denen eins kurz nach der Geburt stirbt, er verbrennt den Säugling im Ofen, drei Kinder adoptiert er als Pflegekinder, die anderen drei bleiben im Keller. Man muss sich daran erinnern in Elfriede Jelineks "FaustIn and out", es ist der Kern ihres neuen Theatertextes. Zwei "Einpersonenchöre" (laut Jelinek), FaustIn und GeistIn, umkreisen diesen Giftkern, schweifen davon aus, fantasieren sich im durchaus musikalischen Sinn in Sadismus und Ohnmacht, insistieren, schwappen über zu Goethes Faust. Als "Sekundärdrama zu Urfaust" bezeichnet Jelinek ihren Text, das heißt: er soll nicht als eigenes Stück funktionieren, sondern begleitend zu einer Faust-Aufführung, wie jetzt in Zürich, "kläffend neben den Klassikern herlaufen".

Amstetten und Faust also. "Wir müssen alle unter die Erde", heißt es da zum Beispiel: "Das ist unser Los. Aber los vom Papa, das geht nicht." "Sie ist zehn und kommt jetzt in den Keller. Das muss sie sich ganz klarmachen. Sie wird nicht anders können, mit zehn wird einem schon manches klar, mit zwölf ist es eindeutig. Mit sechzehn wird einem dann alles klar gewesen, aber noch lang nicht vorbei sein. In der Dunkelheit wird einem so manches andre klar. Klarer wird's nicht."

Jelinek parallel im Keller
Dreißig Personen, vorzugsweise Frauen, bestellt das Schauspielhaus für "FaustIn and out" zum Bühneneingang, mit dem Warenlift geht's hinab in den Keller, die Uraufführung findet im "Musikzimmer" des Theaters statt (ich habe die letzte Hauptprobe gesehen, die Premiere dann im Hauptsaal). Ein kleiner Raum mehrere Meter unter der Erde, grauer Beton, Schallschutzschaum, Neonlicht. faust2 280 toni suter uFranziska Walser, Miriam Maertens, Sarah Hostettler © Toni Suter

Den schallgedämmten Wänden entlang sitzen die Zuschauerinnen, unter ihnen, in zu großen Pumps und Spitzendessous unterm Trenchcoat, die drei Schauspielerinnen Franziska Walser, Miriam Maertens und Sarah Hostettler – zu FaustIn und GeistIn gesellt sich in Zürich auch GretIn. Ein Huis-clos, wie es abgeschotteter nicht sein könnte. Klamm kann einem hier schon werden oder, mit Faust, der Menschheit ganzer Jammer einen angreifen: wenn sich Opfer- und Täter-Perspektive in fataler Dialektik ineinander verkrallen, wenn sich die drei Darstellerinnen eindringlich zwischen der Konkretion von Innenschau oder gar Rollenspiel und der Abstraktion des – assoziativ, kalauernd, zynisch – überformten Textes bewegen. "Jedem das Seine. Jedem die Seinen."

Was Hoeneß seiner Frau zumuten mag

Über Monitore flimmern manchmal Bilder von der Faust-Aufführung oben im Saal, manchmal Sport, oder die Trouvaille jener Talkshow "Je später der Abend" vom 12. Juni 1976, in der der damals sehr bekannte Fussballer Uli Hoeneß und die damals weniger bekannte Elfriede Jelinek aufeinander treffen:

Hoeneß: Ich habe mal in einem Interview mit Ihnen gelesen (dreht den Kopf zu Jelinek), dass Ihr Mann lachen würde, wenn er Sie bitten müsste, seine Socken zu waschen.
Jelinek (lacht schüchtern): Wir würden uns beide am Boden wälzen vor Lachen. Hoeneß: Ja, das ist eine Sache, die ich bei mir nicht erdulden könnte. Ich putze zum Beispiel meine Fußballschuhe selbst, weil ich das meiner Frau nicht zumuten will. Aber ich bin eben der Meinung, dass es in der Ehe gewisse Dinge gibt, die der eine macht, und gewisse Dinge, die der andere macht. Dazu gehört zum Beispiel Socken waschen.

faust1 560 toni suter u© Toni Suter

Es ist sinnliche Erfahrung, auf die Dušan David Pařízek in seiner Inszenierung setzt, Anschaulichkeit und Konkretion, das Changieren zwischen Einlässlichkeit und Komik, sei es mit einem Heidegger-Kabarett oder mit der Strukturierung des Textes in so etwas wie Kapitel: "Weiber unschädlich machen", "Ab in den Keller", "Über mir nur mein Vater". Und nach rund neunzig Minuten bricht ein aufgelöster Faust herein, und treibt alle hinauf auf die Hauptbühne.

