altIhr seid schuld!

von Dina Netz

Köln, 16. März 2012. Die Bühne von Thomas Dreissigacker sieht mit ihrer runden Drehscheibe in der Mitte und den schweren Lederdrehstühlen im Vordergrund ein bisschen aus wie das Cockpit eines Raumschiffs. Nicolas Stemann, Thomas Kürstner und Sebastian Vogel, die sich in diese Stühle fallen lassen, übernehmen das Ruder für den Abend: Der Regisseur ist Moderator oder Conférencier, die Musiker liefern den Soundtrack.

Die Eckdaten des Problems
Eine "kleine Theatermanufaktur" haben er und sein Team eröffnet, sagt Nicolas Stemann, und in der habe man "Dinge produziert: Texte, Lieder, Bilder, Ideen". Ein Teil davon ist in die Bühnenversion von "Der demografische Faktor" eingeflossen, im Netz kann man auch die anderen nachlesen. Die Dinge, die auf die Bühne dürfen, sind mit bunten Zetteln auf eine Tafel geheftet. Die erste halbe Stunde lang erklären Stemann und seine beiden Musiker, was sie alles zusammengetragen haben, spielen ein paar Lieder an und erzählen, was ihnen selbst so einfällt zu ihrer thematischen Klammer, dem "demografischen Faktor". Per Videoeinblendung erläutert der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann die Eckdaten des Problems: Das Aufziehen von Kindern gilt in der Volkswirtschaftslehre als Konsum, und tatsächlich schlägt ein Kind bei seinen Eltern mit 300.000 Euro zu Buche. Stemann und die Musiker nehmen das in einem sprechgesangartigen Liedchen auf: "Das sieht doch ein Blinder, Deutschland braucht mehr Kinder. Willst du hören Kinderlachen, musst du eben Kinder machen." Mit einem weiteren Lied werden die Zuschauer animiert, sich ihren Sitznachbarn nochmal genauer anzusehen – vielleicht geht da ja doch was. Um das Publikum in Schwung zu bringen, bekommt jede/r einen Becher Rotwein. Eine der sympathischeren Regie-Ideen.

demograFaktor1 560 DavidBaltzer uNicolas Stemann & Co., den "demografischen Faktor" besingend. © David BaltzerStemanns Zugang zu dem Problem, dass wir "weniger werden", ähnelt dem seiner legendären Jelinek-Inszenierungen: Er nimmt das schwere Thema leicht. Und auch sonst erinnert "Der demografische Faktor" ein bisschen an Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns, mit dem Stemann vor zwei Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen war: Er hat selbst Monologe geschrieben, von denen besonders der, den Myriam Schröder gegen Ende hervorwütet, an die Textkaskaden der Literaturnobelpreisträgerin gemahnt: Stemann packt alles rein, Klimawandel, Wasser- und Geldmangel, Transrapid, Krieg, Rassismus, die Abschottung Europas, dass immer die "falschen" Kinder bekommen. Und kalauert: "Der Export wurde nach China exportiert."

"Ich schaff das schon"
Aber dieser und die anderen vorgetragenen Texte erreichen eben bei weitem nicht die Jelineksche Dichte, gehen kaum über das hinaus, was man bei einem Bier mit Freunden selbst formulieren würde. Beim Publikum bewirken die Texte nicht mehr als ein müdes bestätigendes Nicken. Wie auch der ganze Abend wie assoziatives Patchwork wirkt, dessen Dramaturgie zwar einigermaßen erkennbar ist. Trotzdem ist man schnell gelangweilt, denn die Witze und Szenen verläppern – zu wenige Einfälle sind wirklich zündend.

