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Im Höllenkreis

von Wolfgang Behrens

Berlin, 31. März 2012. Spät, sehr spät erscheint auch das Inszenierungsteam auf der Bühne, und sofort mischen sich heftige Buhrufe in den bisher einhelligen Jubel. Da nimmt Daniel Barenboim die Regisseurin Andrea Breth an die Hand und geht alleine mit ihr ganz nach vorne an die Rampe. Lange, sehr lange stehen sie dort wie in einer Brandung: Der Sturm, den die Entrüsteten im Publikum entfachen, will sich auch nach gefühlten Minuten nicht legen, ein paar versprengte Bravos geben ihm stetig neue Kraft. Erst als Barenboim und Breth wieder nach hinten treten, verebbt das Tosen des Widerspruchs. Andrea Breth im Berliner Buhgewitter – was ist da los?

Offensichtlich hat da eine gründlich die Erwartungen unterlaufen, die so mancher in sie gesetzt hatte. Schließlich wird Andrea Breth allgemein für ihre genauen psychologischen Tiefenbohrungen im Gewande eines mitunter als altmodisch verschrienen, sogenannten werktreuen Erzählens geschätzt: Nicht zuletzt für ihre nachtschwarze Deutung von Alban Bergs "Wozzeck" war sie gerade hier an der Berliner Staatsoper rückhaltlos gefeiert worden.

Im Vorfeld der Premiere von Bergs "Lulu" hatte sie nun aber – im Gespräch mit Irene Bazinger von der FAZ – etwas gänzlich Anderes angekündigt: "Für mich ist die Aufführung eine Art von Malerei und eine eigene Kunstform, und zwar meine." Und siehe da: Der Breth'sche Realismus, mit dem alle so fest gerechnet hatten, ist weggeblasen. Pulverisiert. Keine Spur, nirgends.

Lagerhalle, Symmetrie, Zeitlupe

Andrea Breth dürfte dabei wohl ihren Hauptansatzpunkt im Zugriff Alban Bergs auf den Stoff gefunden haben. Schon dieser nämlich bricht die erzählerische Linearität der Vorlage Frank Wedekinds in seiner Komposition gezielt auf: Ein zentrales Orchesterzwischenspiel im zweiten Akt ist streng spiegelsymmetrisch angelegt, und die Männer, die im ersten Teil an Lulu, an dieser seltsam kindlichen "Urgestalt des Weibes" (Wedekind), verbrennen, tauchen bei Berg im letzten Bild der Oper erneut als Freier auf. Der Kreis schließt sich – Dr. Schön, der von der Hand Lulus starb, besiegelt nun seinerseits ihr Schicksal als Jack the Ripper.

lulu 560 bernduhlig uLulu in düsteren Gefilden © Bernd Uhlig

Die Kreisform Bergs ist bei Andrea Breth zum Höllenkreis geworden – eine Hölle, für die Erich Wonder ein in kalt-grauen Tönen strahlendes Bühnenbild erdacht hat: In einer gottverlassenen Lager- oder Industriehalle schraubt sich skulpturenartig ein Turm aus Autowracks in die Höhe, ansonsten wird der Raum nur von metallenen, manchmal die Sicht verdeckenden Gestellen strukturiert.

In dieser ungemütlichen und menschenfeindlichen Umgebung bewegen sich die Figuren, völlig abgelöst vom Inhalt ihrer Dialoge, in Zeitlupe durch den ersten Akt. Sie sind in eigenartigen Zwangshandlungen gefangen, beschauen ihre Hände, schreiten rückwärts oder kippen zur Seite. Die Bewegungen behalten allerdings auch in ihrer zeitlichen Dehnung etwas Flüssiges – mit Robert Wilsons affektierten Zeitlupen hat das Ganze nicht viel zu tun.

Rätselhaft und gespenstisch

Alle Männer Lulus sind schon da, alles passiert irgendwie gleichzeitig: Doppelgängerinnen von Lulu tauchen auf, es wird gestorben und wiederauferstanden. Und manchmal ergeben sich seltsam verschobene Korrespondenzen zum Text: Die Erwähnung eines dunkelblauen Kleides der Lulu fällt mit der Erscheinung der Gräfin Geschwitz (die im ersten Akt im Grunde nichts zu suchen hat) in einem ebensolchen Kleid zusammen. Eine somnambule Choreographie. Rätselhaft.

Ab dem zweiten Akt kehren die Aktionen in ihr natürliches Zeitmaß zurück, das Vexierspiel indes setzt sich fort. Bis zur Lächerlichkeit perpetuieren die Figuren ihre Posen: Ein Athlet boxt stumpf vor sich hin, Dr. Schön rennt auf und ab, eine Art rasender Reporter mit vorsintflutlicher Filmkamera gleitet auf Rollschuhen durch die Szenerie. Später dialogisieren dieselben Figuren fast bewegungslos in den Autowracks, als wären sie im Augenblick einer Massenkarambolage aus der Zeit herausgefallen. Gespenstisch.

