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In der Werkstatt der Poesie

von Kaa Linder

Zürich, 20. April 2012. Wo sitzt das Herz des Theaters? In der Box im Schiffbau, die zu Beginn dieses Abend betongrau ist, leer und so attraktiv wie ein mittelländischer Kongresssaal mit Sicherheit nicht. Kein Mensch würde denken, dass hier neunzig Minuten später unter Aufbietung des gesamten technischen Personals eine vollständige Konzertbühne mitsamt Schallschutzwänden und kompletter Saalbestuhlung (Bühne: Bettina Meyer) aufgebaut sein wird und damit der Rahmen gegeben ist für Ruedi Häusermanns Komposition "Vielzahl leiser Pfiffe".

Ein musiktheatralischer Spaziergang

Doch das Konzert muss auf Umwegen erreicht werden, denn Ruedi Häusermann ist ein musiktheatralischer Spaziergänger. Der Komponist und Regisseur erkundet mit Leidenschaft die Landschaften, die an scheinbar unscheinbaren Orten verborgen sind. So schickt er das Publikum diesmal auf die Suche nach dem Herzschlag des Theaters und zugleich auf eine ausgedehnte Klangreise. Begleitet von charmanten Hostessen macht man sich in vier Gruppen aufgeteilt zu Fuß auf den Weg ins Innere des Schiffbaus.

vielzahl3 280 matthias horn uTontechniker: Rahel Hubacher und Herwig Ursin © Matthias HornEs sind Räume, deren Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten so unspektakulär sind wie die Knopflochmaschine, deren Pedal die Abteilungsleiterin (Raher Hubacher) bedient. Sie steht unter Druck. Bis zum Konzertbeginn sind hundert Falten eines Rocks zu bügeln, die Schlipse zu den Herrenanzügen zu sortieren und der schnatternden Pianistin (Annalisa Derossi) beruhigend beizustehen. Rasselnd fällt eine Schachtel Knöpfe zu Boden. Die Abteilungsleiterin stöhnt leise, während ihr Assistent der Pianistin eine italienische Liebeserklärung zuflüstert. Das Metronom tickt. Das Telefon klingelt ins Leere. Jemand bringt einen Stuhl und verschwindet wieder. Das Zerreißen eines dunkelblauen Stoffes hört sich an wie ein Schrei, und schreien würde die dienstbare Abteilungsleiterin, könnte sie ihren Vorsatz der "aufgeräumten Stimmung" für einen Moment fahren lassen.

Im melancholisch quietschenden Warenlift

Stattdessen fährt die Zuschauergruppe mit einem melancholisch quietschenden Warenlift zu den Werkstätten im Untergeschoss, wo eine Sinfonie für Hammer und Kreissäge gespielt wird und ein zu Schabernack aufgelegter Leiter (Milian Zerzawy) die Druckdusche in alle Richtungen zischen lässt. Ein Kübel Farbe kippt um, die Kunst der Schalldämpfung wird debattiert und einem Stuhl das fehlende Bein angezimmert. Im Fundus herrscht die Ruhe eines Friedhofs. Die unzähligen gelagerten Tische, Sofas und Sessel sehen aus wie ausgestopfte Tiere und auch die Chefin des immensen Möbellagers (Isabelle Menke) wirkt wie ein Wesen aus vergangener Zeit. Sie träumt vom großen Auftritt auf der Bühne, während im Hintergrund ein Pianist (Daniele Pintaudi) vergeblich versucht, sein Klavier zu stimmen.

Geradezu locker geht es drei Stockwerke höher im Tonstudio zu, wo unter der Regie eines mit Peglern ringenden Tontechnikers (Herwig Ursin) letzte Aufnahmen für das Konzert gemacht werden. Wie Wäscheleinen sind Tonbänder durch den Raum gespannt. Das Legatospiel eines hispanischen Pianisten (Iñigo Giner Miranda) führt zu lautstarken Differenzen, und in den Abflussrohren rauscht es mächtig, trotz offiziellem Toilettengangverbot.

Subtile Klangkomposition

Überall fehlt ein Stuhl, ereignet sich ein Missgeschick, wünscht man sich lakonisch: "Schöne!" Auf allen Ebenen kämpft der Theaterherzstoßtrupp elegant gegen das Gesetz der Schwerkraft, mit der Eigendynamik künstlerischer Prozesse und produziert dabei seriell jenes heitere Elend, welches dem menschlichen Streben nach optimalen Resultaten zueigen ist. Trotz allem kommen die Fäden korrekt zusammen, sitzen die Schauspieler pünktlich an den Tonbandgeräten mit den riesigen Spulen, die Musiker an ihren rollenden Klavieren, die Mitarbeitenden im Chor und die Zuschauer nunmehr als Zuhörer in der Box.

vielzahl2 560 matthias horn uKonzertantes Finale mit Chor und Ensemble © Matthias Horn

Ruedi Häusermann verdichtet das Vergangene zu einer subtilen, grossartigen Klangkomposition. Von den Schritten des Publikums in den Gängen über das Rattern der Knopflochmaschine bis zu den Durchsagen über Lautsprecher, jedem noch so kleinen Klangfragment gibt Ruedi Häusermann einen Takt, eine Temperatur, spiegelt und variiert es in einer obsessiven Partitur für Flüstertüten, Tonbänder und vier Klaviere. Alles Mögliche – Klebeband, Backpapier, Heftklammern – kommt dabei in den Klavierbäuchen zum Einsatz, gilt es doch akustisch Maß zu nehmen am Materiellen, das zusehends metaphysischer wird.

Dass das Herz des Theaters in der Schreinerei, sein Fundament im Fundus, seine Seele im Tonstudio und sein roter Faden in der Schneiderei zu finden ist, das macht Ruedi Häusermanns gewaltiges Klangunternehmen auf der konzertanten Bühne krönend tönend deutlich. Es ist, als würde man den Moloch, das Urtier Theater zufrieden atmen hören, ruhig und gleichmäßig, weit über das laute Schlusshupen hinaus.


Vielzahl leiser Pfiffe. Umwege zum Konzert (UA)
von Ruedi Häusermann
Komposition und Regie: Ruedi Häusermann, Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Barbara Maier, Video: Ruth Stofer
Mit: Annalisa Derossi, Iñigo Giner Miranda , Rahel Hubacher, Panagiotis Iliopoulos , Philipp Läng, Isabelle Menke, Daniele Pintaudi, Herwig Ursin, Milian Zerzawy

www.schauspielhaus.ch


Mehr zu den musiktheatralischen Erkundungen von Ruedi Häusermann erfahren Sie im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Ruedi Häusermanns "Vielzahl leiser Pfiffe" habe "den Reiz des Blicks hinter die Kulissen, aber auch die analytische Spannung der Spurensuche, denn erst im Rückblick enthüllt sich, wie alles ineinanderpasst", schreibt Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (23.4.2012). Es habe "den Charme einer Liebeserklärung, an die Technik, an die Materialität, an die kleinen Tricks, aus denen Kunst auch besteht. Es hat die Poesie der alten Geräte (...). Und es hat die Autorität der übers Ganze gedachten Komposition: Da greift eins ins andere." Und "die letzte halbe Stunde dieses klugen, von liebevollem Humor getragenen Abends" gehöre "noch einmal ganz der feinen Wahrnehmung. Dem wachen Gehör".

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