Mit dem unbeugsamen Willen zum Erfolg

von Nikolaus Merck

20. März 2012. Von Zeit zu Zeit liest man den Spiegel gern, erfährt man daraus den neuesten Klatsch des Landes doch. Wenn es darum geht, mal wieder einer vermeintlich heiligen deutschen Kuh in den Hintern zu treten, sind die journalistischen Krawallmacher aus Hamburg jedenfalls vorne dran. So war es vor sechs Jahren bei der sogenannten Ekeltheaterdebatte, als ein rechter Tor auf die Reise zu den Pisse-Blut-und-Sperma-Sümpfen auf deutschen Stadttheaterbühnen geschickt wurde. Und so ist es jetzt wieder, da vier arrivierte Kulturmanager und –berater das dringende Bedürfnis verspürten, mal ordentlich ins eigene Nest zu kleckern. Der Spiegel bläst in die Posaune: Die Hälfte der Theater, Museen, Bibliotheken muss weg! Und schon schlagen Radio, überregionale Presse, Fernsehen und Internet aufgeregt mit den Flügeln (hier die ausführliche Presseschau). Schönes Spiel. Jedenfalls wissen wir jetzt wieder, wer die Macht hat, Themen zu setzen. Bloß, ging es wirklich darum, die Hälfte der Kunstinstitute hierzulande (und in Österreich und der Schweiz) kurzerhand ersatzlos zuzusperren?

kulturinfarktDie schönen Tage der "Kultur für alle" seien vorbei, sagen Pius Knüsel, Direktor der Stiftung Pro Helvetia, Stephan Opitz, Leiter des Referats für kulturelle Grundsatzfragen im Kieler Bildungs- und Kulturministerium, Dieter Haselbach, Professor für Soziologie in Marburg, und Armin Klein, Professor für Kulturmanagement in Ludwigsburg, in ihrem Buch "Der Kulturinfarkt". Es gebe "von allem zu viel und überall das Gleiche", in Zeiten, in denen sich die Schulden auf zwölfstellige Zahlen summieren, könnten Staat und Städte das bisherige Kunst- und Kulturangebot schlicht nicht mehr bezahlen. Und "für alle" sei das Angebot ja eh nie gewesen, sondern nur für Gebildete und andere Kulturbürger, denn gefördert werde immer nur Hochkultur, deren Konsumtion dem Bürger Distinktionsgewinn verspreche, während der "Normalo zwischen 30 und 60, erwerbstätig mit Familie" lieber Popkonzerte oder Sommerfestivals besuche.

Die ominöse Hälfte

Fürderhin gehe es um "Rückbau", um Verknappung des überreichlichen Angebots. Wie viel wovon allerdings erhalten werden solle, sei eine politische Entscheidung, mithin das Ergebnis öffentlicher Willensbildung. Und da kommt die ominöse "Hälfte" ins Spiel.

Denn die vier Verfasser fänden es nicht wirklich schlimm, würde man jede zweite Kulturinstitution zusperren. Geschätzte 2 Milliarden von 9,6 Milliarden Euro im Jahr ließen sich (in Deutschland) so einsparen und gezielt in die Förderung von Spitzeninstituten, Laienkultur, kulturelle Bildung umleiten sowie in den Aufbau einer Kulturindustrie investieren, die, um "Inhalte für die vielen" bereitzustellen, sich unverzüglich an "Herstellung und Vertrieb von ästhetischen Erlebnissen in Warenform mit dem unbeugsamen Willen zum Erfolg" machte.

Ob allerdings die stärkere Förderung von Volkstanzgruppen und Musikschulen oder die Subventionierung der Entwicklung von Computerspielen, wie es die Autoren vorschlagen, die Streichung jeder zweiten Bibliothek und die Halbierung der Museums- und Theaterlandschaft aufwiegen und das kulturelle Angebot dadurch demokratischer, massentauglicher und zukunftsfähiger gestaltet würde, ist doch mehr als zweifelhaft.

Das freie Spiel der Kräfte

"Unbeugsam" scheint vor allem der Glaube der Autoren an die Heilungskräfte des Marktes und den Primat der Ökonomie. "Die Kritiker des Marktes haben seit der Bankenkrise Oberwasser. Das ändert nichts daran, dass es zum freien Spiel der Kräfte keine Alternative gibt", auch nicht im Kulturbereich, sagen die Verfasser, die es eigentlich besser wissen müssten, da sie einer wie der andere in Kulturförderung und Kulturberatung heftig verwickelt sind.

