Kasimir und Karoline – Nina Mattenklotz' beeindruckende Stuttgarter Horváth-Inszenierung
Die Lebensgier einsamer Menschen
von Verena Großkreutz
Stuttgart, den 13. April 2012. "Abgebaut" sei er, sagt Kasimir, "abgebaut": Eine Vokabel für den Verlust der Arbeit, die man, als die soziale Marktwirtschaft noch funktionierte, in Spezialwörterbüchern nachschauen musste, wenn man Horváth-Stücke las. Heute, da das "Soziale" der Marktwirtschaft verblasst ist, weiß jeder, was das bedeutet, "abgebaut" zu sein. Der "Abbau" hängt wie ein Damoklesschwert über unserer Arbeitswelt, es kann so gut wie jeden treffen. Insofern ist Kasimir einer von uns, obwohl er die Hauptperson eines Stückes ist, das 1932, während der Weltwirtschaftskrise und kurz vor Beginn der NS-Barbarei, uraufgeführt wurde.
Ödön von Horváths "Kasimir und Karoline" ist auch sonst ein genial zeitloses Stück, weil es die Schwierigkeit des Menschen, sich durch Worte wirklich verständlich zu machen und dadurch Nähe zum anderen zu schaffen, so genau auf den Punkt bringt, dass es einem beständig kalt den Rücken hinunterläuft. Wie auch immer sich sein Bühnenpersonal syntaktisch verrenkt, mit den Fremdwörtern ringt und Pseudoweisheiten von sich gibt: Am Ende steht die Einsamkeit, denn der Selbstschutz im Panzer geliehener Worte führt stets zum Scheitern aller Kommunikation.
Brodelnde Stille
Von daher ging Nina Mattenklotz in ihrer Inszenierung, die jetzt in der kleinen Spielstätte Nord des Stuttgarter Staatstheaters Premiere hatte, einen geerdeten Weg, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf die besonderen sprachlichen Qualitäten des Stücks konzentrierte. Äußerlich betrachtet ist ihre Inszenierung unspektakulär. Die Kostüme von Lena Hiebel sind heutig, das Bühnenbild von Silke Rudolph erinnert an ein Varietétheater: Vorhänge im Hintergrund dienen den Figuren zum Auf- und Abtauchen, kleine Glühlämpchen fügen sich zu dekorativen Formen, überdimensional große bunte Kugeln baumeln von der Decke wie Weihnachtsbaumschmuck. Die kleine Drehbühne schafft äußere Bewegung, wo innere Starre herrscht. Die von Horváth geforderten Volksmusikeinlagen werden mit Technobeats unterlegt oder elektronisch verfremdet (Musik: Tobias Gronau). Der Text bleibt weitgehend unberührt, hier und da wurden nur kleine Kürzungen vorgenommen.
Alles also zunächst unspektakulär, denkt man. Aber im Innern brodelt es gewaltig. Denn Nina Mattenklotz hat sehr genau in die explosive Horváthsche "Stille" hineingehört, die als Regieanweisung die Dialoge durchatmet und einen beständig das Gruseln lehrt: "Tut es dir leid?", fragt Erna, nachdem ihr Franz ein Bier ins Gesicht geschüttet hat. Es folgt "Stille". "Nein", sagt Franz. Woraus Erna später folgert: "Der Merkl hat doch eine komische Natur. Zuerst bringt er einen um, und dann tut es ihm leid."
Eisige Körperstarre
Mattenklotz hat "Kasimir und Karoline" als einen räumlich fein auf Nähe und Distanz hin choreographierten, in den Charakteren scharf gezeichneten Reigen einsamer Menschen inszeniert, der ganz vom Ensemblespiel lebt. Vereinzelte, die auf dem Münchner Oktoberfest aufeinandertreffen und umeinander herschleichen: Im Mittelpunkt die lebensgierige Karoline, die keine Lust mehr hat auf ihren schlecht gelaunten Verlobten Kasimir und lieber mit anderen Männern schäkert: mit dem taffen Kleider-Zuschneider Schürzinger und zwei alten geilen, grantelnden Böcken, dem Kommerzienrat Rauch und Landgerichtsdirektor Speer (herrlich: Boris Burgstaller und Rainer Philippi). Und dann sind da noch Erna und ihr Freund, der Ganove Merkl Franz, der beständig Kasimir auf den Leib rückt. Elli und Maria (Fridolin Y. Sandmeyer und Eléna Weiß), die hier zu seltsamen Zwittern aus Zirkuspersonal und Prostituierten mutieren. Und das melancholische Gorillamädchen Juanita (Gabriele Hintermaier).
