Trostfrei quälend

von Petra Hallmayer

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München, 17. März 2012. Nichts löst heftigere Entrüstungsstürme aus als sexuelle Gewalt gegen Kinder. Die hasserfüllte Empörung über die Täter, in die eigene ungerächte Ohnmachtserfahrungen und sadistische Impulse einfließen, vereint Professoren und Raubmörder. Franz Xaver Kroetz' Stück "Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind", das Anne Lenk nun im Cuvilliéstheater inszenierte, begnügt sich nicht mit den reflexartigen Abscheureaktionen. Es hat auch nichts gemein mit den fernsehvertrauten Missbrauchsdramen – und das ist gut so.

Kroetz schrieb sein "Kindertotenlied", das nun eine späte Uraufführung erlebte, 2003 nach dem Verschwinden des kleinen Pascal, dessen Leiche nie gefunden wurde. Die von haarsträubenden Fehlern begleiteten Ermittlungen führten tief hinein in das verwahrloste Milieu gängiger TV-Schmuddeldokus. Während Kroetz von dem konkreten Fall den Schauplatz einer heruntergekommenen Kneipe übernahm, hat die 33-jährige Regisseurin bewusst auf die Verortung des Missbrauchs im Unterschichtensumpf verzichtet, um seine Normalität, seine Alltäglichkeit zu unterstreichen. Die Bühne, auf der uns die Täter entgegentreten und über deren Köpfen eine Tiefkühltruhe baumelt, ist vollkommen leer. Zwei Frauen und fünf Männer, die sich bald zum Chor formieren, sich bald einzeln ans Publikum wenden, breiten die Geschichte ihrer nie zu tilgenden Schuld aus. Da ist die weinende Elfie, die in ihrem Schmerz doch nur ihr eigene Einsamkeit beklagt, da sind die Männer, die sich an dem Jungen vergangen haben, da ist die Wirtin, die es zuließ und sich in die immergleiche Exkulpationsformel flüchtet.

Dialoge mit dem abwesenden Kind

"Mir liegt das Böse nicht", beteuert Kurt (Manfred Zapatka). Einer nach dem anderen versichern sie uns, wie gut sie es mit dem Jungen gemeint haben, der nun tot ist. Alle haben sie ihn geliebt, der Dieter (Shenja Lacher), der Roland (Franz Pätzold), der Otto (Gerhard Peilstein) und der Bernd (Lukas Turtur). Sie schwärmen von seinem Lächeln und seiner Schönheit, von ihrer zärtlichen Fürsorge, nach der er hungerte. Dabei sind ihre Monologe immer Dialoge mit dem abwesenden Kind, dessen Stimme sie mitsprechen, das ihnen mit einem gebetsmühlenhaften "Ja, Onkel" bestätigt, dass ihm kein Leid geschah, es mit allem einverstanden war.

duhastgewackelt2 560 thomas dashuber u© Thomas DashuberEin jeder der "lieben Onkel" behauptet, ein ganz besondere Beziehung zu dem "süßen Fratz" gehabt zu haben, allein die Mechanismen sind stets die nämlichen. Für die Geschenke, die Zoobesuche, mit denen sie sich sein Zutrauen erwerben, muss er mit seinem Körper zahlen. Zunehmend wird das Vokabular eindeutiger, drastischer, die Diskrepanz zwischen Selbstbetrug und Realität krasser und die Chimäre wechselseitiger Gefühle aberwitziger. Die Schönredner, Rausredner feilschen, beziffern und rechnen auf. Das, was sie als Beziehung imaginieren – und darin ist dies ein typisches Kroetz-Stück – ist ein brutales Geld- und Ausbeutungsgeschäft. Doch indem der Junge, den sie käuflich gemacht haben, sich ihre Spielregeln aneignet, die Kleider, die Euros offen einfordert, bedroht er ihre Wunschträume.

"Du hast gewackelt" führt erbarmungslos die jämmerlichen Lügen, die gruselige Rechtfertigungsrhetorik und zugleich das Drama der Pädophilen vor, die sich erschleichen und erkaufen, was sie begehren, und doch nie erlangen können, was sie ersehnen: bedingungslos geliebt zu werden, in der identifikatorischen Hinwendung zu dem Kind, Erlösung zu finden von den Verletzungen und ungestillten Sehnsüchten der eigenen Kindheit. Die Enttäuschung schlägt um in Aggression, in Schuldzuweisungen an das Opfer.