Schon die Behauptung, es fehle einfach das Geld, um die Kulturlandschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz in vollem Umfang zu erhalten und sogar auszubauen, hat nach den 100 Milliarden Euro, die alleine für die Rettung der Hypo Real Estate-Bank im Nu aufgebracht werden konnten, jede Plausibilität verloren. Entscheidend sind der politische Wille und die politische Prioritätensetzung. Und da mag es sein, dass es für Kulturpolitiker wie den Pro Helvetia-Chef Pius Knüsel oder den Kieler Kulturplaner Stephan Opitz einfacher ist, ein ausgeprägtes Stockholm Syndrom zu entwickeln und sich mit den aggressiven neoliberalen Marktfanatikern zu identifizieren, als gegen sie politische Mehrheiten zu organisieren.

Der Kampf um Verteilung

Trotzdem bleibt natürlich die Beobachtung der glorreichen Vier richtig, dass es wohl wenig Sinn hat, Museen und Bibliotheken zu erhalten ohne Anschaffungsetats oder Theater, in denen die Schauspielsparte und das Ballett dicht gemacht werden, um Orchester und Bühnentechnik nach gesetzlichem Tarif bezahlen zu können.

Allerdings handelt es sich hier eher um einen Schnappschuss als um die treffende Beschreibung des Status Quo. Denn längst werden ja alle Institutionen auf den Prüfstand gestellt. Längst hat etwa die Diskussion darüber, was von der ostdeutschen Theaterlandschaft erhaltenswert sei, auch auf den Westen übergegriffen. Überall werden Sparten oder ganze Häuser zur Disposition gestellt.

Dabei ist die gegenwärtige Finanzierungskrise der Kulturinstitutionen jedoch nicht der Ausdruck von fehlender Akzeptanz beim Publikum. Und genauso wenig handelt es sich um einen naturwüchsigen Prozess, weil das Geld fehlte wegen "Griechenland und Spanien". Vielmehr ist die Krise Symptom einer in jeder Generation wenigstens einmal geführten Auseinandersetzung darüber, was sich Gesellschaft und Staat an kultureller Ausstattung leisten wollen. Das ahnen auch die Verfasser, wenn sie schreiben: "Es geht wie bei jedem Verteilungskampf um gesellschaftliche Ressourcen."

Aus dem Anfängerhandbuch

Doch bleibt es bei der Ahnung. Denn weitgehend kenntnislos zeigen sich die vier, wenn es ums Detail geht. Beispielsweise hätte es den Herren vielleicht die Sprache von der "Förderungscouch" auf der es sich die Geförderten "bequem" machten, verschlagen, wenn sie einen Blick in den Report Darstellende Künste geworfen hätten, in dem 2010 die miserable soziale Lage von Schauspielern und Tänzern aufgezeichnet wurde.

Auch die für den Theaterbereich vorgeschlagene Abschaffung des Ensembletheaters und der Erhalt nur mehr weniger "repräsentativer großer Bühnen", um "die Tradition des Sprechtheaters" fortzusetzen, die nebenbei aber noch die Aufgabe hätten, Autoren zu fördern und sich um die Theaterliteratur zu bekümmern, klingt eher wie ein Ratschlag aus dem Anfängerhandbuch von McKinsey als nach durchdachten oder wenigstens kohärenten Vorschlägen. Weder nennen die Verfasser die Akteure, die diese Ideen durchsetzen könnten, noch scheint es ihnen aufgefallen zu sein, dass sie im Falle der von privaten Unternehmen verlegten Dramenliteratur ihren sonst hoch gehaltenen ordo-liberalen Grundsatz, der Staat soll sich mit Subventionen nicht einmischen, wo der Markt das Gewünschte hervorbringen kann, flagrant verletzen.

In stalinistischer Sachlichkeit

Neben den Leuchttürmen soll ein "europaweit vernetztes Koproduktionssystem", entstehen, vielleicht so wie es Repräsentanten der Freien Szene wie Matthias von Hartz fordern – vielleicht aber auch nicht. Denn detailliert sind die Vorschläge, mit denen die Opitz, Haselmann, Knüsel und Klein den "Patienten" heilen wollen, nicht ausgefallen. Dafür kommen sie in einem Ton daher, der einen schaudern macht. So schreiben sie den überlebenden großen Institutionen, die sie sich wohl als eine Art Theaterkombinat vorstellen, eine "steuernde Verantwortung für Nachwuchs an Tänzern und Schauspielern, Autoren, Choreografen" zu, denn nur so "lässt sich die Überproduktion an Rohstoff begrenzen". Spätestens hier ist man dem zwischen stalinistischer Sachlichkeit und ökonomistischer Besserwisserei changierenden Ton überdrüssig geworden.

Wenn man dann fast am Ende des Buches noch auf den Satz stößt: "Die Erweiterungsflügel aller Museen brauchen nur noch virtuell gebaut werden", fragt man sich, ob die vier Herren nicht vielleicht doch in untergeordneten Planungsabteilungen von Google besser aufgehoben wären und klappt das Buch entnervt zu.

 

Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz:
Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche.
Albrecht Knaus Verlag, München 2012, 287 Seiten,
19,99 Euro, e-book 15,99 Euro.

 

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