Spielerischer und komödiantischer Charme

Zeitgleich nämlich hat oben Faust in zweierlei Schauspielergestalt, Edgar Selge und Frank Seppeler, den Nährboden für Jelineks Keime bereitet. Auch dies wieder ungemein suggestiv und sinnlich; jedoch in einer völlig anderen Gestimmtheit: mit viel spielerischem und komödiantischem Charme, hier geht es darum, aus den zur Floskel erstarrten Goetheversen frisches Bühnenleben herauszupulen.

Fausts "Tat" am Anfang aller Dinge wird bei ihnen mit einem programmatischen Kalauer zu "The-A-Te(r)" – ohne fixierte Rollen spielen sich Seppeler und Selge die Bälle zu, genießen Zitat auf Zitat, erspielen sich ausgiebig die Prologe, im Himmel, auf dem Theater, greifen auch mal aus Versehen in Schillers Maximenkiste oder brillieren in zwei Monologen gleichzeitig. Pařízek bleibt dabei im Wesentlichen bei der Tragödie erstem Teil und beim Etablieren dessen, worauf Jelinek aufbaut, und wenn zwei, drei Mal Videoeinspielungen ihres Textes eingespielt sind, haben sie was von Gespensterbildern aus einer anderen Welt.

Peinigendes Nichtgeben- und Nichtnehmenkönnen

Bis die Jelinek-Frauschaft aus der Unterbühne heraufsteigt, etwas verstört auf dieser Bühne herumsteht, und es einen kurzen, in seinem Nichtfunktionieren geradezu unheimlichen toten Moment gibt: so komplett verschieden sind die Temperaturen, die da aufeinandertreffen. Sie werden sich bis zum Schluss nicht wirklich angleichen.

Da drängt es aus dem Keller auf die Bühne, besetzt Goethes Verse und kann nur grimmig lachen über Fausts Hingabeschwärmen – die Gartenszene dann zwischen Faust und Gretchen ist ein langes quälendes Spiel von Anziehung und Abstoßung, ein peinigendes Nichtgeben- und Nichtnehmenkönnen, es ist beeindruckend, wie Sarah Hostettler diese verzweifelte Polarität erspielt, auch in ihrem Punkrockausbruch "Meine Ruh ist hin". Im Kerker dann ist sie bloß noch eine Marionette in Fausts Händen, er führt ihre leblosen Glieder, er spricht durch sie hindurch.

Die Texte aus Jelineks Kellerkerker entwickeln im Faust-Kontext noch einmal ihre vampirische Energie, enthüllen ihre motivische Herkunft bei Goethe und wuchern weiter, überziehen die Gretchentragödie mit ihrem vergifteten Rankwerk. "Ziehen Sie bitte selbst den Mann von all dem jetzt hier ab", höhnt FaustIn am Schluss.

Faust 1–3
von Johann Wolfgang von Goethe mit dem Sekundärdrama "FaustIn and out" von Elfriede Jelinek (Uraufführung)
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Musik: Roman Zach, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Roland Koberg.
Mit: Edgar Selge, Frank Seppeler, Franziska Walser, Miriam Maertens, Sarah Hostettler.

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Zwei Seelen wohnen, ach, in diesem Projekt", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (10.3.20212). "Die eine terrorisiert naturgemäss die andere: Subversiv, wie Elfriede Jelinek ist, baggert sie Goethe an, frisst sich in ihn hinein und zersetzt ihn langsam, aber sicher." Die spärlichen 'Faust II'-Zitate müsse man zwar suchen, und insofern sei "Faust 1–3" "eine Mogelpackung". Trotzdem werde Pařízek der "vertrackten neuartigen Aufgabe mehr als gerecht". Er zwinge uns, "selbst zu entscheiden, was wir erleben wollen. Am besten ist, man (...) geht zweimal hin. Nur dann verzahnt sich die klagende, plärrende Suada der geschändeten Fritzl-Opfer im Keller mit dem wohlgereimten Sound des deutschen Dichterfürsten." Nur dann nämlich komme man "auf die volle schauspielerische Rechnung. Sie macht diesen bitterböse komischen Theaterabend zum exquisiten Genuss."

Auch Ulrich Weinzierl von der Welt (10.3.2012) wohnte Jelineks "Vorspiel nicht auf, vielmehr unter dem Theater" bei, das uns "die Augen öffnete: Goethes 'Faust' wirkt, aus ungewohnter Perspektive betrachtet, tatsächlich stark verändert. Kein Heldenstück männlichen Intellekts und Strebens ist zu bewundern, eher ein Trauerspiel männlicher Gewalt zu beklagen." Das Faszinierende an Jelineks Sekundärdrama, "das alles Sekundäre hinter sich lässt", liege "im fortwährenden In- und Miteinander von Opfer- und Tätersicht. Jelinek eignet sich Jargon und Mentalität der Unterdrücker an, um oft gar nicht wahrgenommene Repressionsmechanismen zu entlarven." "FaustIn and out" sei "ein Sprachkunstwerk der besonderen Art und braucht sich vor Goethes 'Faust' nicht zu verstecken". Dieser sei bei Selge und Seppeler "vorzüglich aufgehoben. Kluge Komik verbindet sich mit der makellosen Musik der Verse".

