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Nicht so wild, bitte!

von Katrin Ullmann

Hamburg, 20. April 2012. Er will von seinem Vater erzählen und von sich. Von seiner Kindheit in den 68ern, von seiner ersten eigenen Katze und vom Leben in Italien. Einerseits war seine Kindheit wie jede andere: angesiedelt irgendwo zwischen Strichmännchen, Spielzeugpistolen und langweiligen Autofahrten. Andererseits war seine Kindheit wie keine andere: Sein Vater war der Autor und Jurist Peter O. Chotjewitz (1934–2010), seinerzeit ein angesagter Jungstar des Literaturbetriebes mit sehr guten Kontakten zur RAF. In autobiografischen Prosatexten hat David Chotjewitz seine Vergangenheit zusammengefasst und hat sie für den Theaterabend "Narziss und die Revolution" verschiedenen Künstlern, Performern, Schauspielern und Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt. Entstanden sind Annäherungen und Fragmente, Interpretationen und Intonationen.

Politisch brisante Begegnungen
Verteilt auf einige angestaubte Räume der Hafen City Universität finden die verschiedenen Beiträge zeitgleich statt. Neben wohnzimmerlich ausgeleuchteten Leseecken mit Rundum-Literatur zum Leben des Autors hat der Zuschauer stets die Wahl zwischen den Spielorten Kino, Keller, Aquarium, Medienraum und Hausmeisterhaus. Im "Aquarium" etwa vertanzt Silvana Suarez Cedeno einige Erinnerungen. Zuvor noch war sie wie schlafwandelnd durch Gänge und Räume gelaufen, hatte die Zuschauer mit stummem Blick aufgefordert, einen Würfel aus einer mit Wasser gefüllten Schale zu nehmen. Streng und fordernd und vor allem schrecklich bedeutungsschwanger. Als sie dann aber tanzt und performt, als sie ihre Sicht auf die Erinnerungen zeigt – vielleicht sind es auch nur die Erinnerungen der Erinnerungen – öffnet sich eine ganz eigene, schwebend-schwimmende (Unter)wasserwelt, die sich erst rückblickend erschließt, wenn man die szenische Lesung "Archiv I-III" von Chotjewitz besucht.

Im weißen Abendanzug steht er im "Kino", zwischen ferngesteuertem Kran und altem Klavier, inmitten von Diaprojektionen und – na klar – Erinnerungen. Er erzählt von einem Revolverfund im Hinterzimmer seines Vaters, vom kubanischen Geliebten seiner Mutter, der eigentlich ein italienischer Journalist war, von kleinen Kätzchen, die er eigenhändig ertränken musste, genauso wie von einem dubiosen Treffen seiner Eltern mit Mitbegründern der RAF in Süditalien. Aus der naiven, verständnislosen Kinderperspektive geschildert, erhalten diese politisch brisanten Begegnungen einen besonderen Witz. Etwa wenn Daniel und sein älterer Bruder Lenin dazu angehalten waren, bei diesem Ausflug "nicht so wild zu sein" und nicht so doll mit ihren Holzgewehren rumzufuchteln. Während die Eltern die RAF-Begründer mit Waffen versorgten.

Episodenhaft-fein vernetzt
Alle Erinnerungen bleiben natürlich selektiv. Und sie werden auch nicht durch die Telefongespräche komplettiert, die David Chotjewitz mit seinem Vater kurz vor dessen Tod führte – und die an diesem Abend durch Katharina Oberlik und zwei strumpfsockige Handpuppen zur Aufführung kommen. Wie das eben so ist: Bei dem einen bricht die Erinnerung ab, bei dem anderen brennt sie sich ein.

Tatsächlich bleibt der Abend sehr nah an Chotjewitz' eigenen, sehr unterhaltsamen und genau beobachteten Texten. Brav hangeln sich die verschiedenen Performer entlang seiner Biografie: mal szenisch, mal tänzerisch, mal höchst unterhaltsam-wissenschaftlich (Fahim Amir). So entsteht ein buntes, kurzweiliges Kaleidoskop rund um diese kuriose Familie. Von einer angekündigten "Party der so genannten 'Kinder der Revolution'" ist dieser episodenhaft-fein vernetzte Abend jedoch weit entfernt. Die Stimmung ist durchweg freundlich, aber verhalten – "Kinder: nicht so wild, bitte!" Ein bisschen scheint es, als fehle dem vom Vater eingeschüchterten Kind die eigene laute Stimme.

Narziss und die Revolution
Projektleiter und Initiator: David Chotjewitz.
Mit: Fahim Amir (Lecture), David Chotjewitz (Performance, Musik), Ted Gaier (Sound- und Filmcollage), Joachim Kappl (Schauspiel), Katharina Oberlik (Performance), Henna Peschel (Film), Silvana Suarez Cedeno (Tanz, Choreografie), Georg Sheljasov (Musik, Gesang), Judith Tellado (Gesang).

www.kampnagel.de

 

Kritikenrundschau

Trotz "allen unvermeidlichen Fallstricken des Narzissmus" erlebe man einen unaufdringlich leisen, freundlichen und persönlichen Abend, schreibt Robert Matthies in der tageszeitung (23.4.2012), "eine Diaschau unter Freunden eher als die lautstarke Party einer Uni-Besetzung. Interessante Motive gibt es dabei zuhauf, wenn man genau hinsieht und auf die kleinen Brüche achtet, die sich zwischen den Generationen, Fremd- und Selbstdefinitionen ergeben." Den eigenen Ansprüchen werde Chotjewitz' Bruchstück-Sammlung allerdings nicht immer gerecht: Den einzelnen Biografie-Schaukästen hätte ein wenig mehr Bezug aufeinander gut getan.

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