Das Blutbild der Morgenröte

von Andreas Wilink

Köln, 22. April 2012. Holbeins Toter Christus scheint mit einem Finger seiner knochigen Hand auf den – gleich seinem eigenen – hingestreckten Körper unter sich zu weisen: Hier ruht die erstochene Nastassja Filippowna, an deren Leichnam Fürst Myschkin und, als sein düsterer Wahlbruder, ihr Mörder Rogoschin in trautem Beieinander sitzen. Im Kölner Schauspielhaus beginnt Karin Henkel ihre Bearbeitung des Dostojewski-Romans vom Ende her.

Sodann öffnet sich die ikonografisch exponierte Grabkammer (als "territoire de la mort" bezeichnet), und Muriel Gerstner lässt ihre Fundus-volle, zeichenhaft undeutliche Bühne auffahren: gestapelte und ineinander verschobene Container, Kästen und Kartonnagen im Volksbühnen-Look. Auf der ersten Etage wehrt Anthony Perkins auf dem Filmplakat den "Psycho-Horror" ab, während sich dahinter in einem unfrommen Tabernakel die Filippowna als Peepshow-Madonna spreizt, um wie ein Mitglied der Addams Family unter die Leute herabzusteigen und – bei der virtuos auf den Tonleitern von Unschuld und Verderbnis stolzierenden Lena Schwarz – eine nach allen Seiten hin offene Projektionsfläche zu bieten.

Krakeelen, Feilschen, Ludern

Frank Castorf hat das Patronat über den deformierten Realismus der knapp vier Stunden. Man könnte auch sagen: Die Aufführung sieht aus wie ein von Godard gedrehter Hitchcock – bzw. umgekehrt. Dostojewskis Erniedrigte und Beleidigte in ihrer materiellen Not, ihrer geistigen Zerrüttung, ihrem Nihilismus sind maßlos noch im Mittelmäßigen. Die Welt der Auflösung und der Neurasthenie bei den Jepantschins, Ardalionowitschs und Rogoschins, wo krakeelt, gefeilscht, geludert wird, inszeniert Henkel in gut organisierter Konfusion, sehr elastisch, manchmal extrem verdichtet in der Simultan-Struktur.

idiot1362 560 klaus lefebvre uLina Beckmann als Fürst Myschkin, zärtlich umarmt von Jördis Triebel als Aglaia © Klaus Lefebvre

Das Ensemble (nach wie vor das unbestreitbar beste an Rhein und Ruhr) schlendert umher, verschwindet hinter den Kulissen, taucht oberhalb wieder auf, klimpert auf dem Klavier, rappelt an Gittern, klebt am Fleck, fläzt sich, wälzt sich, hustet, kräht heulbojenhaft Whitney Houston, extemporiert, steht unter Strom. Der eine und andere Abschnitt wird von diesem oder jenem Schauspieler aus dem Buch vorgelesen; um der Disziplin willen fordert General Jepantschin (Yorck Dippe) gelegentlich dramaturgische Vernunft und Ordnungssinn ein, dem die Musikcollage von Bach und Händel über Mahlers Adagietto bis zu Pop und Jazz schöner als im Klassikradio ebenfalls zuwiderläuft.

Lichtflammende Erregung

Myschkin kehrt zurück. Nach Jahren in einer Schweizer Anstalt gerät dieser "von der Natur Zurückgesetzte" in St. Petersburg gleich in einen Liebes- und Leidenskrieg: den von Rogoschin und der glamourösen Filippowna, Mätresse eines bourgeoisen Lüstlings. Im Salon der Jepantschins trifft der Fürst auch deren Tochter Aglaia und Sekretär Ganja, der mit der Filippowna verheiratet werden soll, um ihr einen ehrbaren Status zu geben.

Auf schmerzlich pathetische Weise liebt Myschkin die tote Seele Nastassja, auf zärtlich romantische Aglaia (von Jördis Triebel wundersam eigensinnig gespielt). Myschkin, dessen Epilepsie lichtflammende Erregung und Bewusstwerdung symbolisiert, wird für die Gesellschaft zur verspotteten und verehrten Bezugs- und Vertrauensperson: für die soubrettenhaft kecke Generalin in grünem Taft (Angelika Richter) und ihre drei Mädel (lustige Jacob-Sisters in Weiß, Pink und Mint), für den wunden Vamp Filippowna, die aggressiv aufgekratzten Herren und den wuchtig intensiven Seelen-Samson Rogoschin des Charly Hübner.

Flucht vor dem Werk? Nein!

In formlosen Kleidern und mit Jutebeutel ist "Tramp" Myschkin: eine Frau. Eine aparte Idee, mindestens so zwingend wie die, das gesamte "Lear"-Personal weiblich zu besetzen. Im Rahmen der Kölner Transgender-Initiative unterliegt der "Idiot" anderer Deutungshoheit. Nun hat es mit dem Gottesnarren und Menschensohn ohnehin besondere Bewandtnis. Chromosomale Zuteilung spielt da nur eine geringe Rolle. Lina Beckmann als Myschkin, der "einem Erwachsenen nur ähnelt", fällt unter die Menschen und deren Attrappen. Zuckt und krampft, lächelt friedlos freundlich, hält sich staunend still und stoffelig, als trenne sie eine unsichtbar gläserne Wand, verklagt sich selbst in kindlich unverstellter Geste und ähnelt in den gequälten Monologen einem sanft und blond gewordenen Peter Lorre in "M".