Gerhard Stadelmaier berichtet in der Frankfurter Allgemeinen (10.3.2012), er habe "die gesamte Kollegenschaft der Wiener Theaterkritik und ein paar übereifrige Vertreter bundesdeutscher Provenienz ihren ersten, großen Mitmachauftritt auf der Zürcher Bühne absolvieren sehen. (...) Ich bin von vornherein oben geblieben (mir sind Theaterkeller so suspekt wie Tiefbahnhöfe). Und sah bis zu diesem Moment: ein Primärdrama. Von Goethe. Ein Weltgedicht. (...) Heruntergestuft auf ein Zwei-Männer-Kabarett. In Pingpongtechnik. Zitate-Hin-und-Her, gut gekleidet. Witzig bis zynisch. Mehr nicht." Dann aber erweist Stadelmaier Elfriede Jelinek seinen Respekt: "Man möchte 'FaustIn und out', womöglich Jelineks bisher stärksten, unverschwiemelsten und berührendsten Text, ganz für sich sehen. Auf einer großen Bühne."

Bei "FaustIn and out" habe man es mit Elfriede Jelineks "bislang abgefeimtester Fraueneinfühlung zu tun", meint Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (10.3.2012). "Und Pařízek lässt den Text unten im schaumstoffgedämmten Kellerraum ganz einfach nur wirken, als wisse er genau: Diese sarkastische Textatmosphäre rund um die Angst des Mannes vor der Schwäche der Frau ist so stark, dass das getrost die Schauspielerinnen besorgen können. Das tun die dann auch." Edgar Selge und Frank Seppeler, "die oben auf der Pfauenbühne tonlos als Faust und Mephisto in Richtung Gretchen geistern", wirkten derweil auf den Monitoren "wie Jungs in der Sommerfrische, dann wie Börsenmakler, die ihr Frauenguthaben verhandeln". Fazit: ""So kann das aussehen, wenn Wortspieler wie Goethe und Jelinek aufeinander treffen."

Die Ehe zwischen Goethe und Jelinek funktioniere nicht, sagt Roger Cahn auf Deutschlandradio (10.3.2012). Zwar beweise "der intelligente Zusammenschnitt aus 'Faust I und II', wie modern Goethes Denken und Schreiben vor 200 Jahren war. Die Mono- und Dialoge gewinnen durch die Interpretation der 'siamesischen Faust-Zwillinge' eine durchaus heutige Dimension. Intellektuelles Pingpong auf höchstem Niveau." Und "die grausame Geschichte des Josef Fritzl" wirke "in der Verdreifachung der jungen Frau – Tochter, Mutter, Schwester – inhaltlich wie sprachlich ebenso virtuos und beeindruckend – 'Jelinek at her best'." Doch wenn "diese beiden Ebenen ineinandergefügt" würden, werde es "von Minute zu Minute langeweiliger". So dass "auch diese Form der Aktualisierung eines deutschen Klassikers nur beschränkt" funktioniere, "weil sie an ihrer eigenen Ambition scheitert".

Kommentare  
Faust 1-3, Zürich: im Untergrund gegraben
Jelinek schließt Faust mit Fritzl kurz und sorgt für einen Theaterabend, der verstört und irritiert wie lange keiner mehr. Man kann Jelineks Gleichsetzung Mann=Täter, Frau=Opfer teilen oder nicht - wie sie im Untergrund (im Wortsinn) nach dem gräbt, was auf der Strecke bleibt beim Fortschritt, Tatendrang, Machtstreben, ist atemberaubend und kongenial, weil mit leichter Regiehand, von Parízek in Szene gesetzt. Das Fundament der Gewalt und Unterdrückung, auf dem wir so manche unserer Errungenschaften aufgebaut haben, hier wird es fühl- und sichtbar. Mehr davon.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com
Faust, Zürich: zum christlichen Frauenbild
Faust lesen und sehen sollte man, und dabei die Hintergrundkultur nicht aus dem Blick lassen. Dazu gehören das christliche Frauenbild, Frauen als Verführerinnen, als Prinzip, den "Geist" von seinem Wege abzulenken, ein Prinzip, in dem die Körper getrimmt und gestutzt werden müssen, wo Rückgrate gebrochen werden, Körper den Flammen übergeben werden, um die Seele zu reinigen, in der Geißelungen stattfanden, um Körperbewegungen unter Kontrolle - ja wessen? - zu bringen.Frauenfeindlichkeit korrespondiert mit Körperfeindlichkeit, jener Materialität, die durch Geist= Vernunft gebändigt werden muss. Die Unterscheidung: Geist gegen Materie, Elite gegen Massen, Männer und Frauen sind kulturell vermittelte Deutungsschemata. Sie entfalten sich wie Fraktale im Großen oder Kleinen und endeten einst in der Machtphantasie der Reinigung eines Volkskörpers.
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