Den stärksten Auftritt haben ausgerechnet die Laiendarsteller: Die Mitglieder des Seniorenchors "Spätlese" der Rheinischen Musikschule Köln stehen auf der runden Drehscheibe in der Bühnenmitte und werden damit weggefahren – als würden die nervigen Alten auf eine einsame Insel verbannt. Sie lassen sich das aber nicht gefallen, sondern stürzen "Ihr seid Schuld" schreiend aufs Publikum zu. Dann stimmen sie auf die Melodie von Beethovens "Ode an die Freude" den Text "Altsein ist keine Schande" an. Sie werden vom (von den Schauspielern dargestellten) Pflegepersonal weggeführt und im Bühnenhintergrund abgelegt. Das etwa zehnjährige Mädchen (Ricarda Schenk), das vorher schon einen Text darüber vorgetragen hat, warum eigentlich niemand mehr Kinder kriegen will, legt sich zwischen die ungefähr 40 Alten und sagt tapfer: "Ich schaff das schon." Ein sehr eindrückliches Sinnbild für den "demografischen Faktor" – leider zu wenig für zwei Stunden Spieldauer.

Der demografische Faktor (UA)
von Nicolas Stemann
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Thomas Dreissigacker, Kostüme: Marysol del Castillo, Video: Claudia Lehmann, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Puppen: Felix Loycke, Florian Loycke (Das Helmi), Dramaturgie: Benjamin von Blomberg.
Mit: Sachiko Hara, Ralf Harster, Thomas Kürstner, Felix Loycke, Florian Loycke, Myriam Schröder, Nicolas Stemann, Sebastian Vogel, SPÄTlese - Seniorenchor der Rheinischen Musikschule Köln.

http://demografischerfaktor.wordpress.com
www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Man finde manches "interessant und witzig, wenn man mit einem Glas Rotwein und ein paar Kumpels die Lage der Nation bequatscht", schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (19.3.2012). "Womit der Entstehungsprozess von 'Der demografische Faktor' am Schauspiel Köln vermutlich hinlänglich beschrieben sein müsste, leider aber auch die Aufführung." Diese "Diskursnummernrevue" sei "ein lärmend lähmendes Ärgernis: Entweder will Ironie-Junkie Stemann mit der Attitüde des täglich variierten Themenabends testen, welche Nichtigkeiten das Publikum noch goutiert (...), oder er findet sein fahriges Konglomerat aus Referaten, Reflexionsfetzen, performativen Selbstzitaten und Kalauerkaskaden ernsthaft lohnend. Eitel wäre beides."

Die Luft sei raus "und die Intendantin mit dem Kopf wohl schon in Hamburg", mutmaßt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen (19.3.2012) mit Blick auf die gegenwärtige Lage des Schauspiels Köln. Die Spielzeit kleckere so dahin, "doch nun das", stöhnt Rossmann auf. Im "Demografischen Faktor" betätige sich der Regisseur "wie ein szenischer Proseminarist, der über eine erste Materialsammlung nicht hinauskommt." "Altsein ist keine Schande", singe der Seniorenchor einmal, "doch den Beitrag zu einer aktuellen Debatte so zu vergeigen, dass es keiner mehr ernst nimmt, ist vielleicht doch eine".

Der Abend plätschere "größtenteils in netter Belanglosigkeit vor sich hin", meint Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (19.3.2012), "wie eine Ausgabe der Harald Schmidt Show, die den Entschluss festigt, doch lieber früher zu Bett zu gehen. Oder wie ein Essen bei Bekannten, während dessen man heimlich unterm Tisch an seinem Smartphone herumspielt." Es bewege sich nichts, der Regisseur umkreise "mit seinen Freunden das Thema mit flotten Sentenzen, albernen Kalauern und politischen Wirtshauslösungen". Das Problem der Inszenierung liege "letztlich gar nicht in ihrer ausgestellten Unfertigkeit, sondern in der Qualität des Materials", die zum Teil "nur das Niveau von schlechtem Regionalfernseh-Kabarett erreiche".

