Jonathan Meese - Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst
Macht und Mutti
von Dirk Pilz
12. April 2012. Vielleicht sollte man das singen? Oder einsam in Bergeshöh' gen Himmel flüstern? Ins Meer hinauskreischen? Hm.
Auf dem Tisch liegen gut 650 Seiten Jonathan Meese. Schwarze Schutzhülle, roter Einband. Es sind "ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst". Für die Auswahl sei herzlich gedankt, denn wie vom Herausgeber Robert Eikmeyer im Nachwort zu erfahren ist, gibt es noch große Mengen unveröffentlichter Manuskripte, darunter auch ein Buch namens "Monosau", angeblich mehrere hundert Seiten lang. Meeses Mutter, Brigitte Meese, hat früh begonnen, die Meese-Manuskripte abzutippen, sie brach nach einiger Zeit zusammen.
Jonathan Meese, geboren 1970, ist ein Künstler wie ihn der Kunstbetrieb sich wünscht. Seine Kunst ist wild und wirr, er selbst aber ist ein sehr freundlicher Mensch, höflich geradezu. Er malt, baut Skulpturen, schreibt und tritt mit Ritterkreuz um den Hals auf. Für Frank Castorf hat er Bühnenbilder gebastelt (für die Inszenierung des Pitigrilli-Romans "Kokain", kein so guter Abend, und für die "Meistersinger", besser). Sogar selbst inszenierte er bereits ("De Frau", Volksbühne Berlin, 2007, auch eher mau). Rasch war er erfolgreich, seine erste große Ausstellung, "Mamma Johnny" betitelt, wurde 2006 von den Deichtorhallen in Hamburg ausgerichtet. Nun liegt also die erste Sammlung seiner Schriften vor.
Geiles Erz
Der Einleitungstext des Bandes lautet "Der GEOMETRISCHE GOTT (die hermetische, ZEUSHAFTE NEUTRALITÄT der Tyrannis)", beschlossen wird er von dem Epilog "Erztheater ist dein Totalspiel".
Es ist in den Schriften dazwischen sehr viel von Hitler die Rede. Das hat wahrscheinlich etwas zu bedeuten, und wenn es etwas bedeutet, dann dies: Meese stilisiert sich zum Kunst-Hitler; sein Traum ist die Errichtung eines "Wahnstaates". Heißt einerseits: "Mein Staatsschlüpfertum bebt." Heißt andererseits: "Kunst ist die totale Macht, toll (Kunst ist die tollste Kinderstube, wie alle Vampirmädchen)."
Außerdem liest man hier wahlweise von "Geilgebieten" oder "Geilsacktum", von allerlei Erzen ("Erzkunst", "Erzich", "Erzpapst", "Erzbereitschaft" und andere mehr) und Sälen ("Saalhatz" und "Erzselbstsaal" zum Beispiel), von "Prähkriegen" und "Parzivaltum", von der "totalen Anarchie" (das sehr oft) und der "Andynastie Warhold" (nicht so oft). Zudem macht der Leser die Bekanntschaft mit dem "Pimmel von Jonathan Meese", der "Erbmusik der Geschlechtsteile", dem "Marquis de FUCK" und, auch wichtig, dem "Gottyr der Poesie" (kein Schreibfehler).
Die Texte sind dabei zwar sehr verschieden, mal lange Monologstücke, mal Listen, mal Pamphlete, auch Gespräche finden sich. Aber man kann das alles als Selbstdialog lesen. Es nehmen daran teil: Herr Wirr und Frau War. Er heißt Jonathan, sie Brigitte, wahlweise treten sie auf als Herr Kunst und Frau Adolf. Es ist dies also ein Streitgespräch über Macht und Mutti. Jeder Disput endet in einem Wirrwar, der sich darin gefällt, Wirrwar zu sein. Und alles läuft darauf hinaus, was sich in einem Satz sagen ließe, den Meese auch tatsächlich sehr oft sagt: "In der Kunst herrscht die Kunst." Das stimmt. In seinem Kunst-Leben herrscht allerdings offenbar Mutti. Oder doch das "Würstchenvolkswürstchen Meese"?
Heil Kunst!
Wie auch immer. Das Herrschen ist Meeses Dauerobsession, er ist sozusagen führerbesessen. Eine schlimme Krankheit. Sie fordert: "Sei erzfinal gegen alles." Und: "Nur das Wesen ist radikal, was ein Saal ist." Ist das jetzt Kunstfaschismus oder Kasperletheater? Was es auch ist: Man kann dieses Buch unmöglich von vorn bis hinten durchlesen. Man sollte auch nicht versuchen, semantische, logische, assoziative Stimmigkeiten auszumachen. Die Texte zu lallen ist vielleicht eine Variante, eventuell.
Meese sagt: "Kunst ist unheilbar." Das ist der spezifische, letztlich zutiefst religiöse Trost, den er sucht: Es gibt nichts (mehr) zu tun. "Kunst ist süßester Dienst an der Sache. Kunst ist totale Liebe, wie Atmung." Also ist Kunst das Leben, also ist alles Kunst. Das ist der "totale Sieg" der Kunst: ihre Abschaffung, ihre Aufhebung.
Jonathan Meese:
Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst. Herausgegeben von Robert Eikmeyer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 662 S., 29 Euro
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Wenn Dirk Pilz nicht schon einen Preis erhalten hätte, gebührte ihm hier auf jeden Fall einer. Der Geduldspreis nämlich oder der totale erzfinale Wirr-War-Preis. Der "Gottyrpreis der Poesie" geht aber für "Andynastie Warhold" eindeutig an "Würstchenvolkswürstchen Meese".
Und übrigens, rein diktatorisch gesehen nach Meese:
Sind denn jetzt alle
Künstler in Halle/Saale?
Keine Angst, es geht nicht weiter wie bei G.G.
doch das ist mir scheissegal
hauptsache chaos und vor allen dingen
alles illegal
dann nehm ich mir ein herz
korregier der welten lauf
ich häng den lieben gott
an seinen eiern auf
denn nur jetzt oder nie
hab ich kraft zur kunst*
in germoney
...
*anarchie
(schoeders roadshow)
aber wie summt es noch in meinem ohr:
"kunst kommt von können,
käme es von wollen hiesse es wunst"
ich bin einfach zu müde für jonathans kindliche allsicht der dinge.
er bleibt mir aber als mensch sympathisch in erinnerung, seine begeisterungsfähigkeit, seine neugierde und genau jene wachheit, die mir abhandengekommen ist, was kunst betrifft.
badman
eine Zwischenzeit ist.
Man stelle sich vor:
Es hat einmal eine "heilige" Kunst gegeben!...