Lulu als Projektionsfläche

Wenn im letzten Akt Lulu anstelle ihres Porträts von ihrem Ziehvater Schigolch in einen der Metallrahmen hineingenagelt wird, dann ist das der Höhepunkt der Konkretion in dieser Inszenierung und weist zugleich die größte Nähe zu geläufigen Lulu-Deutungen auf: Die Person der Lulu als gewaltsam zugerichtete Projektionsfläche ihrer Liebhaber. In dieses Interpretationsraster fügt sich Mojca Erdmann, die Darstellerin der Lulu, auf nahezu ideale Weise. Die unerhörte Leichtigkeit, mit der sie die irrsinnigen Sprünge und Koloraturen der Partie meistert, verleiht ihrer Gestaltung etwas Über- oder Vor-Individuelles – ihre Lulu kommt gleichsam ohne Expressivität aus und ist sozusagen reine Musik (falls es das gibt).

Das stupende Sänger-Ensemble der Produktion vermag mit der schwerelosen Stimme Mojca Erdmanns jederzeit mitzuhalten: Stephan Rügamer als Maler und Thomas Piffka als Alwa phrasieren hinreißend, Michael Volle gestaltet einen ungemein kraftvollen Dr. Schön, und Georg Nigl beweist als Athlet ein feines Gespür für charakteristische Farben; nur die Gräfin Geschwitz Deborah Polaskis gerät momentweise eine Spur zu dramatisch. Daniel Barenboim kommt bei seinem Dirigat wie schon beim "Wozzeck" die eher spröde Akustik des Schiller Theaters, das der Staatsoper nach wie vor als Ausweichquartier dient, entgegen: Die Farben der Partitur wirken wie durch ein Prisma zerlegt, ohne dass der Gesamtklang je auseinanderfiele.

Betonung des Fragmenthaften

Andrea Breths Entscheidung, die "Lulu" in ein so absurdes wie ausweglos pessimistisches Kammer- und Rätselspiel der ewigen Wiederkehr ins Leere laufender Liebe zu verwandeln, zog übrigens noch eine ganz unmittelbare Folge nach sich: Die Regisseurin hat das Paris-Bild des dritten Aktes, das mit seinem breit ausgepinselten Gesellschaftspanorama nicht ins hermetische Innenwelt-Konzept passte, kurzerhand gestrichen. Aus urheberrechtlichen Gründen konnte der dritte Akt (den Alban Berg zwar im Particell zu Ende komponiert, aber nicht mehr vollständig instrumentiert hat) daher nicht in der gängigen Fassung von Friedrich Cerha gespielt werden. Die für diese Produktion neu angefertigte Instrumentation des Schlussbildes von David Robert Coleman betont nun eher das Fragmenthafte: Durch Hinzufügung von Harmonium, Akkordeon, Marimbaphon und Steel Drums klingt das Ganze bewusst heterogen, manchmal darf man gar an die Jahrmarktklänge eines Tom Waits denken.

Ein solcher Eingriff wird natürlich von einigen als Sakrileg empfunden. Ob freilich die Buhs letztlich der verweigerten "Lulu"-Erzählung oder dem gestrichenen Paris-Bild geschuldet sind, das kann wohl nicht mit Sicherheit entschieden werden. Leidenschaftlich jedenfalls waren sie, die Buhs. Und unverdient.

Lulu
Oper von Alban Berg nach Frank Wedekind, neue Orchestrierung des London-Bildes (3. Akt, 2. Szene) von David Robert Coleman
Regie: Andrea Breth, musikalische Leitung: Daniel Barenboim, Bühnenbild: Erich Wonder, Kostüme: Moidele Bickel, Licht: Olaf Freese, Video: Philipp Haupt, Dramaturgie: Jens Schroth.
Mit: Mojca Erdmann, Deborah Polaski, Anna Lapkovskaja, Stepan Rügamer, Michael Volle, Thomas Piffka, Georg Nigl, Jürgen Linn, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Johann Werner Prein, Wolfgang Hübsch, Blanka Modrá, Liane Oßwald.

www.staatsoper-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Musikalisch sei "die Aufführung grandios. Barenboim disponiert im Graben die Staatskapelle äußerst differenziert. Mit Mojca Erdmann agiert eine Lulu auf der Bühne, die mit engelhafter Leichtigkeit ihre oft sehr hochgelegte Partie singt", sagt Georg-Friedrich Kühn auf Deutschlandfunk (1.4.2012). Dramaturgisch indes entstehe "nicht die von Breth angestrebte Dichte. Die Figuren, mit Ausnahme der Frauen, bekommen kein eigentliches Profil. Zumal im London-Bild schleichen immer wieder Schlapphüte durch die Szene mit ständig repetierten Aktionen à la Wilson. Viel Beckett ist da wohl auch mitgedacht."