Sie ist stimmig, die eisige Körperstarre, in der Florian von Manteuffel als Kasimir verharrt, wenn er sich nicht gerade prügelt oder den Riesenhammer auf den Lukas haut. Sie drückt seine ganze stumme Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts seiner desolaten Situation aus. Dagegen scheint die Büroangestellte Karoline (Dorothea Arnold) vor nicht steuerbarer Lebenslust fast zu platzen: exaltiert, frech, berechnend. Ungewöhnlich legt Mattenklotz vor allem den Schürzinger aus: Der Karoline-Verehrer ist kein verklemmter Spießer, sondern Benjamin Grüter spielt ihn als starken, charismatischen Typen. Ein Ästhet zwar, doch sein Asketentum entpuppt sich am Ende als trockengelegter Alkoholismus: Plötzlich lässt er sich gierig eine halbe Flasche Schnaps in den Rachen fließen. Das ist keiner, der von Natur aus abstinent ist.
Verstörtheit und Empathie
Speisereste spuckt der prollige Merkl Franz, wenn er mal ausnahmsweise nur brüllt, statt handgreiflich zu werden. Erst quetscht er mit zwei Fingern seiner Freundin die Nase ein, dann ruft er ihr kindlich "Erna, guck mal!" zu und startet eine dilettantische Breakdance-Performance, bis er hechelnd-hustend zusammenbricht. Christian Schmidt setzt diesen ambivalenten Charakter, dessen draufgängerische Kommunikation immer auf eine Prügelei zielt, mit einem gehörigen Maß an polternder Übertreibung in Szene. Umso stärker, weil still und zerbrechlich, wirkt die phänomenale Sarah Sophia Meyer als Erna, die fein zwischen Verstörtheit, Schüchternheit, Empathie differenziert.
Horváth lässt am Ende Schürzinger mit Karoline verschwinden, Mattenklotz nicht. Dafür rücken Erna und Kasimir bei ihr ein bisschen enger zusammen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in diesem traurigen Stück? "Solange wir uns nicht aufhängen, werden wir nicht verhungern", sagt Erna und singt das Lied von den blühenden Rosen.
Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Nina Mattenklotz, Bühne: Silke Rudolph, Kostüme: Lena Hiebel, Musik: Tobias Gronau, Dramaturgie: Kekke Schmidt.
Mit: Florian von Manteuffel, Dorothea Arnold, Boris Burgstaller, Rainer Philippi, Benjamin Grüter, Christian Schmidt, Sarah Sophia Meyer, Fridolin Y. Sandmeyer, Eléna Weiß, Gabriele Hintermaier.
www.schauspiel-stuttgart.de
Pünktlich zum Oktoberfest des Jahres 2011 lud das Bayerische Staatsschauspiel aus Berlin Frank Castorf zum Inszenieren des Dramas ein, welches ja bekanntlich u.a. auf dem Münchner Oktoberfest sich tragisch entlädt.
Nina Mattenklotz schlage "die Menschen, die sich auf dem Oktoberfest finden und verlieren, verletzen und demütigen, von Anfang an dem Abnormitätenkabinett zu", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (16.4.2012). "Und sie verkennt damit, dass die Volksfestler ja gerade mit stiller Verzweiflung darum kämpfen, nicht so kommerziell entmenscht zu werden wie all die sonderbaren Juanitas, die hier vorgeführt werden." Mit der grandiosen Textvorlage wisse die Regisseurin "nicht viel anzufangen". Sie entwickle "keinerlei Gespür für Horváths kluges Oktoberschlachtfest – und schon gar nicht für die feine, voller Zwischen- und Nebentöne steckende Partitur, die er dazu geschrieben hat." Sie liebe "so scheint's, die Gleichmacherei von Mensch und Sprache." Was sich am drastischsten im Titelpaar ausdrücke. "Dorothea Arnold darf sich als Karoline zwar noch einige Exaltiertheiten leisten", aber Kasimir sei "nichts als ein graues Einerlei".
Nina Mattenklotz und ihren zehn Schauspielern gelängen "einige sehenswerte Bilder", meint Horst Lohr in den Stuttgarter Nachrichten (16.4.2012). Die Regisseurin zitiere aber auch die "hektisch laute Rummelplatz-Atmosphäre. Die Schauspieler müssen viel lachen, brüllen und grölen. Die an Krawallfernsehen erinnernden Aktionen kleistern jedoch die seelische Not der Figuren weitgehend zu." Der Inszenierung fehlten "Augenblicke der 'Stille', wie Horváth sie in fast jeder der 117 Szenen mehrfach einfordert." Ein solches Innehalten aber "wäre nötig gewesen, um mit Horváths kunstvoller Sprache die Abgründe seiner Figuren genauer auszuleuchten."
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Es war langweilig, die Schauspieler schlecht geführt, einfach ganz schlecht gemachtes Theater.
Peinlich für´s Stuttgarter Schauspiel, aber da sieht man in letzter Zeit nur noch diese kläglichen, intellektuell verquasten,gänzlich leblosen, unsinnlichen, völlig braven, Regieversuche irgendwelcher angeblichen Jungtalente....
Heinz
Was bei einer guten Regie alles möglich ist.Wenn die Kritiker weiterhin solch diletantisches, langweiliges Theater als gut beschrieben werden die Theater bald noch leerer sein, als sie eh schon durch eitle,unfähige Theaterleute, die sich eigentlich nur selber feiern, geworden sind.