alt... und draußen ist irgendeine Krise

von Christoph Fellmann

Zürich, 9. März 2012. Sie wiehern und winseln, sie rülpsen und röcheln. Das menschlichste Geräusch, das zu hören ist, ist das Plätschern des Schnapses in die Gläser. Denn auch die Sprache dieser Menschen hat sich zu einem belegten Flüsterton zurückgebildet, gerade so, als schämten sie sich für das Elend, von dem sie erzählen. Darum trinken sie Schnaps, viel und schlechten Schnaps. Aber gleichfalls waschen sie sich im Schnaps und lassen darin die Mordwaffe verschwinden. Einer spricht es aus: Sie wünschten sich, die ganze Welt wäre aus Schnaps.

Und in einem gewissen Sinn ist sie das auch in diesem "Woyzeck", den Yannis Houvardas, Leiter des griechischen Nationaltheaters in Athen, am Theater Neumarkt in der Singspielversion von Tom Waits, Kathleen Brennan und Robert Wilson zeigt. Denn die Welt ist klein, in der diese Figuren ihre prekäre Existenz führen, und die Decke hängt tief in diesem abgetakelten Schnapsladen, der auch Arztpraxis, Barbiersalon und Suppenküche ist. Ein stickiger Raum mit abgestandenen Menschen. Da draußen ist irgendeine Krise, die sie hier gefangen hält, aber vielleicht genügt auch der Hinweis aus einem der Songs: God's away on business. Nur unterhalb des Holzbodens, auf den sie ständig klopfen, scheint es zusätzlichen Raum zu geben, oder auch nur ein großzügiges Grab.

The plural of mouse is mice

Natürlich darf man dabei an Griechenland denken, der Regisseur hat in Interviews vor der Premiere ja selber auf die Demütigung seiner Landsleute durch die Sachzwänge einer europäischen Wirtschaftspolitik hingewiesen. Und wenn mit der Pistole an Woyzecks Schläfe dann auch noch russisches Roulette gespielt wird, ist man in Gedanken schnell bei den Investmentbankern, die an den Börsen auf den griechischen Bankrott wetten. Trotzdem sehen wir hier keinem griechischen Drama zu, denn wie es in einem der Songs heißt: The plural of mouse is mice. Hier sind alle Woyzeck, hier haben alle diesen "kleinen, harten Puls", hier gehen alle zu Boden. Yannis Houvardas zeigt, was die Krise mit den Menschen macht, und hat ein ergreifendes Requiem auf die Würde auf die Bühne gebracht. Wo kein Geld mehr ist, ist alles käuflich.woyzeck 560 philippottendoerfer xMalte Sundermann als Woyzeck. © Philipp Ottendörfer

So wird in diesem langsamen, leisen, aber hochmelodischen Spielmodus die Geschichte von Woyzeck und seiner Marie zur Geschichte auch des Mittelstandes aus Arzt, Hauptmann und Tambourmajor. Und aus dem büchnerschen Drama wird ein Horváth'sches Trauerspiel, atemraubend in seiner ästhetischen Konsequenz und schlüssig in seinem dramaturgischen Dreh. Denn der Wahn von Woyzeck, das ist hier, bei Malte Sundermann, der Rest von Würde, auf dem er besteht, während die Demütigungen der längst Entwürdigten auf ihn niedergehen. Er weiß, er hat seine Marie an die Macht und an das Geld des Tambourmajors verloren; aber das hindert ihn nicht daran, ihr Lied zu pfeifen, während er krumm geschlagen wird. Es ist "Coney Island Baby".

Don't you cry, don't you weep

An diesem Abend machen sie alles richtig, alle. Die schäbige Bühne mit ihrem Einheitsschummerlicht erzeugt eine Klaustrophobie, in der einem das halblaute Gestammel der Figuren ungemein nahe kommt, und die Schauspieler lassen sich mit begeisternder Präzision und Konsequenz darauf ein. Nur in den Tanzszenen werden sie grob und poltern in groteskem Pogo durch ihr Schnapsverlies. So sehr, dass sie sich bald im Paartanz aneinander lehnen müssen, um nicht schon zu diesem Zeitpunkt umzufallen. Es ist ein himmeltrauriges Bild, das von der Band so behutsam wie möglich begleitet wird. Wie oft hat man diesen "Woyzeck" als Tom-Waits-Travestie gesehen, als kolossal röhrende Freakshow: Hier nun vertraut die Regie zu Recht auf die brüchigen und beschränkten Singstimmen der Schauspieler. Es sind Stimmen, die perfekt in die schmale Lücke passen zwischen dem Mund und einer Schnapsflasche.