Ermüdend, quälend, trostfrei

Anne Lenks zurückhaltende Inszenierung nähert sich in ihrer formalen Reduktion mit einem überzeugend agierenden Ensemble dem diffizilen Thema sensibel an. Sie vermeidet Bebilderungen, beschränkt sich auf eine symbolisch die Bühne überschwemmende Wasserflut, kleine Tänzeleien und Gruppenaktionen. Dabei glückt ihr allerdings selten eine so starke Szene wie am Anfang, wenn sie den fließenden Übergang zwischen Spiel und sexuellem Übergriff ausstellt, ein Mädchenkind (Katharina Schmidt) auf hohen goldenen Schuhen ausgelassen kichernd zwischen den es kitzelnden und begrabschenden Männern umherschwirrt.

"Du hast gewackelt" ist ein schwieriger und sperriger Text, dessen permanente Wiederholungen einer klugen Rhythmisierung bedürfen, die Lenk nur phasenweise gelingt. So sehr die Aufführung immer wieder fesselt, so ermüdend wirken die Repetitionen irgendwann. Dass dies ein manchmal quälender Abend ist, muss aber vielleicht so sein. Schließlich erzählt er auch eine trostfreie quälende Geschichte.

 

Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind (UA)
von Franz Xaver Kroetz
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Silja Landsberg.
Mit: Shenja Lacher, Franz Pätzold, Gerhard Peilstein, Katharina Schmidt, Lukas Turtur, Ulrike Willenbacher, Manfred Zapatka.

www.residenztheater.de

 

Mehr Franz Xaver Kroetz? David Bösch stellte im Dezember 2010 eine höchst bemerkenswerte Deutung des frühen Kroetz-Dramas Stallerhof auf die Bretter des Burgtheater-Kasinos.


Kritikenrundschau

"Unerträglich", findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (19.3.2012) diesen Abend. Kroetz' Stück "wirkt beim Lesen und auf den Zuschauer ebenso widerwärtig, wie es die Vorgänge sind, von denen es handelt". Seine detailierten Fallschilderungen seien "einerseits eine Pornographie des Grauens, andererseits ein Blick in Abgründe, den man kaum aushalten kann". Zu Wort kommen allein die Täter. "Der schmale Grat, den der Dramatiker Kroetz hier beschreitet, wird umso gefährlicher, je mehr er das Grauen mit einer Kapitalismus-Kritik verknüpft." Anne Lenk vermeide in ihrer Uraufführung fatalerweise den "dämonischen Hyperrealismus", den Kroetz vorgebe, und rücke das Geschehen auf "eine völlig leere, später geflutete, von Metallwänden umgebene Bühne". "Die Argumente der Täter, ihre Entschuldigungen werden also nicht mehr in dem Umfeld vorgebracht, in dem sie entstanden sind; sie erhalten im leeren Raum, unbeabsichtigt wohl, eine merkwürdige Objektivität. Das Requiem für ein totes Kind schlägt um in eines der Täter. Es ist kaum auszuhalten."

In Franz Xaver Kroetz' "sprachmächtigem Kindertotenlied" erhalte man "verstörende Einblick in Täterseelen", schreibt Sandra Kegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.3.2012). Die Täter "sind die Einzigen, die das Wort ergreifen, weder das Opfer noch ein Richter oder eine andere Instanz tritt ihnen entgegen. Bei Kroetz, dem Dramatiker menschlichen Elends, müssen sie allein mit sich und ihren Selbsttäuschungen auskommen." Allerdings begegne das Stück heute, Jahre nach dem Fall" mit "einer seltsam anmutenden Historizität, die auch die Regie von Anne Lenk nicht auflöst." Zwar gebe es in dieser Uraufführung starke schauspielerische Leistungen ("beängstigend in seiner Überzeugungskraft sticht Manfred Zapatka hervor"); doch anstatt den Erfahrungen der Beteiligten nachzugehen "lässt die Regie die Bühne fluten, auf dass die Akteure knöcheltief im Wasser stehen, und es ordentlich spritzt. Wer wollte den Effekt bestreiten, doch mehr bleibt nicht im schmucken Barock-Theater."