Stemanns "selbst gereimtes Musikgeplänkel" sei "weder witzig, noch automatisch Kunst, und selbst der kleiner gebaute Zuschauerraum des Schauspielhauses ist noch zu groß für die geringe künstlerische Fallhöhe des Stücks, das Lässigkeit behauptet, aber Langeweile produziert", sagt Karin Fischer auf Deutschlandfunk (17.3.2012). Immerhin gebe es aber auch wenige Höhepunkte des Stücks, etwa wenn "Myriam Schröder einen Text Stemanns performed, der es in sich hat. Stemanns Essay über die 'Müdigkeitsgesellschaft' spricht über alles, was derzeit über die Ausbeutung der Erde und das Aussterben der "Falschen" im Umlauf ist" und zeige "die Doppelmoral unserer Gesellschaft im Schleudergang".

Stemann habe "den Abend aus Meinungen zum Bevölkerungsschwund zusammengebastelt", erläutert Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (19.3.2012), "Meinungen, die dann sozusagen in der Sinnproduktionsmaschine Theater aufeinander losgelassen wurden (...), die aber doch immer Meinungen blieben. Lauter Meinungen noch dazu, wie man sie aus jeder Talkshow kennt. Meinungen, die man einfach nicht mehr hören kann." Stemann wolle etwas weiterentwickeln: "offen-intelligentes Theater aus dem Zustand der Zeit heraus, theatraler Kommentar ohne doppelten Boden aber mit viel Musik." Es könne das "eine Möglichkeit für politisches Theater sein, das nicht von vornherein an seinen eigenen Widersprüchen erstickt. (...) Dass daraus in Köln nur konventionelles Theater wurde, war schmerzlich."

Stemann habe sich am "Demokratischen Faktor" "kläglich verhoben", schreibt Regine Müller in der tageszeitung (19.3.2012). Es sei "bloß eine matte, handwerklich lausig schlecht organisierte, schleppende Revue" geworden, ein "ermüdend selbstgefälliger Abend". Immerhin zeige Myriam Schröder "den einzig glaubwürdigen Auftritt des Abends in einem langen, geifernden Monolog, dessen Text freilich auch keine neuen Erkenntnisse lieferte."

"Nicolas Stemann fährt groß auf für einen im Kern ganz kleinen, kabarettistischen Theaterabend", beobachtet Stefan Keim in der Welt (20.3.2012). "Der demografische Faktor" sei kein Stück, sondern eine revueartige Materialsammlung über die alternde Gesellschaft. "Neues erfährt man an diesem Abend nicht, Videos, Songs und Dialoge spielen mit bekannten Thesen." Als kleines Kammerformat, so meint Keim, hätte das Ganze dennoch Charme, "weil viel Persönliches spürbar wird". Doch Stemann wolle die große Bühne füllen. Mit Licht- und Bühneneffekten versuche er, die inhaltlich schlappe Inszenierung aufzumotzen. "Doch sie zerfällt in Einzelteile."

Von einen Flop spricht auch Gerhard Jörder in der Zeit (22.3.2012). Zwar beginne der Abend "sehr lässig, sehr entspannt als Regiegespräch und Werkstattplauderei zu dritt." In seinen besten Momenten zeige er, "wie eine politische Lehrstunde, gemengt aus Expertenbefragung, Video-Vorlesung, Statistiken und Lektüretipps, mit privaten Bekenntnissen, anekdotischen Kalauern und szenischen Querschlägern pfiffig und giftig anzureichern ist." Doch Jörders Eindruck zufolge verröchelt die Aufführung "nach zwei länglichen Stunden an einer komplizierten Form innerer Verpuffung. Erdrückt von disparaten Effekten. Erstickt an theatralischem Bombast. Ertränkt in diffusem Lamento. Spätestens im zäh sich hinziehenden Finale, als Stemanns Dreierbande, sekundiert von einem kleinen Ensemble von Schauspielern und einem Laienchor, noch einmal die unterschiedlichsten Genres aufeinanderhetzt, Musical und Tragödie, Sitcom und Kasperliade, Trash und Endzeit-Vision – spätestens da kommt es zur Implosion. Ein Knaller dementiert den anderen." Die Regie wolle, so Jörder, mit der Ununterscheidbarkeit von Ernst und Quatsch 'verstören', aber sie ermüdet den Kritiker bald nur noch, dem schließlich "alles zu viel, alles zu laut, alles zu amorph" wird.

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