Diese Lieder sind eines der schönsten Sets von Songs, die Tom Waits und Kathleen Brennan geschrieben haben (unter dem Titel "Blood Money" sind sie übrigens als CD erhältlich). Don't you cry, don't you weep: Yannis Houvardas legt die spärlichen Reste eines besseren Lebens, die er für seine Figuren übrig hat, in die Schönheit dieser Musik – und in die wenigen Sekunden der Leere, für die er das Geschehen nach jedem Lied anhalten lässt. Es sind Sekunden der Leere, ja, aber auch der Freiheit, in denen sich ein anderes Leben denken ließe, bevor alles wieder wie gewohnt weitergeht. Und so setzen sich die Figuren zuletzt wieder hin zum Anfangsbild. We want to go home tomo..., hat Woyzeck gesungen, und mit letzter, verröchelnder Kraft: ...rrow. Und auch den anderen versagen die Stimmen und die Zukunft.

 

Woyzeck
von Georg Büchner, Tom Waits, Kathleen Brennan und Robert Wilson
Textfassung von Ann-Christin Rommen und Wolfgang Wiens
Regie: Yannis Houvardas, Bühne: Michel Schaltenbrand, Kostüme: Gwendolyn Jenkins, Musikalische Leitung: Knut Jensen, Dramaturgie: Daniel Lerch.
Mit: Malte Sundermann, Katarina Schröter, Heiko Raulin, Jonas Gygax, Jakob Leo Stark, Alexander Seibt, Charlotte Schwab, Tabea Bettin, Fridolin Blumer, Knut Jensen, Hans Ries, Ioanna Seira und Simon Wyrsch.

www.theaterneumarkt.ch

 

Auch die Regisseurin Jette Steckel hat sich vor gut zwei Jahren am Thalia Theater Hamburg für die Waits/Wilson'sche Fassung des "Woyzeck" entschieden.


Kritikenrundschau

In Regisseur Houvardas hat "Einsamkeit einen Namen", feiert Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag (11.3.2012) diese Inszenierung. Ja, sie "epochal zu nennen, ist keinen Halbton zu hoch gelobt". Man könne hier erleben, wie der griechische Theatermann "unser Existenzempfinden mit größtmöglichem Stilgefühl und kleinstmöglicher Kunstanstrengung, man weiß nicht wie, luftleicht auf die Bühne tupft". Existenzialistisch sei diese Arbeit im Kern, eine "Tragödie der Heimatlosen aller Länder". Der Abend zeige damit nicht weniger als "ein neues politisches Theater, das jenseits des postdramatischen Schauspiels an das Drama glaubt als eine hochpoetische und hochmoralische Anstalt".

Ganz anders Stephan Reuter für die Baseler Zeitung (12.3.2012). Er sieht vor allem, dass "sich die Promillewerte im Raum Richtung kollektive Volltrunkenheit einpegeln". Und die "Regie lässt der abgewirtschafteten Atmosphäre reichlich Zeit, über die Rampe zu kriechen." Es würden sich "zahlreiche Schrammelbluessongs in die ohnehin fragmentarische Handlung drängeln", wobei Malte Sundermann als Woyzeck alles andere als "ein Musicstar, schon gar kein Tom Waits", sei, weshalb die Titelfigur bei ihm "verblasst".

"Meist ruhig und unaufgeregt, sensationslos und distanziert" wirke diese Inszenierung, schreibt Lukas Gloor in der Aargauer Zeitung (12.3.2012). Ihre Ruhe zeuge von "einer dramaturgischen Konsequenz, die das Arsenal an Emotionen auf ein Minimum reduziert", produziere allerdings auch "Stillstände". Gelegentliche Auflockerungen wie in der Tanzszene hätten eine "geradezu erleichternde Wirkung". Allerdings überzeuge die "reduzierte Inszenierung" in der Schlussszene, wenn Woyzeck ein physischer "Ausbruch" verwehrt wird. Durch dieses "Ausbleiben wird er umso mehr zum Faszinosum".

Als "hochpräzise Partitur der Erniedrigung" rühmt Alexandra Kedves im Zürcher Tages Anzeiger sowie in Der Bund (12.3.2012) diesen Abend. "Kein Muskelzucken ist verfehlt, kein Satz zu viel." Regisseur Houvardas lasse "die Leere im Leben der Büchner-Figuren gähnen, bis sie selbst das Publikum quält". Lob fällt auf die "tolle Liveband" und Malte Sundermanns Titelheld: Wie er "grimassiert, wie er zittert und zappelt, sich von Zipperlein zu Zwangshandlung steigert, hat Rhythmus". So befindet die Kritikerin: "(N)och nie gabs den Waitsschen 'Woyzeck' so karg und so qualvoll konsequent wie hier."

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