altDas Große im Kleinen

von Matthias Schmidt

Magdeburg, 5. April 2012. Warum spielen eigentlich so viele Theater dieses Stück, diesen Roman, wenn doch eigentlich so klar ist, worin seine Botschaft besteht? Wir wissen es ja längst: die neuen Pinnebergs und Lämmchens sind unter uns. Vielleicht sind es die so genannten Schlecker-Frauen. Vielleicht sind es die, die unter dem Unwort "Arbeitnehmerüberlassung" rubriziert sind. Vielleicht sind es ja auch gar nicht die Unterdrückten, sondern die "unter Druck". Die mit der permanenten Angst, aus der Mittelschicht zu fallen, in die Lämmchen und ihr Mann gar nicht erst hineinkommen.

"Nur nicht arbeitslos werden", das geht Pinneberg nicht aus dem Kopf. Im Zeitalter der "Aufstocker" reicht selbst das vielen nicht, weil sie von ihrem Lohn nicht leben könnten. Und nicht wenige, die davon weit entfernt scheinen, kennen die Sorge, dort stranden zu können. Schlecker wird Droege, und die verbliebenen Mitarbeiterinnen sollen sich durch Verzicht am Neustart beteiligen. So geht das. Man hätte den Blick in das recht politische Magdeburger Programmheft also gar nicht gebraucht, um zu verstehen, dass "Kleiner Mann, was nun?" 80 Jahre nach der Ersterscheinung letztlich immer noch aktuell ist. Möglicherweise aktueller denn je.

KleinerMann1 560 NilzBoehme uDavid Emig und Julia Schubert sind Pinneberg und Lämmchen   © Nilz Boehme

Eine einfache Geschichte

Enrico Stolzenburg hat sich dafür entschieden, diese Aktualität gerade nicht zu betonen und wählt damit die wohl konsequenteste Umsetzungsmöglichkeit. Er belässt alles in seiner Zeit, Kostüme und Musik und Ausstattung und Sprache. Er bildet keine Gesellschaftsordnung ab, sondern – gewissermaßen in Neuer Sachlichkeit – ein Drama von "kleinen Leuten". Das kommt zunächst so bieder daher, so naturalistisch und, ja, so langweilig, dass man es kaum glauben kann. Bis auf ein paar winzige Andeutungen weist nichts darauf hin, dass die Regie mit dem Stück etwas will. "Mein Name ist Pinneberg, und ich kaufe hier ein", sagt Pinneberg und lässt kurzzeitig eine leichte Neigung ins Loriot-hafte erwarten. Denkste! Nichts zweifelt an der aufrichtig ins Bürgerliche strebenden Angestelltenhaltung der Pinnebergs, nichts an ihrem unabwendbaren, angekündigten Scheitern. Die Magdeburger spielen es flott, mit Komik auch, aber eben ohne doppelten Boden. Eine Vorabendserie aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Das ist in seiner Einfachheit fast ein wenig peinlich, bis es – quasi unbemerkt – langsam seine Wirkung entfaltet. Je länger dieses Spiel dauert, desto klarer wird nämlich, wie toll die Liebesgeschichte von Emma, genannt Lämmchen und ihrem "Jungen", Pinneberg, ist.

Größtmöglicher Trost

Diese Inszenierung leistet es sich, ohne den Hauch einer Aktualisierung, ohne Schischi und Effekte auszukommen und gewinnt genau dadurch. Wir sehen in einer sich geschickt auf die kleine Familie konzentrierenden Fassung, was für großartige Rollen in dem Stoff stecken. Allen voran das Lämmchen, dieses einfache Mädchen mit seiner Lebensklugheit. Julia Schubert zeigt sie als eine starke Frau, beinahe zu gut, um wahr zu sein. Sie hält aus, was ihr Mann allein nicht aushalten könnte. "Wir sind ja zusammen, wir beide", in diesem größtmöglichen Trost lässt sie den Abend gipfeln.

Da war David Emig als Pinneberg längst dauerarbeitslos und brüllend auf dem Weg, diese Welt und seine Rolle darin nicht mehr auszuhalten. Lämmchen hat die Welt im Griff, und die Inszenierung sowieso. Um sie herum kreisen die anderen 16 Personen, die Enrico Stolzenburg auf vier Schauspieler verteilt. Die wichtigsten waren die spielfreudigsten: Isolde Kühn als herzlose, urige Puff-Mutter Pinneberg, Peter Wittig als gutmütiger Falschspieler Jachmann und Andreas Guglielmetti als kollegialer Freund Heilbutt mit den nudistischen Neigungen. Großer Jubel zu Recht für dieses Ensemble. Für eine Inszenierung, die ihre Ausstrahlung, auch ihre politische, daraus bezieht, dass sie dem Stoff ganz und gar vertraut. Das Große im Kleinen sehend, sozusagen.

Gejubelt wird im Magdeburger Schauspielhaus, der ehemaligen Stadtvilla eines Zuckerfabrikanten, übrigens durch kräftiges Trappeln mit den Füßen. Mit den Füßen abstimmen, sagte man früher, meinte aber das Gegenteil.

 

Kleiner Mann, was nun?
von Hans Fallada
Bühnenfassung von Dag Kemser und Enrico Stolzenburg
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne: Katrin Hieronimus, Kostüme: Petra Winterer, Musik: Sven Springer, Dramaturgie: Dag Kemser.
Mit: David Emig, Julia Schubert, Isolde Kühn, Peter Wittig, Andreas Guglielmetti, Konstantin Marsch.

www.theater-magdeburg.de

 

Mehr Fallada? Zuletzt inszenierte im Januar 2012 David Bösch den Romanstoff im Schauspielhaus Bochum. 2009 brachte an den Münchner Kammerspielen Luk Perceval seine Fassung des Romans heraus, und wurde 2010 zum Theatertreffen eingeladen.

 

Kritikenrundschau

Zwar findet Gisela Begrich in der Magdeburger Volksstimme (7.4.2012) den Abend besonders im ersten Teil noch etwas spröde, was sie speziell der Tatsache zuschreibt, dass Enrico Stolzenburg durch eingeschobene Textstellen aus dem Roman, die die Spielszenen ergänzen und unterbrechen, seiner Inszenierung einen beinahe dokumentarischen Charakter verliehen hat. Erst an den Tiefpunkten ihrer Geschichte kommen die Figuren aus Sicht der Kritikerin zum Leuchten. "Ins Herz trifft, wie David Emig die Demütigungsszene vor dem Schaufenster darstellt. Und wenn Julia Schuberts Lämmchen am Schluss tonlos bekennt, nicht weiter zu wissen und dennoch versucht, Trost zu spenden, ergreift das wohl auch hartgesottene Zuschauer." Die Kostüme seien liebevoll dem Stil der Entstehungszeit des Roman nachempfunden. "Eine Art Spieltruppe bewältigt die Fülle der Rollen. Das geschieht mitunter in rasendem Tempo. Ein neues Kleidungsstück vom Haken und ein anderer Mensch bevölkert die Szene."

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