Der Traum vom gelobten, unerreichbaren Land

von Herbert Kullmann

Aalen, 30. März 2012. Drei Stühle, ein Glastisch, kahle Wände. Ein Hotelzimmer in Kinshasa/Kongo. Das kleine Plastik-Krokodil am Bühnenrand verweist darauf. Im Verlauf des Stückes muss es nochmals als Grund für die Behinderung eines Schwarzen stehen. Er, der Verstümmelte, der Arme, der Verlierer, sieht sich einem erfolgreichen Weißen gegenüber. Sie verhandeln über ein Geschäft, über den Traum des Afrikaners vom süßen Leben im reichen Europa: Der im Sterben liegende Vater möchte seinen Sohn mit dem weißen Geschäftsmann nach Europa schicken, um ihm ein besseres Leben zu ermöglichen.

Doch keine Spur davon, dass dort auch Angst die afrikanische Seele aufessen könne. "Nach mir die Sintflut" heißt dieses Stück von Lluisa Cunillé in der Übersetzung von Thomas Sauerteig, das nun am Aalener Stadttheater Premiere hatte. Die 1961 in Barcelona geborene Cunillé hat nicht nur bereits mehrere Preise in Spanien abgeräumt, sie zählt dort auch zu den produktivsten und meistgespielten Autoren.

Nicht einfach so hinnehmen

Es ist die Rede von der Grausamkeit Afrikas, von der Brutalität der Kriegsherren, dem Morden der Kindersoldaten, der Armut. Alles bekannt, alles vielfach kolportiert. Trotzdem oder gerade deswegen drängt sich immer wieder die Frage nach dem Warum auf. Warum muss alles so trostlos sein und warum wird dies einfach so hingenommen?

Bert Brecht bekennt in seinem Gedicht "An die Nachgeborenen": Nicht das Unrecht in der Welt lasse ihn verzweifeln, sondern: "Wenn da nur Unrecht ist und keine Empörung". Hört sich nach Agitproptheater an? Regisseur Jürgen Bosse winkt bereits im Vorfeld ab. Politisches Theater ja, plakatives nein. Dem Regie-Altmeister gefällt das Unterschwellige, Hintergründige, so wie es auch die Autorin Cunillé liebt und wie sie es in einfachen Worten ihren Figuren in den Mund legt, um über eine scheinbar schlicht gestrickten Geschichte den Blick auf das Wesentliche zu öffnen.

Die Untiefen unserer Wirklichkeit

Die hierzulande wenig bekannte zeitgenössische katalanische Dramatik siedelt im Spannungsfeld zwischen Tradition und Aktualität. Cunillé versucht die Augen auf eine Wirklichkeit zu richten, die zwar keinem fremd sein dürfte, aber dennoch jede Menge Untiefen, Brechungen und Schattierungen bietet. Für Jürgen Bosse die eigentliche Herausforderung. Seine Inszenierung hält sich eng an den vorgegebenen Text, wenn auch Bosse von den vier Personen nur zwei auf die Bühne holt. Der Schwarze und sein Sohn bleiben imaginär – im Stück läuft der eigentliche Dialog nämlich auch lediglich zwischen dem "Mann" (Berthold Toetzke) und der "Übersetzerin" (Julianna Herzberg) ab – die, um die es eigentlich geht, schweigen. Ein dramaturgischer Kunstgriff, den Bosse mit einem guten Gespür für das richtige Tempo umsetzt, von den beiden Schauspielern aber erzählerisches Talent verlangt. Nur so kommt in den 80 Minuten Dialog keine Langeweile auf.nachmirdiesintflut3 560 theater aalen xGeschäftsmann und Übersetzerin © Theater Aalen

Ein gelungener Coup, der durch die gegensätzlichen Persönlichkeiten der Schauspieler Toetzke und Herzberg noch an Spannung gewinnt. Bosses unspektakuläre, dafür aber umso sorgsamere Inszenierung rückt Cunillés Botschaft in den Mittelpunkt: Afrika und Europa, Schwarz und Weiß, Jung und Alt gehören zwar, passen aber nicht zusammen. Wenn doch, entlarvt sich dieses Miteinander nachträglich als Illusion. "Nach mir die Sintflut", waren die Worte von Joseph-Désiré Mobutu, dem Diktator von Zaire (heute Demokratische Republik Kongo). Mit "Nach mir die Sintflut" umschreibt Cunillé die trost- und kompromisslose Wirklichkeit der afrikanischen Misere, den Wert eines Menschen, die Verwandlung afrikanischer Ressourcen in europäischen Wohlstand und den Traum vom gelobten unerreichbaren Land. Bosses eindringliche Inszenierung setzt sich mit einer Wahrheit auseinander, in der Schwarz und Weiß einander näherkommen, um sich am Ende dann doch wieder zu verlieren.

 

Nach mir die Sintflut (DSE)
von Lluisa Cunillé, übersetzt von Thomas Sauerteig

Inszenierung: Jürgen Bosse, Ausstattung: Anna Rasic, Dramaturgie: Johannes Frohnsdorf.
Mit: Julianna Herzberg, Berthold Toetzke.

www.theateraalen.de

 

Kritikenrundschau

Im Schwäbischen Tagblatt (2.4.2012) meint Wolfgang Nussbaumer, dass eigentlich das Kopfkino der Zuschauer in Gang gesetzt hätten werden müssen – schließlich finde die Handlung nur in der Erinnerung statt, außerdem sind die zwei Figuren des "Schwarzen" und seines Sohnes gestrichen. "Das zu meistern, gelingt nur mit exquisitem Personal, und das stand Bosse mit Julianna Herzberg und Berthold Toetzke letztlich nicht zur Verfügung."

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