Nach der Pause löst die Erzählung sich zur Session auf, die Regie entertaint den großen Stumpfsinn und kultiviert das Uneigentliche mit quietschfidelen Einlagen und Geplapper. "Der Idiot" wird zur Verhandlungssache und Diskursmasse aller Beteiligten. Modell Mitbestimmung. Ein Ausweichmanöver? Flucht vor dem Werk? Nein. Wie sonst soll man fertig werden mit Myschkins rührend schlichtem Appell, seiner Liebe und Schuld, dem Menschheitsglauben, dem Rettungswillen, der Glückshoffnung? Dann schleppt Rogoschin die Tote herbei. Die Morgenröte der Menschheit endet als Blutbild. – Dunkel. Jubel.

 

Der Idiot
nach dem Roman von Fjodor Michailowitsch Dostojewski
übersetzt von Swetlana Geier, Spielfassung von Karin Henkel und Rita Thiele
Regie: Karin Henkel, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Daniel Regenberg, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Lina Beckmann, Holger Bülow, Yorck Dippe, Jennifer Frank, Marina Frenk, Charly Hübner, Markus John, Angelika Richter, Tanja Schleiff, Torsten Peter Schnick, Lena Schwarz, Maik Solbach, Marie Rosa Tietjen, Jördis Triebel.

www.schauspielkoeln.de

 

Nachtkritiken zu weiteren Bühnenversionen von Dostojewskis "Idiot": Alvis Hermanis richtete den Anfang des Romans in Zürich ein, und Andriy Zholdak adaptierte den Roman in Oberhausen. Frank Castorfs berühmte Volksbühnen-Fassung stammt aus dem Jahr 2002, da gab es nachtkritik.de leider noch nicht.

 

Kritikenrundschau

Als Zuschauer fragt man sich vier Stunden lang, was der Besetzungscoup mit Lina Beckmann als Fürst Mschkin eigentlich sagen soll in dieser "streckenweise furiosen, insgesamt krass misslungenen Adaption der Regisseurin Karin Henkel", so Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (26.4.2012). Der Effekt der Henkelschen Besetzungsidee sei letztlich, gewollt oder nicht, der einer entschiedenen Desexualisierung der männlichen Hauptfigur. "Neben vielen offenen Fragen, die der Abend stellt, mag man zum wiederholten Mal darüber rätseln, was der Paradigmenwechsel vom Dramatischen zum Epischen, der auf unseren Bühnen seit geraumer Zeit triumphiert, zu bedeuten hat."

Hemmungsloser Jubel hingegen bei Arnold Hohmann vom WAZ-Portal Der Westen (24.4.2012): "Die Inszenierung besitzt eine starke Dynamik, die einen die vierstündige Spielzeit vergessen lassen. Dazu trägt wesentlich bei, dass die Schauspieler sich zwischendurch Dostojewskis Roman schnappen, einfach mal ein Stück weiter lesen und dabei nicht selten wie Kommentatoren des Bühnenspiels wirken. Zwischen Text und Darstellung gelingen dabei ganz wunderbare Interaktionen." Vor allem Lina Beckmann "in ihrem Büßergewand samt Jutebeutel" überstrahle alles.

Die Frage nach dem Warum sei einfach, argumentiert Christian Boos im Kölner Stadtanzeiger (24.4.2012): "Lina Beckmann ist die Idealbesetzung, besser geht es nicht." Auch sonst schließt er sich dem Jubel für die "beste Inszenierung dieser Spielzeit am Schauspiel Köln" an: "Henkel – und ihre Dramaturgin Rita Thiele, mit der sie die Spielfassung erstellt hat – versteht es einfach nur bestens, aus der wuchtigen Vorlage ein schlankes, rastloses, herrliches Stück Theater zu formen, das seine prosaische Herkunft nie verleugnet." Im zweiten Teil des Abends wirke die Inszenierung fahriger, sprunghafter, es werde weniger süffig erzählt und schroffer gekürzt. "Aber jeder Moment ist gelungen."

Karin Henkel finde für viele Roman-Elemente eine überzeugende Übersetzung, schreibt Katrin Bettina Müller in der tageszeitung (24.4.2012). Lena Schwarz' Nastassja zum Beispiel sei "mehr als die Verkörperung einer Romanfigur, das ist fleischgewordene Rezeptionsgeschichte und Literaturkritik an der Karriere der schönen Frauenleichen in der Kunst". Auch in der Reflexion der Übersetzung eines Romans in ein Bühnenstück gelängen der Regisseurin schöne Kunstgriffe. "Doch Schwächen hat die vierstündige Inszenierung auch, manche Stilmittel wirken aufgesetzt und einige der Hauptfiguren haben zu wenig Raum, trotz einer erstklassigen Besetzung."

Karin Henkel konzentriere sich auf das Irrationale von Dostojewskis Roman und verstärke es mit den Mitteln des absurden Theaters, findet Ulrich Fischer im Deutschlandradio Kultur (22.4.2012). Den ersten Auftritt nach der Pause verdichte sie zu einer Schlüsselszene: "Alle Schauspielerinnen und Schauspieler treten auf, den Text in den Händen, und sprechen, jeder für sich. Keiner hört dem anderen zu: Chaos, Wirrwarr, Durcheinander. Da Fürst Myschkin, der Idiot, gerade einen epileptischen Anfall erlitten hat, wirkt diese Selbstbezogenheit besonders herzlos – ein sprechendes sozialkritisches Arrangement wie bei Pina Bausch." Trotz alledem: "Der Roman ist besser."

 

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