Dass Andrea Breths Inszenierung "zum Intensivsten gehört, was zur Zeit auf Berliner Opernbühnen zu sehen ist", sei keine Frage, meint Peter Uehling in der Frankfurter Rundschau / Berliner Zeitung (2.4.2012). Die Regisseurin nehme das Stück "sehr konsequent, aber durchaus auch gewaltsam in den Griff": Die Zeit laufe in ihrer "Lulu" im Kreis: "als Endlosschleife gleicher Situationen mit den gleichen Menschen; dies ist ein Kurzschluss der säkularen Höllen Jean-Paul Sartres („Die Hölle – das sind die anderen") und Stephen Kings („Die Hölle – das ist ewige Wiederholung")." Unbarmherzig habe Breth das Stück so "in den Stillstand choreografiert." Vielleicht aber müsse sie "die Oberfläche des Stücks, sein schillerndes Zwielicht, seinen schrägen Humor abtragen, vielleicht ist Aktualität anders nicht mehr zu erreichen. Denn die angststarre Faszination, mit der Frank Wedekind (...) und dann Alban Berg in seiner Oper auf 'die Frau' blicken, ist nur noch schwer ernst zu nehmen."

Im Tagesspiegel (2.4.2012) verweilt Christine Lemke-Matwey nur äußerst kurz bei der Inszenierung: Wie Andrea Breth "auf die Idee verfallen konnte, ausgerechnet 'Lulu' im aschgrauen Ambiente eines Autofriedhofs als eine Art Installation mit lauter Untoten in Szene zu setzen, die in dämlichen Choreografien dämlich aneinander vorbeigestikulieren – das bleibt das große Rätsel und Ärgernis der diesjährigen Festtagepremiere." Auch musikalisch sei der Abend unkonturiert. Und Mojca Erdmann wisse "ihrem kreidefarbenem Sopran" nicht "mehr als ein paar Kindertrompetentöne" zu entlocken.

"Es gibt wieder eine neue Fassung der Oper 'Lulu' von Alban Berg", schreibt Eleonore Büning in der Frankfurter Allgemeinen (2.4.2012). "Sie ist diesmal nicht aus Bergs Musik heraus entwickelt, vielmehr Folge und Ergebnis eines Regieeinfalls. Ausgerechnet Andrea Breth, die als letztes konservatives Bollwerk gegen die Pestilenz der Regietheaterwillkür Gefeierte – ausgerechnet sie hat jetzt als Erste diese alte, unsichtbare Grenze überschritten." Breth habe "alles Fleisch aus der Handlung herausgenommen", "kein Funke Leben" stecke in ihren Figuren, "bloß zentnerschwere Gedankenlasten". Erich Wonder habe der Breth dazu "ein großartiges Jammertal gebaut, einen herrlichen Kummerkasten". Und auch wenn wir laut Büning einiges der Inszenierung "jetzt aber ganz rasch wieder vergessen" wollen, so konzediert sie letztlich doch: "Alles andere hinterlässt Widerhaken im Gedächtnis."

In der taz (3.4.2012) schwärmt Niklaus Hablützel zunächst für Mojca Erdman, den "einzigen Star dieser neuen Inszenierung der für immer unvollendeten Oper 'Lulu'". Und beginnt dann die Schilderung einer Hin- und Hergerissenheit: Einerseits sei "dieses Theater keine Sekunde langweilig". Das liege vor allem daran, dass Breth den Stoff und die Oper "von der erdrückenden Last einer angeblich bedeutsamen Männerfantasie befreit habe". Ebenso frei könne Daniel Barenboim nun mit seiner Staatskapelle "den unglaublich weiten Horizont dieser Musik öffnen". Andererseits findet Hablützel: "Breth und Barenboim sprechen die Wahrheit aus: Alban Bergs 'Lulu' ist das Werk eines genialen Musikers, aber kein Meisterwerk." In Berlin sei sie ein Abenteuer des Verstandes geworden, nicht des Gefühls. Das "trotz der unglaublichen Mojca Erdman" nicht wirklich gut ausgehe.

Fast klinge Barenboims Deutung von Alban Bergs unvollendeter zweiter Oper so, als hätte nicht der grelle Provokateur Frank Wedekind den Text dazu geliefert, sondern als hätte der noch grellere und noch provokantere Charles Baudelaire seine "Fleurs du mal" zur Vertonung freigegeben, schreibt Reinhard J. Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (3.4.2012). Die musikalische Hemmungslosigkeit von Bergs Oper sei stets eine riesige Hypothek für die "Lulu"-Bühnenshow. "Selbst hartgesottene Regietheater-Berserker stoßen hier an ihre Grenzen." "Die große Andrea Breth" nun beschere dem Publikum ein sehr ehrgeiziges Konzept. Sie stelle das absolute Begehren von Lulu und Dr. Schön ins Zentrum. "Doch die den Sängern verordnete Statuarik konterkariert alle Bemühungen um puren Sex." Zudem sei Hauptdarstellerin Mojca Erdman "allzu gesittet brav" und musikalisch der Partie nicht so ganz gewachsen. "Die Höhe klingt soubrettenhaft dünn, manches piepst nur, die Tiefe ist zu leicht, zu wenig körperhaft." Allein Anna Lapkovskaja bringe dauerlächelnd, in absurden Aktionen und mit sinnlich betörendem Mezzo ihren Gymnasten zum Leben, und Jürgen Linn als angeblicher Vater Lulus lasse zuletzt einen superunsympathischen Despoten vom Stapel – "sie sind damit die einzigen, die Barenboims wild wuchernder Lesart Paroli bieten."

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