Man habe es "mit einem starken Stück zu tun, stark in jeder Hinsicht. Möglicherweise sogar zu stark", schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (19.3.2012). Eine "strenge Kunstfertigkeit" zeichne Kroetz' Werk aus. „Hier wird nicht gehandelt, hier wird gesprochen, einzeln und im Chor. Das schafft Distanz zu den grausigen Fakten, von denen fortwährend die Rede ist." Es sei "eine weinerliche Täterperspektive". Da "Furchtbare" sei: "Der Autor entwirft mit seinen Figuren keine Monster, sondern kaputte Durchschnittsmenschen, die in ihrer Sehnsucht nach Liebe gerade die Schwächsten überwältigen, besten Gewissens sexuelle Gewalt ausüben." Anne Lenks Uraufführung "beeindruckt durch szenische Kargheit, verliert sich jedoch zuweilen im allzu Abstrakten".

Ein "extrem verdichtetes Stück" sei Kroetz' "Du hast gewackelt", schreibt K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (19.3.2012). Auf abstrakter Bühne entfalte Regisseurin Anne Lenk "in dieser ortlosen Ursuppe menschlicher Gefühllosigkeit präzise das Kroetzsche Täter-Panorama". Sie "inszeniert das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern nah am Text, aber kälter als die derbe Vorlage des Wutdramatikers. Sie entschleunigt die perfide Täterkaskade und treibt damit die Zumutung auf die Spitze".

Kroetz' "Du hast gewackelt" ist "ein unglaublich intensiver, brutaler Text, dessen Lektüre schwer erträglich ist", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (19.3.2012). "Genau das macht die Stärke dieses Kindertotenlieds aus". Die ausschließliche Konzentration auf die Täterperspektive sei "ein brutaler Kunstgriff des Autors, denn so wird der Bub noch lange nach seinem Tod wieder und wieder bezwungen, mit Worten vergewaltigt". Anne Lenk begegne dem Text in ihrer Inszenierung "mit Reduktion und Minimalismus". Ihr Verzicht auf ein realistisches Setting sei eine "kluge Entscheidung, die das Allgemeine des Verbrechens betont, indem sie eine zu genaue Milieu-Verortung verweigert". "Beeindruckend ist, wie geschickt Lenk ihre Schauspieler zwischen Rechtfertigung des Einzelnen an der Rampe und Verteidigungsreden zusammengerottet im Chor wechseln lässt. Dadurch entwickelt der Abend einen düsteren, schmerzhaften Sog."

Kommentare  
Du hast gewackelt, München: intensiv
Zuvor dieser seltsam anmutende Brief des Intendanten an die Abonnenten: man müsse dieses Stück inszenieren, hätte aber Verständnis, wenn es jemand nicht sehen wolle, es nicht ertragen könne. Dahinter schien mir die Sehnsucht nach einem Theaterskandal zu lauern.

Dann die Aufführung: die Gang der Kindesmissbraucher, die Klausenwirtin und die Mutter des Jungen, die ihren Körper anbietet. Ein Bravourstück der Schauspielkunst! Faszinierend. Der Abend ist intensiv. Die schreckliche Geschichte zieht mich in ihren Bann: die Kunst diabolischer Verdrängung von Schuld.

Man wird sagen können, die Botschaft sei banal und verharmlosend, dass alle Figuren, ob Vergewaltiger, der missbrauchte Junge oder die ihren Körper anbietende Mutter, nur die bedingungslose Liebe suchten. Aber wenn dem so ist, wird das Schreckliche nicht weniger schrecklich. Am Ende blieb mir selbst das verdiente “Bravo” im Halse stecken.
Du hast gewackelt, München: zu wenig
Der Text ist stark.
Inszeniert ist wenig. Zu wenig.
Die Bühne wirkt kunstgewerblich und die Kostüme zu plakativ.
Zu wenig für München und solch ein Theater!
Leider!
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